Die Rückkehr der Politik

Die Parteichefs nehmen wieder das Heft des Handelns in die Hand und jagen die „Experten“ vom Hof. Das lässt leider nichts Gutes erwarten, wie die letzten Tage eindrücklich gezeigt haben.

Titelbild der Frankfurter Rundschau mit Mario Draghi am Tag seines Rücktritts
Titelseite der Frankfurter Rundschau am Tag nach Draghis Rücktritt.

Man kann der Ansicht sein, die Regierung in einer Demokratie sollte aus dem Wahlergebnis hervorgehen und wenn nicht direkt legitimiert, so doch zumindest nah am Wähler:innenvotum ausgerichtet sein. Man kann der Ansicht sein, dass nach mehreren Regierungswechseln, die jeweils eine sehr unterschiedliche politische Ausrichtung brachten, und einigen Häutungen und Abspaltungen innerhalb der Parteien und Fraktionen es nun Zeit ist, die Zusammensetzung der Parlamente noch einmal durch die Wähler:innen prüfen zu lassen. Man kann der Ansicht sein, dass eine Vielparteienregierung, in der die Fliehkräfte dominieren und in der es an zu vielen Stellen sehr großen Aufwands bedarf, alles zusammenzuhalten, dass diese Regierung einen Schlussstrich zieht. Man kann also durchaus finden, dass es gute Gründe dafür gibt, dass Mario Draghi sein Amt als Ministerpräsident aufgibt und Italien am 25. September ein neues Parlament wählt – und eine neue Regierung bekommt.

Gründe, die einen zu der gegenteiligen Meinung kommen lassen, wurden in den letzten Tagen ebenfalls einige genannt: die Vielzahl der Krisen, die es akut und gleichzeitig zu bewältigen gilt, der enge Zeitplan des Wiederaufbaufonds, dessen Einhaltung Bedinung für die nächsten Überweiseung aus Brüssel ist, das hohen Ansehe, das Italien dank Draghi international endlich wieder gewonnen hat, die nun drohende Wiederkehr der Eurokrise und schließlich die Sorge, das die Postfaschist:innen die nächste Wahl gewinnen können. Das alles sind vernünftige und richtige Argumente, dennoch liegt das Deprimierendste und Beängstigendste an diesem Regierungsende meines Erachtens woanders. Das Spektakel, was das politische Italien von vorvorigem Donnerstag bis letzten Mittwoch bot, macht fassungslos aus einem Grund, den etwa die ehemaligen Ministerin Elsa Fornero in der Sendung metropolis unterstrich: Die Motivation, die hinter dem Agieren von M5S, Lega und Forza Italia lag, die Ziele, die sie mit ihrem Handeln verbanden, waren so klein und so kurzsichtig und sie standen in keinem Verhältnis zum Ausmaß des Schadens, den sie verursachten.

Giuseppe Conte und die, die ihm an Mitstreiter:innen geblieben sind, sahen ihre Felle davonschwimmen und in ihrer Verzweiflung eskalierten sie inhaltliche Unstimmigkeiten, bis sie nicht mehr einzufangen waren. Nun beschweren sie sich, dass sie niemals die Regierung haben stürzen wollen und warum denn nun ihnen alle die Schuld in die Schuhe schöben. Aber wenn sie auf dem Weg der Eskalation nicht gemerkt haben, mit wem sie es in Mario Draghi zu tun haben – jemandem, der taktische Spielchen ebenso verachtet wie mangelhaftes Arbeiten und fest zu seinen Grundsätzen steht – und wer ihre Koalitionspartner in dieser Regierung der nationalen „Einheit“ sind – u.a. die Lega Salvinis, der wie ein Raubtier die schwachen Momente der politischen Gegner ausnutzt – dann haben sie kein diplomatisches Gespür und offensichtlich keine Fähigkeit zur erfolgreichen Verhandlung. Oder sie haben es durchaus mitbekommen, und sind sehenden Auges in das grand finale gelaufen, weil ihnen das eigene politische Überleben wichtiger war als das Wohl des Landes. Dann sind aber auch ihre Beschwerden und Rechtfertigungen nur Heuchelei und Lüge. In beiden Fällen disqualifizieren sie sich als politische Führungskraft.

Matteo Salvini sah die Gunst der Stunde, den König zu ermorden ohne Königsmörder zu sein. Im Grunde befand er sich in einer ähnlich verzweifelten Lage wie Conte, nur nicht ganz so akut. Aber sein Führungsanspruch innerhalb des Mitte-Rechts-Lagers steht seit längerem auf tönernen Füßen, haben Fratelli d’Italia die Lega doch sogar in ihren Kerngebieten in Sachen Wählerstimmen überholt. Entsprechend wackelt auch seine Position als Parteichef, zumal die Kritik an seinem souveränistisch-nationalen Kurs vom traditionellen Parteiflügel während der Draghi-Regierung immer lauter wurde. Flucht nach vorn und Angriff sind Salivinis Spezialitäten, wen kümmert es da, das ohnehin in neun Monaten gewählt worden wäre und auch jetzt Giorgia Meloni in den Umfragen weit vor der Lega liegt? Hauptsache, jetzt schon nicht mehr staatstragend sein müssen – was Minister Giorgetti sowieso viel besser kann und damit ungeheuer nervte – sondern lieber wieder direkt in den Wahlkampf, wieder Lautsprecher sein, wieder die Häfen schließen wollen und gegen Migranten hetzen. Weder Salvini noch Conte profitieren wirklich von der jetzigen Wahl im Vergleich zu der regulären im Frühjahr 2023. Es gibt keine Übergangszeit für sie in der Opposition, in der sie sich inhaltlich hätten konsolidieren können. Der einzige Vorteil: Sie können jetzt sofort sloganhaft unrealistische Positionen vertreten und die anderen des Versagens beschuldigen, ohne dass sie jemand zur Räson ruft – die mäßigende Wirkung der Regierung und Person Draghi ist ja passé.

