Eindeutiger Sieg, fragwürdiges Wahlsystem

Der Erfolg der Rechts-Koalition in Italien fiel deutlich aus und gibt Giorgia Meloni ein klares Mandat zu regieren. Dennoch sorgt das geltende Wahlsystem für Verzerrungen und Unklarheiten, die es dringend zu beheben gälte.

Grafik der Sitzverteilung in der Abgeordnetenkammer Italiens. Centrodestra mit 237 Sitzen, die Lega erhält davon 67. Zur Mehrheit reichen 201 Stimmen.

Keine Frage, die Parteien des rechten Spektrums Fratelli d’Italia, Lega, Forza Italia und Noi moderati handelten vor der ad hoc angesetzten Wahl schnell und klug, schmiedeten vorab eine Koalition und nutzten damit die Eigenheiten des italienischen Wahlsystems [LINK] zu ihren Gunsten: Sie teilten die Direktwahlkreise untereinander auf, anstatt dort jeweils in Konkurrenz zueinander anzutreten. 147 von 400 Sitzen werden in der Abgeordnetenkammer nach dem Prinzip first past the post vergeben, d.h. eine Stimme mehr genügt zum Sieg. 74 von 200 sind es im Senat. Ein strategischer Vorteil gegenüber dem linken Lager, dem es nicht gelang, eine entsprechende Einheit zu bilden und in dem daher – überwiegend – jede:r für sich antrat.

Mehr Sitze (und mehr Macht) für die Lega als das Gesamtergebnis hergibt – wie geht das?

Was für die Rechts-Koalition insgesamt von Vorteil war, hat für den eindeutigen Wahlsieger Fratelli d’Italia allerdings auch Nachteile. Im Vorfeld der Regierungsbildung musste Giorgia Meloni trotz des klaren Votums von 26 Prozent der Gesamtstimmen für FdI mit ihren Partnern und Konkurrenten Silvio Berlusconi und Matteo Salvini harte Kämpfe um die Besetzung von Ministerposten führen – obwohl diese mit lediglich 8.7 und 8.1 Prozent (Abgeordnetenkammer) deutlich abgeschlagen waren. Diese nominelle Schwächung, die aus dem Gesamtstimmenanteil hervorgeht, spiegelt sich nämlich nicht eindeutig in der Sitzverteilung wieder. Anders als im deutschen Wahlsystem werden die Direktmandate nicht mit dem proportionalen Gesamtergebnis einer Partei verrechnet, sondern sie kommen noch hinzu.

Wäre mit einem reinen Verhältniswahlrecht gewählt worden, so hätte die Lega beispielsweise lediglich 35 Sitze in der Abgeordnetenkammer erhalten, Forza Italia nur 32. Tatsächlich verfügen sie nun über 67 beziehungsweise 44 Sitze. Der Abstand zu Fratelli d’Italia mit 118 Sitzen fällt damit gerade im Falle der Lega wesentlich kleiner aus, als es bei einem rein proportionalen System der Fall gewesen wäre. Denn in dem Moment, wo die Rechts-Koalition die Direktwahlkreise untereinander aufteilte, musste sie sich auf Umfrage- und Erfahrungswerte stützen – und Giorgia Meloni selbstverständlich mit dem Machtbewusstsein zwei politischer Alphatiere kalkulieren. Zweier Alphatiere, die in ihrem stabilen Selbstbewusstsein und im Wissen um ihre früheren Erfolge durchaus nicht davon ausgegangen sind, die Führungsposition innerhalb der Koalition so eindeutig an „die Neue“ zu verlieren. Auch Meloni selbst wird kaum in dieser Dimension damit gerechnet haben, zudem war sie seit Auflösung der Parlamentskammern auf allen Ebenen darauf bedacht, möglichst viel Stabilität und Vertrauen in ihre zukünftige Regierung zu bekommen. Ihre tatsächliche Macht und Stärke konnte sie erst zuletzt ausspielen, als das Resultat fest stand und auf inhaltlicher Ebene plötzlich sie Italiens Verankerung im europäischen und atlantischen Verbund garantieren musste, gegenüber dem russophilen Irrlichtern Berlusconis und einiger Lega-Vertreter. Im Regierungsalltag wird sie gleichwohl auf die Geschlossenheit der Koalition angewiesen sein, in beiden Kammern. Einen Vorgeschmack auf kritische Abstimmungen gab es bereits bei der Wahl des Senatspräsidenten Ignazio La Russo, als Forza Italia nicht wie geplant abstimmte und La Russo nur mit Stimmen aus der Opposition ins Amt kam.

Für das politische System Italiens heißt dies zunächst, dass die wahrscheinlich wichtigste Opposition wie so häufig aus der Regierungsmehrheit selbst kommen wird – mit allen Risiken für die Stabilität und Dauer der Regierung Meloni. Allerdings hat das geltende Wahlsystem dafür gesorgt, dass ohne Neuwahl wohl kaum eine alternative Mehrheit zustande kommen wird. Allein das wird den Zusammenhalt der Koalition stärken, da die Anreize zum Aussteigen eher gering bzw. mit hohen Kosten verbunden sind (Neuwahlen). Demgegenüber wäre bei einem reinen Verhältniswahlrecht keine absolute Mehrheit für das rechte Lager zustandegekommen (43,8 Prozent, Camera, 44 Prozent Senato) und Italien hätte keinen klaren Wahlsieger gehabt. Welche negativen Auswirkungen große, lagerübergreifende Koalitionen für die Stabilität der Regierungen und damit für das politische Vorankommen des Landes haben, haben die die letzten beiden Legislaturperioden mehr als deutlich gezeigt.

