Die Rückkehr der Politik

Die Parteichefs nehmen wieder das Heft des Handelns in die Hand und jagen die „Experten“ vom Hof. Das lässt leider nichts Gutes erwarten, wie die letzten Tage eindrücklich gezeigt haben.

Titelbild der Frankfurter Rundschau mit Mario Draghi am Tag seines Rücktritts
Titelseite der Frankfurter Rundschau am Tag nach Draghis Rücktritt.

Man kann der Ansicht sein, die Regierung in einer Demokratie sollte aus dem Wahlergebnis hervorgehen und wenn nicht direkt legitimiert, so doch zumindest nah am Wähler:innenvotum ausgerichtet sein. Man kann der Ansicht sein, dass nach mehreren Regierungswechseln, die jeweils eine sehr unterschiedliche politische Ausrichtung brachten, und einigen Häutungen und Abspaltungen innerhalb der Parteien und Fraktionen es nun Zeit ist, die Zusammensetzung der Parlamente noch einmal durch die Wähler:innen prüfen zu lassen. Man kann der Ansicht sein, dass eine Vielparteienregierung, in der die Fliehkräfte dominieren und in der es an zu vielen Stellen sehr großen Aufwands bedarf, alles zusammenzuhalten, dass diese Regierung einen Schlussstrich zieht. Man kann also durchaus finden, dass es gute Gründe dafür gibt, dass Mario Draghi sein Amt als Ministerpräsident aufgibt und Italien am 25. September ein neues Parlament wählt – und eine neue Regierung bekommt.

Gründe, die einen zu der gegenteiligen Meinung kommen lassen, wurden in den letzten Tagen ebenfalls einige genannt: die Vielzahl der Krisen, die es akut und gleichzeitig zu bewältigen gilt, der enge Zeitplan des Wiederaufbaufonds, dessen Einhaltung Bedinung für die nächsten Überweiseung aus Brüssel ist, das hohen Ansehe, das Italien dank Draghi international endlich wieder gewonnen hat, die nun drohende Wiederkehr der Eurokrise und schließlich die Sorge, das die Postfaschist:innen die nächste Wahl gewinnen können. Das alles sind vernünftige und richtige Argumente, dennoch liegt das Deprimierendste und Beängstigendste an diesem Regierungsende meines Erachtens woanders. Das Spektakel, was das politische Italien von vorvorigem Donnerstag bis letzten Mittwoch bot, macht fassungslos aus einem Grund, den etwa die ehemaligen Ministerin Elsa Fornero in der Sendung metropolis unterstrich: Die Motivation, die hinter dem Agieren von M5S, Lega und Forza Italia lag, die Ziele, die sie mit ihrem Handeln verbanden, waren so klein und so kurzsichtig und sie standen in keinem Verhältnis zum Ausmaß des Schadens, den sie verursachten.

Giuseppe Conte und die, die ihm an Mitstreiter:innen geblieben sind, sahen ihre Felle davonschwimmen und in ihrer Verzweiflung eskalierten sie inhaltliche Unstimmigkeiten, bis sie nicht mehr einzufangen waren. Nun beschweren sie sich, dass sie niemals die Regierung haben stürzen wollen und warum denn nun ihnen alle die Schuld in die Schuhe schöben. Aber wenn sie auf dem Weg der Eskalation nicht gemerkt haben, mit wem sie es in Mario Draghi zu tun haben – jemandem, der taktische Spielchen ebenso verachtet wie mangelhaftes Arbeiten und fest zu seinen Grundsätzen steht – und wer ihre Koalitionspartner in dieser Regierung der nationalen „Einheit“ sind – u.a. die Lega Salvinis, der wie ein Raubtier die schwachen Momente der politischen Gegner ausnutzt – dann haben sie kein diplomatisches Gespür und offensichtlich keine Fähigkeit zur erfolgreichen Verhandlung. Oder sie haben es durchaus mitbekommen, und sind sehenden Auges in das grand finale gelaufen, weil ihnen das eigene politische Überleben wichtiger war als das Wohl des Landes. Dann sind aber auch ihre Beschwerden und Rechtfertigungen nur Heuchelei und Lüge. In beiden Fällen disqualifizieren sie sich als politische Führungskraft.