Somit bleiben als Motivation a) die eigene Führungsposition in der Partei absichern und b) eventuell, aber nicht sicher, ein paar Prozentpunkte gut machen bis zur Wahl.

Das ist nicht viel.

Und über Silvio Berlusconis Forza Italia haben wir noch gar nicht gesprochen. Es hagelt Austritte, alle drei Minister:innen kehren der altehrwürdigsten unter den populistischen Parteien den Rücken. Viel ändern wird es nicht. Die zehn Prozent Wählerstimmenanteil, die Forza Italia laut Umfragen auf sich vereint, verdanken sie nach wie vor der Person Berlusconi – nicht, weil diese unbelehrbaren Italiener:innen immer noch an die Versprechungen dieses Schönfärbers glauben. Sondern weil Berlusconi, so altersenil er langsam werden mag, noch immer ausreichend Einfluss hat und noch immer genug Fäden zusammenhält, um eben diesen Stimmenanteil zu bekommen. Insofern werden die ausgetretenen Spitzenpolitiker:innen entweder einer bestehenen nennenswerten Partei beitreten müssen, oder in der Versenkung verschwinden. Denn in der Mitte neben Berlusconi ist kein Platz, seit Jahrzehnten nicht.

Berlusconis Motiv? Schwierig. Die Überraschung ist groß, bei vielen auch die Enttäuschung. Da er kurz nach Draghis Rücktritt ankündigte, selbst wieder für den Senat kandidieren zu wollen, wird spekuliert, er wollte endlich seine Rückkehr in ein politisches Amt verwirklichen. Und eine kleine Revanche dafür, dass ihn die Regierungsmehrheit nicht ins Amt des Staatsoberhauptes hieven wollte? Im besten Fall war es Bündnistreue: Entweder jetzt an der Seite von Salvini und Meloni für sofortige Neuwahlen oder das Mitte-Rechts-Bündnis ist tot. Das war es in den vergangenen Monaten zwar schon öfter, aber Totgesagte leben länger.

Kurzsichtige Motive, kleinliche, selbstgefällige Motive. Sie lassen ahnen, wie diese Personen ihre Regierungsverantwortung wahrnehmen würden: nur ausgerichtet auf den kurzfristigen, persönlichen Gewinn, nicht auf das große Ganze oder gar auf den Erfolg in der Sache – durch Sachpolitik. Dies hebelt die eingangs genannten Argumente, warum nun passiert, was passiert nicht aus. Aber es macht den Abgang Draghis umso bitterer und die den Blick in Italiens Zukunft umso düsterer.

PS:

Früher war nicht alles besser, aber fast schon könnte man nostalgisch werden, wurden doch zu Berlusconis besten Zeiten Gesetze wenigstens geschrieben, um ihn persönlich vor einer Verurteilung zu schützen. Oder wenn die Justiz zu reformieren versucht wurde, damit sie die Korruption nicht aufdeckt. Oder wenn politische Intrigen geschmiedet wurden, weil man die Beteiligung der Linken an der Regierung verhindern wollte oder einen Staatsstreich vorbereiten. Einen Staatsstreich! Die Geschichte der italienischen Politik ist voll von unlauteren Absichten, die fragwürdiges Handeln, das Scheitern von Regierungen motivierten. Ein paar Wählerstimmen sind demgegenüber in jeder Hinsicht niederschmetternd.

Stabil instabil

Italien steckt plötzlich mitten in einer Regierungskrise, die es in sich hat. Und das, weil… ja, warum eigentlich?

Grund 1: Die 5-Sterne-Bewegung

Giuseppe Conte

Der Auslöser in diesem Fall ist die Identitäts- und Führungskrise der Fünf-Sterne-Bewegung (M5S). Giuseppe Conte hat seine Rolle als politischer Führer nach Ende seiner Zeit als Regierungschef nie wirklich gefunden. Er sollte sich profilieren, der Bewegung eine neue, aber klare Linie geben und sich gegen innerparteiliche Kritiker und Konkurrenten durchsetzen. Nun, nichts davon ist ihm gelungen. In den sozialen Medien kursieren Witze, dass niemand so richtig weiß, wie es eigentlich dazu kommen konnte, dass er ernsthaft zwei Regierungen vorstand. Nicht erst in der jetzigen Phase wirkt Conte planlos, hin und hergerissen zwischen den verschiedenen Seelen des Movimento, zwischen der gouvernementalen und der ideologischen Linie. Es scheint sich nun deutlich zu bewahrheiten, was Matteo Renzi beim Sturz der Conte II-Regierung ihm um Vorwurf machte: Der Mann hat keinen Plan. Und keinen politischen Instinkt. Beziehungsweise fehlt ihm die Fähigkeit, Allianzen zu schmieden, Konkurrenten ins Boot zu holen, Pakte oder zumindest Kompromisse zu schließen. Wenn diese Fähigkeiten fehlen, ist es schwierig, eine zerrissene Partei wenigstens vorübergehend in ruhigere Fahrwasser zu bekommen.