Kandidaten-Flippern und fehlerhafte Wahlergebnisse. Das Wahlsystem leidet unter handwerklichen Fehlern

Nichtsdestoweniger bleibt das aktuelle Wahlgesetz reformbedürftig. So ist zum Beispiel wenig verständlich, weshalb das Votum für Direktkandidat:innen nicht unabhängig vom Kreuzchen für eine Parteiliste gemacht werden kann. Das würde nicht verhindern, dass Koalitionen sich vorab bei den Direktwahlkreise absprechen. Aber es gäbe der Wählerschaft mehr Wahlfreiheit – warum sollte nicht jemand eine Kandidatin des Terzo Polo wählen, in der Liste aber Fratelli d’Italia? Oder umgekehrt? Ein weiteres Ärgernis sind die mehrfachen Kandidaturen und das komplexe Auszählverfahren. Da Kandidat:innen in mehreren Direkt- und Listenwahlkreisen (uninominali e plurinominali) antreten können, entscheidet sich erst nach der Wahl, über welche der Positionen sie ins Parlament einziehen und wer dann an welcher Stelle für sie in den nicht genutzten Wahlkreisen nachrückt. Hinzu kommt der so genannten „Flipper-Effekte“, der durch den Abgleich der im Wahlkreis erreichten Quoten (und verbleibenden „höchsten Reste“, die nicht in einen vollständigen Sitz umgemünzt werden konnten) mit dem nationalen Ergebnis. Mit der Anpassung ans nationale Ergebnis wird einer Partei ihn ihrem schwächsten Wahlkreis ein Sitz genommen, den sie durch das regionale Ergebnis zu viel hatte, und einer anderen Partei zugeschlagen. Diese Verteilung erfolgt jedoch nur innerhalb der Stimmbezirke, insgesamt verliert die Partei keinen Sitz, weshalb es zu besagten Effekten in anderen Regionen kommt. Emanuele Bracco beschrieb das Phänomen für den Corriere della Sera so anschaulich, dass ich ihn hier – entnommen einem Artikel des Messaggero – schlicht zitieren möchte:

«Se 15.000 leghisti milanesi cambiassero idea e votassero Fratelli d’Italia, Fratelli d’Italia otterrebbe un seggio in più a Cagliari togliendolo a Forza Italia (i cui voti sono rimasti invariati). Forza Italia guadagnerebbe però un seggio in Basilicata, togliendolo alla Lega.» […] Con l’effetto paradossale […] che della serie di aggiustamenti dell’effetto flipper finisca vittima anche «un povero forzista sardo, che ha dovuto lasciare il suo posto a un collega lucano senza che i voti del suo partito siano cambiati né in Sardegna, né in Basilicata»

Il Messaggero, 26.08. 2022

Ein Sitz mehr für FdI in Cagliari, einen weniger dort für FI, dafür einen mehr in der Basilicata, wo die Lega einen Sitz verliert. Und ein Lukaner gewinnt den Sitz eines Sarden, ohne dass sich bei denen irgendwas getan hätte. Ähnlich verlief es mit Umberto Bossi, dem legendären früheren Parteichef der Lega Nord, passiert, der zunächst nicht wiedergewählt schien, schließlich aber doch noch ins Parlament einzog. Das Innenministerium, il Viminale, veröffentlichte vorläufige Ergebnislisten, die später mehrfach korrigiert werden mussten. Auch, weil den Verantwortlichen der Fehler unterlaufen war, die Partei +Europa bei der Stimmverteilung innerhalb der Koalition zu berücksichtigen, auch wenn diese unter der Drei-Prozent-Hürde gelegen hatte. Denn da sie in Koalition mit dem PD angetreten waren, mussten sie dennoch berücksichtigt werden – in Koalitionen liegt die Hürde bei nur einem Prozent.

Blockierte Listen ohne Präferenzstimmen und dennoch Unklarheit, wer eigentlich über welche Liste einzieht

Die Schwierigkeiten in der korrekten Sitzverteilung schaffen Unsicherheiten und Unklarheiten, nicht nur bei den betroffenen Parlamentsmitgliedern. Und das obwohl den Italiener:innen nicht einmal eines ihrer liebsten Wahlinstrumente zur Verfügung steht: die Präferenz. Damit können sie innerhalb einer Parteiliste einen Kandidaten oder eine Kandidatin bevorzugen, der oder die dann bei ausreichend erhaltenen Präferenzen innerhalb der Liste aufsteigt (in Deutschland gibt es das in ähnlicher Form des Kumulierens – wenn mehrere Präferenzstimmen zur Verfügung stehen – auf kommunaler Ebene). Dies wird als wichtiges demokratisches Instrument gegen die Macht der Parteispitzen gesehen, welche die Listen bestimmen. Denn in Italien hat zumeist der Parteichef oder die Chefin das Sagen darüber, wer auf die guten Listenplätze kommt – ein Grund, weshalb etwa Matteo Renzi lange nach dem Ende seiner Erfolgsphase noch zahlreiche Gefolgsleute in der Fraktion des PD hatte und weshalb Matteo Salvini trotz wachsender interner Kritik auf ausreichend Loyalität in der heutigen Lega-Fraktion setzen kann: Es sind „seine“ Leute, die dort sitzen.

Diese Präferenzabgabe gibt es nicht mehr, und trotzdem – oder auch: zudem – ist nicht ganz klar, wer wie über welche Liste nun ins Parlament gekommen ist. Das ist ein Manko und sollte eine Korrektur sein, die auch ohne gänzlich neues Wahlgesetz von der neuen Regierung behoben werden kann und sollte. Denn wenn die Wählerschaft nicht mehr versteht, welchen Effekt ihr Votum eigentlich hat, so schadet dies dem Vertrauen in das demokratische System.