Matteo Salvini sah die Gunst der Stunde, den König zu ermorden ohne Königsmörder zu sein. Im Grunde befand er sich in einer ähnlich verzweifelten Lage wie Conte, nur nicht ganz so akut. Aber sein Führungsanspruch innerhalb des Mitte-Rechts-Lagers steht seit längerem auf tönernen Füßen, haben Fratelli d’Italia die Lega doch sogar in ihren Kerngebieten in Sachen Wählerstimmen überholt. Entsprechend wackelt auch seine Position als Parteichef, zumal die Kritik an seinem souveränistisch-nationalen Kurs vom traditionellen Parteiflügel während der Draghi-Regierung immer lauter wurde. Flucht nach vorn und Angriff sind Salivinis Spezialitäten, wen kümmert es da, das ohnehin in neun Monaten gewählt worden wäre und auch jetzt Giorgia Meloni in den Umfragen weit vor der Lega liegt? Hauptsache, jetzt schon nicht mehr staatstragend sein müssen – was Minister Giorgetti sowieso viel besser kann und damit ungeheuer nervte – sondern lieber wieder direkt in den Wahlkampf, wieder Lautsprecher sein, wieder die Häfen schließen wollen und gegen Migranten hetzen. Weder Salvini noch Conte profitieren wirklich von der jetzigen Wahl im Vergleich zu der regulären im Frühjahr 2023. Es gibt keine Übergangszeit für sie in der Opposition, in der sie sich inhaltlich hätten konsolidieren können. Der einzige Vorteil: Sie können jetzt sofort sloganhaft unrealistische Positionen vertreten und die anderen des Versagens beschuldigen, ohne dass sie jemand zur Räson ruft – die mäßigende Wirkung der Regierung und Person Draghi ist ja passé.

Somit bleiben als Motivation a) die eigene Führungsposition in der Partei absichern und b) eventuell, aber nicht sicher, ein paar Prozentpunkte gut machen bis zur Wahl.

Das ist nicht viel.

Und über Silvio Berlusconis Forza Italia haben wir noch gar nicht gesprochen. Es hagelt Austritte, alle drei Minister:innen kehren der altehrwürdigsten unter den populistischen Parteien den Rücken. Viel ändern wird es nicht. Die zehn Prozent Wählerstimmenanteil, die Forza Italia laut Umfragen auf sich vereint, verdanken sie nach wie vor der Person Berlusconi – nicht, weil diese unbelehrbaren Italiener:innen immer noch an die Versprechungen dieses Schönfärbers glauben. Sondern weil Berlusconi, so altersenil er langsam werden mag, noch immer ausreichend Einfluss hat und noch immer genug Fäden zusammenhält, um eben diesen Stimmenanteil zu bekommen. Insofern werden die ausgetretenen Spitzenpolitiker:innen entweder einer bestehenen nennenswerten Partei beitreten müssen, oder in der Versenkung verschwinden. Denn in der Mitte neben Berlusconi ist kein Platz, seit Jahrzehnten nicht.

Berlusconis Motiv? Schwierig. Die Überraschung ist groß, bei vielen auch die Enttäuschung. Da er kurz nach Draghis Rücktritt ankündigte, selbst wieder für den Senat kandidieren zu wollen, wird spekuliert, er wollte endlich seine Rückkehr in ein politisches Amt verwirklichen. Und eine kleine Revanche dafür, dass ihn die Regierungsmehrheit nicht ins Amt des Staatsoberhauptes hieven wollte? Im besten Fall war es Bündnistreue: Entweder jetzt an der Seite von Salvini und Meloni für sofortige Neuwahlen oder das Mitte-Rechts-Bündnis ist tot. Das war es in den vergangenen Monaten zwar schon öfter, aber Totgesagte leben länger.

Kurzsichtige Motive, kleinliche, selbstgefällige Motive. Sie lassen ahnen, wie diese Personen ihre Regierungsverantwortung wahrnehmen würden: nur ausgerichtet auf den kurzfristigen, persönlichen Gewinn, nicht auf das große Ganze oder gar auf den Erfolg in der Sache – durch Sachpolitik. Dies hebelt die eingangs genannten Argumente, warum nun passiert, was passiert nicht aus. Aber es macht den Abgang Draghis umso bitterer und die den Blick in Italiens Zukunft umso düsterer.

PS:

Früher war nicht alles besser, aber fast schon könnte man nostalgisch werden, wurden doch zu Berlusconis besten Zeiten Gesetze wenigstens geschrieben, um ihn persönlich vor einer Verurteilung zu schützen. Oder wenn die Justiz zu reformieren versucht wurde, damit sie die Korruption nicht aufdeckt. Oder wenn politische Intrigen geschmiedet wurden, weil man die Beteiligung der Linken an der Regierung verhindern wollte oder einen Staatsstreich vorbereiten. Einen Staatsstreich! Die Geschichte der italienischen Politik ist voll von unlauteren Absichten, die fragwürdiges Handeln, das Scheitern von Regierungen motivierten. Ein paar Wählerstimmen sind demgegenüber in jeder Hinsicht niederschmetternd.