Die Identitätskrise der 5-Sterne

Der Austritt des Außenministers und ehemaligen politischen Anführers Luigi di Maio und einer nennenswerten Anzahl an Abgeordneten und Senator:innen hatte sich lange angekündigt. Di Maio war in er bemerkenswerten persönlichen Weiterentwicklung immer mehr zu einem Abbild des unideologischen, pragmantischen Politikers geworden – nach Ansicht vieler Beobachter zu einem würdigen Nachfolger der Christdemokraten, die jahrzehntelang die Regierung stellten und die politischen Interessen austarierten. Nach Ansicht eines Teils seiner eigenen Partei war er damit beim „Marsch durch die Institutionen“ zum „A… der Institutionen“ geworden und hatte quasi Hochverrat an den Idealen der Bewegung genommen. Klebt an seinem Sessel. Erfüllt nicht den Wählerwillen. Macht sich gemein mit den politisch-ökonomischen Eliten, die man früher gemeinsam bekämpfte.

Nur wenn die einen in der Realpolitik ankommen und die anderen an ihren Idealen festhalten, wo führt das dann hin? Solche Häutungsprozesse machen wohl alle neuen politischen Kräfte durch, wenn sie länger Bestand haben. Nur leider hatten die 5-Sterne keine Führungsebene, die die Mitglieder und Anhänger:innen durch diesen Prozess geführt hätte. Der „Garant“ Beppe Grillo wurde immer wieder gerufen, um sein Placet zu geben oder eine Richtung zu weisen. Aber das waren kurze Intermezzi, teils widersprüchlich, teils kontraproduktiv. Einmal trat er als Joker auf, um die 5-Sterne von einer Koalition mit dem PD zu überzeugen – die sie vormals bekämpft hatten. Dann stellte er den – damals schon faktisch als künftigen Präsidenten feststehenden – Conte bloß, indem er ihm öffentlich wenig schmeichelhafte Kompetenzen – nämlich keine – attestierte. Nach der Abspaltung der „dimaiani“ kam er kurzerhand doch nicht nach Rom zum Krisengipfel. Gute Führung sieht anders aus. Giuseppe Conte sollte die Lücke füllen, aber: s.o. Luigi Di Maio hat, aller innerlichen Reifung zum Trotz, nie die Autorität und das Format einer wirklichen Führungskraft angenommen. Als er in dieser Position war, war der politische Kompass der Fünf-Sterne noch recht klar, und Di Maio ein Ausführender des Willens der Bewegung. Aber zu diesem Zeitpunkt galt noch unbestritten: uno vale l’altro, jeder ist ersetzbar.

Inzwischen weiß niemand mehr so recht, wofür die grillini stehen, und genau deshalb suchen sie Halt in ihren Wurzeln, rufen Diba – Alessandro Di Battista – der sich nie die Hände an einem politischen Amt schmutzig gemacht hat. Ein verzweifeltes Zurück-zu-den-Wurzeln der glorreichen Vaffa-Days verträgt sich aber schlecht mit Regierungsverantwortung.

Grund 2: Eine Regierung nationaler Einheit gestützt auf Populisten

Eine Expertenregierung, die politisch angewiesen ist auf die Unterstützung populistischer Parteien von rechts bis eher links. Das kann eigentlich nicht gut gehen. Und doch hatten alle die Hoffnung, dass Mario Draghi es zumindest für die Zeit von zwei Jahren hinbekommt, dass der Schrecken der Pandemie mit ihren vielen Toten und dem Einbruch der Wirtschaft lang genug wirkt, um alle zur Vernunft zu bringen. Doch schon früh fingen die ersten an zu wackeln, mit den Füßen zu scharren, weil sie zu viele Dinge, die sie versprechen wollten, nicht versprechen konnten, weil Mario Draghi eben pragmatisch-ernste Politik macht und keine umfragengesteuerten Social-Media-Kampagnen. Als konservativer Banker, sollte man meinen, hätte das Mitte-Rechts-Lager die geringeren Probleme mit seinen politischen Maßnahmen. Aber ein Matteo Salvini hat noch nie eine seriöse konservative Politik betrieben[1], sondern lieber den Sheriff gespielt. Deshalb war er auch der erste, der gegen die Regierung schoss, weil seine Umfragwerte sanken und Giorgia Meloni in der Opposition die besseren Karten zu haben schien. Deshalb war es zunächst die Lega, die an der Geschlossenheit der Regierung wackelte. Immer und immer wieder. Bis Mario Draghi schon zur Präsidentenwahl im Januar genug zu haben schien und lieber in den Quirinalspalast wechseln wollte. Daraus wurde bekanntlich nichts, aber die Mätzchen und Spielchen, um irgendwie in der Wählergunst zu steigen, waren ihm offensichtlich zuwider.

Matteo Salvini konnte sich die letzten Tage zurücklehnen und einfach beobachten, wie andere die unbeliebte Rolle desjenigen übernahmen, der die Regierung stürzt. Schließlich ist das immer ein Vabanque-Spiel, wer weiß, ob es einem die Wähler:innen wirklich danken. Aber das Problem der Populisten ist eben: Entweder, sie kriegen ihre lautstark proklamierten Forderungen durchgesetzt – oder sie müssen in die Opposition. Kompromiss ist keine Option. Eine Regierung der nationalen Einheit zu bilden, ist hingegen der Inbegriff der Kompromissfindung. Je näher das reguläre Ende der Legislatur im März 2023 rückte, desto unruhiger wurden also die Beteiligten, desto dringender die Profilierungssucht.  Nur hat der Regierungschef dafür wenig Verständnis.

Grund 3: Ein Premier mit Prinzipien – und wenig Verständnis für taktische Spiele

Mario Draghi meint es ernst. Er hatte mehr als einmal deutlich gesagt, zu welchen Bedingungen er bereit sei, diese Regierung zu führen. Diese wurden offenkundig überhört – oder seine Reaktion einkalkuliert, was jedoch insofern irritiert, als im Falle von Neuwahlen die 5-Sterne-Bewegung am stärksten verlieren würde. Aber zurück zu Draghi: Er war als Heilsbringer empfangen worden, als einer, der aus einer anderen Sphäre kommt und Italien retten, auf den rechten Weg zurückführen sollte. In gewisser Weise hat er diese Erwartung erfüllt. Mario Draghi hat Italien Reputation und Ansehen auf internationaler Ebene zurückgebracht, in international schwierigen Zeiten. Er hat sich als kompetenter Krisenmanager erwiesen, und dabei nicht einmal als der neoliberale Schrecken, als den ihn manche politischen Gegner in seiner Zentralbankchefrolle darstellten.

Allerdings hat auch Draghi recht bald erfahren müssen, dass es eine Kärrnerarbeit ist, in Italien Politik zu machen. Schwierig genug, Justizreformen auf den Weg zu bringen, die Teil des Wiederaufbauplans sind, Draghis Kerngeschäft also. Schwierig genug, Coronamaßnahmen zu erlassen, wenn ein Teil der Regierung nicht weiß, ob sie zu den Impfskeptikern gehören oder nicht. Aber dann: die Konzessionen für die Strandbäder, die Reform des Katasters, die Abschaffung des Superbonus 110, mit dem Häuser auf Staatskosten energetisch saniert werden sollten – oder ganz ohne Beteiligung des Premiers der so genannte ddl Zan, der sich gegen die Diskriminierung der LGBTQ-Comunity richtete und in einem offenen Kampf der in der Regierung vereinten politischen Lager endete. Zuletzt der Gesetzesentwurf für Unterstützungen der Bürger:innen in der aktuellen Energiekrise, aber da ging es schon gar nicht mehr um Inhalte. Alles Dinge, bei denen ein außenstehender meint, man müsse da recht geräuschlos zu Kompromissen finden. Nein, wenn Umfragewerte sinken, die Machtbasis in der eigenen Partei schwindet oder ganz real Kommunalwahlen verloren gehen, dann sitzt das Wams näher als die Hose, dann steht nicht mal das Interesse der eigenen Klientel – die Strandbadbetriebserlaubnisse mal außen vor – oder dasjenige der Partei, sondern sehr häufig einfach das ganz individuelle Interesse der in Schwierigkeiten geratenen Person ganz oben.

Entsprechend hoch dann die Geräuschkulisse zu parallel zu den Kabinettssitzungen. Mario Draghi hat nie einen Hehl daraus gemacht, wie sehr ihn das nervt. Auch in den letzten Tagen war die Ungeduld mit Giuseppe Conte spürbar, bei allem Verständnis für dessen Zwänge und inhaltliche Erwägungen. Aber irgendwann muss man sich halt auch einfach hinsetzen und eine Lösung ausarbeiten. Bloß dass es darum in den vielen politischen Krisen ja gerade nicht geht, sondern um die bewusste Herbeiführung eines Bruchs. Aber solche Spielchen spielt man nicht mit Mario Draghi. Er ist gedanklich stets mindestens genauso viel in der Welt der globalen Verflechtungen wie in der italienischen Innenpolitik. Und aus dieser Perspektive der globalen Ereignisse, aber auch der globalen Verantwortung erscheinen die Probleme eines Giuseppe Conte doch eher klein. Und dessen Zwang sie aufzubauschen doch mehr als ärgerlich.

Ob es Staatspräsident Mattarella gelingen wird, Mario Draghi zu einer Fortführung der Regierungsarbeit zu bewegen, ist derzeit mehr als fraglich. Denn vor allem wird es keine Garantie geben, dass das Verhandeln und Dazwischenschießen, das Stellen von Ultimaten und das Getöne gegenüber der Wählerschaft nicht in wenigen Wochen wieder losgehen, wenn die Wahlen näher rücken. Warum es also nicht jetzt schon beenden und die Parteien für das in die Verantwortung nehmen, was sie da veranstalten?

Kein Heil, durch niemanden

Es war sicher kein Fehler, Mario Draghi das Amt des Premierministers anzuvertrauen. Aber es war auch nicht die Lösung. Selbst wenn er noch für ein „bis“ weitermachen sollte, die Legislatur zu Ende bringt, letztlich muss sich Italien dem stellen, was Realität ist: Es hat eine unzureichende politische Klasse. Eine wahrscheinliche Mitte-Rechts-Regierung wäre nicht mehr die Katastrophe, die sie vor ein paar Monaten gewesen wäre, denn sowohl Russophilie wie auch EU-Feindlichkeit machen sich gerade nicht mehr wirklich bezahlt. Doch Stabilität würde auch sie nicht bringen, so sehr wie sich die beteiligten Parteien Lega, FdI und FI seit der Präsidentschaftswahl und den Kommunalwahlen zerfleischt, versöhnt, beharkt haben. Wenigstens würde nicht mehr ganz Europa am Selbstfindungsprozess der Fünf-Sterne beteiligt sein – dann nicht mehr. Zur Zeit tragen wir die Risiken einer Euro-Krise gerade mit, weil Conte eine schwache Führungsfigur ist. Apropos: Auch die EU müsste sich der Realität stellen, dass sie nicht dauerhaft die hoch verschuldeten Italiener durchziehen kann, sondern dass sie eine wirkliche Euro-Reform brauchen. Zur Zeit ist es, wie als würde man einen Schüler mit schlechten Leistungen trotzdem jedes Jahr durchkommen lassen, nur damit niemand merkt, dass die Unterrichtsmethoden vielleicht nicht ganz adäquat sind.

Italien steht nach wie vor vor einem enormen Berg an nötigen Reformen und Modernisierungen. Letzteres hat es gemein mit vielen europäischen Ländern. Die Energiekrise und ihre noch unabsehbaren Folgen machen es nicht besser. Auch das hat Italien gemein mit seinen Nachbarn. Über den eklatanten Wassermangel im Norden spricht gerade in politischen Zusammenhängen kaum einer, aber auch er ist eine enorme Belastung für Wirtschaft, Natur und Gesellschaft. Mit dem vorhandenen dysfunktionalen Politikbetrieb – explizit nicht: politischen System! – wird sich das nicht zum besseren wenden. Es brechen keine gute Zeiten an in Italien. Aber unausweichliche.


[1] Zugegeben, auch Silvio Berlusconis Forza Italia schmückt sich erst seit kurzem damit.

Die Metamorphose des Matteo Salvini

Die Nominierung Mario Draghis zum Ministerpräsidenten verändert bereits Italiens Politik. Der Gesinnungswandel des Lega-Chefs ist das beste Beispiel dafür. Doch wie weit reicht die Veränderung wirklich?

Matteo Salvini (rechts), neuerdings beschwichtigend. Hier mit Commissioner for Migration, Home Affairs and Citizenship Dimitrios Avramopoulos. Foto: European Union 2019

Es werden große Hoffnungen in Mario Draghi gesetzt. Hauptsächlich erwartet das Land – und die EU – dass nun die richtigen und effektiven Schritte in der Bekämpfung der Pandemie, des wirtschaftlichen Wiederaufschwungs und der vielen italienischen Baustellen von Bildung bis Infrastruktur und Justiz gemacht werden.

Wichtiger noch ist jedoch der Draghi-Effekt auf die politische Elite und die Parteien. Denn von ihnen wird abhängen, ob die richtigen Schritte nach dem Ende der – sicher nur temporären – Regierung Draghi auch weitergegangen werden. Das Tempo, in dem die Parteien eine nach der anderen ihre vermeintlichen roten Linien überschritten haben, um an der Regierung Draghi teilzuhaben, ist atemberaubend. Die Fünf-Sterne sind bereit, mit ihrem Erzfeind Silvio Berlusconi an einem Tisch zu sitzen, zu dem ein Exponent einer weiteren Inkarnation des Bösen – der Banken – aufgerufen hat. Der Partito Democratico findet plötzlich, mit den Politiker:innen der Lega könne man reden, Fremdenfeindlichkeit hin, Nationalismus her. In der Tat, wo ist der Nationalismus der Lega plötzlich hin? Matteo Salvini, Parteichef der ehemals sezessionistischen, heute sovranistisch-nationalistischen Partei, findet plötzlich lobende Worte für die Europäische Union und schwört seine Euro-Parlamentarier darauf ein, für die Regeln des Recovery Fund zu stimmen. Stattdessen streitet er sich jetzt mit der AfD.

Die Lega lenkt also ein auf den dezidiert pro-europäischen, pro-westlichen Kurs, den Mario Draghi als unverrückbare Grundlage seiner Regierungspolitik definiert hat. Was ist da los?

Europäische Zusammenarbeit unter Nationalisten zum Scheitern verurteilt

Einerseits könnte man nun behaupten, ein auf nationale Interessen ausgerichtetes Europa kann eben nicht zusammenarbeiten – erst recht nicht ein Front National oder eine AfD mit der Lega. Wenn Mario Draghi als EZB-Chef und der Recovery Fund Italien vor dem Schlimmsten bewahrt haben und bewahren werden, so war das für Matteo Salvini schon schwierig genug einzugestehen. Er kann jedoch noch glaubhaft versichern, dass dies schließlich im nationalen Interesse Italiens lag und deshalb aus patriotischer Sicht unterstützt werden müsse. Da hat es die AfD schon schwerer, denn die Vorteile Deutschlands durch die EU sind zwar nicht von der Hand zu weisen, aber längst nicht so offensichtlich wie jene Italiens – vor allem nicht so offensichtlich wie die Tatsache, dass die Kreditwürdigkeit und Finanzlage Deutschlands unabdingbar für eine gemeinsame Krisenbewältigung ist, und der daraus folgende Kurzschluss – den ja wahrlich nicht nur die AfD vertritt – gemeinsame Schulden gingen ebenso wie die Ankaufprogramme der EZB zulasten Deutschlands.

Im Unterschied zur Zeit der Finanzkrise hat die EU daher gerade einen entscheidenden Vorteil: Das Geld, das sie zu vergeben hat, bedient bestimmte nationale Interessen – und zerschlägt damit die Allianz der EU-Gegner. Seit im Sommer der Wiederaufbaufonds ausgehandelt wurde hat es gerade die Lega schwer, mit ihrem Anti-Europäismus noch zu punkten. Dennoch ist der Schritt, den Matteo Salvini in diesen Tagen gemacht hat, ein radikaler. Von einem Tag auf den anderen verschwinden die Parolen und die Forderungen. Von einem auf den anderen Tag ist die EU eine Chance und keine Bedrohung des nationalen Wohls mehr. Diesen Part seiner Politik hat er an Fratelli d’Italia ausgelagert, die klar in Opposition zur neuen Regierung bleiben. Aufgabenteilung im Mitte-Rechts-Lager: Wenn sie bei Neuwahlen als Bündnis gemeinsam antreten, kann Giorgia Meloni glaubhaft diejenigen Stimmen einfangen, die Draghi und der EU weiterhin skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen, während die Lega die moderateren Stimmen einfängt und sich als verantwortungsbewusste Kraft für die Nachfolge Forza Italias aufstellt.

Denn Silvio Berlucsonis FI hatte schnell klar gemacht, Draghi unterstützen zu wollen. Dass die gemäßigten rechten Wähler jedoch der in die Jahre gekommenen Partei des in die Jahre gekommenen Ex-Ministerpräsidenten zulaufen, weil die Lega Fundamentalopposition betreibt – das konnte Salvini nicht zulassen. Das Risiko aber bleibt: So lange haben er und Meloni anti-europäische Stimmung gesät – mag sein und seine Konkurrentin von Fratelli d’Italia fährt bei der nächsten Wahl die Ernte allein ein. Die Chance besteht darin, dass Draghis Wirtschaftspolitik vor allem die traditionelle Wählerklientel der Lega in Italiens Norden bedient – die zahlreichen Unternehmer:innen, die den Nationalismus in Bezug auf Europa nie ganz mitgetragen haben und die Salvini keinesfalls verlieren darf.

Alles nur Taktik? Salvinis Manöver

Alles Taktik also? Ein Manöver, um bestmöglich in die nächsten Wahlen zu gehen, die vielleicht im Sommer kommenden Jahres anstehen? Zur Zeit lässt sich das nicht abschließend beurteilen. Doch Matteo Salvini ist ein Instinktpolitiker. Was für ihn zählt ist weniger die Überzeugung als der größte Benefit in Wählerstimmen. Als Autonomie und Politik nur für den Norden nicht mehr ausreichten, die Lega zu einer ernstzunehmenden politischen Kraft zu machen, spürte Salvini die Stimmung in der Bevölkerung auf, einige Jahre kaum politisch repräsentiert wurde: Ärger, Sorge und Ablehnung wegen der vielen Migrant:innen, die in Italien strandeten. Die EU, die an dieser Situation schuld war, die zudem Reformen erwartete, die die ohnehin von Staat gegängelten Italiener:innen um ihre Rente und ihr Auskommen brachten. Weltweit schien „my own country first“ eine Erfolgsformel. So machte er kurzerhand aus einer regionalistischen eine nationalistisch-sovranistische Partei und ging erfolgreich auf Stimmungsfang auch im Süden.

2021 ist die Lage jedoch eine andere: die Pandemie, das Ende von Trumps Präsidentschaft, die versprochenen EU-Hilfen, der dringende Bedarf an verantwortungsvoller, effektiver Politik – gern mit drastischen Maßnahmen, mögen sie nur helfen. Für politische Grabenkämpfe haben die Italiener:innen derzeit so wenig Verständnis wie Sinn für das beste Pannino oder die beste Pasta, die sonst Salvinis bevorzugte Instrumente waren, den Nationalstolz der Bevölkerung anzusprechen. Also sucht sich Salvini neue Wege, im breiten Becken des Mitte-Rechts-Lagers nach Zustimmung zu fischen. Wenn diese nun eher über eine verantwortungsbewusste Wirtschafts- und Finanzpolitik sowie über Reformen an den öffentlichen Institutionen (Gesundheit, Bildung, Justiz, Verwaltung) einzuholen ist – warum nicht? Schließlich hat er vor allem immer gesagt, im Interesse der Italiener:innen zu handeln. Und wenn diese ihre Prioritäten ändern, warum dann nicht auch ihr Volkstribun Salvini?

Damit dies nicht eine wenige Monate währende Episode bleibt, muss Mario Draghi so weise sein, Salvini und der Lega gewisse Erfolge zu gönnen und zu einem tatsächlichen Miteinander zu kommen. Denn nur wenn Matteo Salvini weiterhin größere Chancen in der Unterstützung der Regierung sieht als in ihrer Demontage, wird er der „friedliche“ Salvini bleiben. Oder Mario Draghi wird derart erfolgreich sein müssen, dass Salvini zugunsten moderaterer Kräfte in der Lega marginalisiert wird. In beiden Fällen hatte er sich sehr um die Zukunft Italiens und Europas verdient gemacht.

Mario Draghi Ministerpräsident: alles gut in Italien?

Mit dem Ex-BZE-Chef an der Regierungsspitze lassen sich einige, aber längst nicht alle Probleme Italiens lösen.

Mario Draghi, Aufnahme von 2011
Mario Draghi, ehemaliger Chef der Europäischen Zentralbank, jetzt designierter italienischer Ministerpräsident. Foto: European Union, 2011

In Europas Hauptstädten und in Brüssel ist man erleichtert bis begeistert, dass so ein erfahrener kompetenter Mann wie Mario Draghi die Regierungsführung in Italien übernehmen soll. Die Finanzmärkte ebenso, was sich unter anderem in einem Rekordtief der Risikoaufschläge für italienische Staatsanleihen, dem spread, zeigt. In Italien selbst hört man nur lobende Stimmen über die außerordentlichen Fähigkeiten des ehemaligen nationalen wie europäischen Notenbankenchefs. Hat Staatspräsident Sergio Mattarella also die richtige Antwort auf die politische Krise aus dem Hut gezaubert?

Sicher, das hat er. Doch in der Euphorie darüber, dass Draghi den Auftrag – unter Vorbehalt – angenommen hat, eine neue Regierung zu bilden, darf nicht untergehen, dass dieser Schritt erst nötig wurde, weil sich eine politische Krise entfaltet hatte, die selbst in Italien ihresgleichen sucht. Die Unfähigkeit zur Problemlösung, die die politischen Akteure dabei offenbarten, wird Mario Draghis Regierungsbildung und -politik weiter beeinflussen.

Herausforderung I: politische Einheit

Mario Draghi braucht eine parlamentarische Mehrheit in beiden Kammern. Giuseppe Conte hatte keine Mehrheit mehr hinter sich vereinen können, und die beiden größten ihn unterstützenden Parteien PD und M5S waren nicht in der Lage, eine Alternative zu Conte zu entwickeln und dafür die nötige Unterstützung zu bekommen. Die aktuell laufenden Gespräche zeigen bereits, dass es auch für Mario Draghi nicht einfach wird: Die Fünf-Sterne haben Bauchschmerzen, schließlich repräsentierte er als EZB-Chef aus ihrer Sicht genau diejenigen Institutionen, die Italiens nationale Selbstbestimmung beschnitten und politische Reformen gegen den Willen der italienischen Bevölkerung „diktierten“. Das Draghi mit seinem „Whatever it takes“ vor allem Italien die Haut gerettet hat, wird in den orthodoxen Kreisen der Fünf-Sterne nur ungern anerkannt. Ähnlich sieht es Giorgia Meloni von Fratelli d’Italia, die sogleich ankündigte, Draghi im Parlament nicht unterstützen zu wollen. Soweit zu verschmerzen, denn es ließe sich ohnehin sehr schwer eine Regierung vorstellen, in der der pro-europäische Partito Democratico mit den nationalistisch-sovranistischen Fratelli d’Italia zusammenarbeitet.

Dies führt zur stärksten Kraft im Mitte-Rechts-Lager, der Lega. Zwar dämmert es Lega-Chef Matteo Salvini, dass sich mit anti-europäischen, trumpistischen Tönen inzwischen weniger Zustimmung erreichen lässt als noch vor drei Jahren (s. Recovery Plan). Doch Salvinis Lega ist auf Abgrenzung, auf Dauerwahlkampf, auf Parolen statt Verhandlungen ausgerichtet. Da passt eine Regierung des nationalen Konsens‘ zur Überwindung der Krise nicht ins Konzept. Zumal es Draghis Regierung zuallererst um die Bekämpfung der Pandemie und ihrer Folgen gehen wird – und die Mitte-Rechts-Opposition hat bislang noch nicht glaubhaft machen können, warum sie der bessere Krisenmanager wäre, wo sie doch Covid-19 lange Zeit vor allem verharmlost hatten und sich weigerten, Schutzmaßnahmen mitzutragen. Doch das größte Problem für die künftige, ja für alle künftigen Regierungen liegt tiefer:

Herausforderung II: Fehlendes politisches Führungspersonal

Die Opposition kann an dieser Stelle gleich ausgeklammert werden, denn Verantwortungsbewusstsein und Eignung zum Krisenmanagement hat sie in den vergangenen Jahren nicht an den Tag gelegt, auch die Lega in Regierungsverantwortung nicht. Da ging es um Profilierung und Härte gegen den Gegner (Migrant:innen, EU, die Linke…). Unwahrscheinlich, dass mit Salvini Premier es überhaupt die europäische Hilfe gegeben hätte, um deren Abruf es jetzt maßgeblich geht.

Dass Giuseppe Conte in den letzten Monaten überhaupt zu der Führungsfigur aufsteigen konnte, spricht Bände über den Zustand der politischen Elite. Keine Frage, er war und ist sehr beliebt; das Krisenmanagement im letzten Frühjahr gelang ihm trotz aller Probleme recht gut. Er verhandelte in Brüssel die EU-Hilfe, ein großes politisches Verdienst, nicht zuletzt weil die Euroskepsis der Italiener:innen danach stark sank. Der späte Widerstand gegen Salvini im Herbst 2019 war so notwendig wie ermutigend. Und zunächst schien es sogar, als könne er sich gegen den zweiten sich selbst überschätzenden Matteo – Renzi – behaupten. Doch dort, wo es wirklich schwierig wurde, wo politische Führung und Durchsetzungsstärke nötig war, konnte Conte nicht liefern. Vom Wiederaufbauplan, mit dem die EU-Gelder eingesetzt werden sollten, bis zur Handhabung der Krise, in der er kein klares politisches Programm für eine Regierung „Conte ter“ bieten konnte.

Seit Sommer schon kursiert der Name Draghis in den italienischen Medien, wenige Wochen vor der Krise wurde in den Polit-Talkrunden mitleidsvoll über Contes Befinden und seine Zukunftsaussichten gesprochen. Tenor: Hier arbeitet einer ehrlich, aber eben an seiner Leistungsgrenze. Niemand wollte Conte etwas Böses, aber man sah deutlich die Grenzen seiner Kompetenz. Bitter ist, dass in so einer Situation keine einzige politische Kraft, nicht einmal der Partito Democratico, in der Lage war, personelle und politische Alternativen zu anzubieten. Der PD, allen voran Parteivorsitzender Nicola Zingaretti, wollten eine dritte Conte-Regierung, hielten sich an seiner Popularität fest, spekulierten auf ein doch noch mögliches, wenn auch unwahrscheinliches Zusammenwachsen mit – zumindest einigen – linken Kräften des M5S, um die Linke zu neuer Stärke zu führen. Conte war jedoch nicht stark genug, die Fünf-Sterne zu planlos, zu zerfranst und unentschlossen. Stattdessen Renzi.

Matteo Renzi, über den nur noch strittig ist, ob sein egozentrisches Verhalten und seine fehlgeschlagene Taktik – es heißt, er wollte Macron nacheifern und den PD wie die Sozialisten in Frankreich durch den Aufbau einer eigenen Bewegung zerschlagen – nicht doch noch eine Sache zugutezuhalten wäre. Nämlich dass er letztlich Mario Draghi in die Regierungsverantwortung gebracht hat. Viel mehr ist zu dieser in Europa immer noch grob überschätzten Personalie nicht mehr zu sagen.

Und mit genau diesen politischen Führern – nicht zu vergessen der grauen Eminenz Silvio Berlusconi – muss nun Mario Draghi eine Regierung, eine Parlamentsmehrheit schmieden.

Herausforderung III: Die Experten-Regierung

Noch ist nicht ganz klar, inwieweit Draghis Regierung den Charakter einer Experten-Regierung haben wird. Nach den Erfahrungen der Regierung Monti (2011-2013) spricht sich die überwiegende Mehrheit der Politiker:innen für eine politische, d.h. mit Parteivertreter:innen besetzte Regierung aus. Allerdings, dazu müssten sich sehr heterogene Parteien und -flügel auf eine gemeinsame Besetzung einigen (s. Herausforderung I), die zudem die qualitativen Anforderungen, die Mario Draghi sicher haben wird, erfüllen (s. Herausforderung II).

Bereits zweimal gab es eine Expertenregierung, die ebenfalls aufgrund europapolitischer Erfordernisse eingesetzt wurden: Die Regierung Ciampi Anfang der 1990er Jahre, als es darum ging, dass Italien die Maastricht-Kriterien erfüllen musste, und eben 2011, als die politische Klasse sich nicht durchringen konnte, die einschneidenden Sozial- und Fiskalreformen durchzuführen, die wegen der Finanzkrise erforderlich schienen. Man kann leider nicht behaupten, dass die den Technokraten nachfolgenden Phasen eine Verbesserung der politischen Situation, eine Verbesserung der Politik und ihrer Akteure mit sich brachten. Eher ist das Gegenteil der Fall.

Zudem wünschen sich Bevölkerung wie Journalist:innen häufig eine kompetente, starke Persönlichkeit abseits der parteipolitischen Interessen, die endlich wieder Ordnung ins Land bringt. Die de facto Absetzung Berlusconis, die Montis Regierung voranging, wurde geradezu gefeiert. Allein, die Freude währt oft nur kurz. Früher oder später setzen parteipolitische Taktierereien ein, früher oder später wird es Wahlen und damit Wahlkampf geben müssen, die nicht gewonnen werden, wenn man gemeinsam mit dem politischen Gegner konsensual am Besten für das eigene Land arbeitet. Zumal, wenn das Beste nicht immer das Angenehmste ist. Die Regierung Monti mag das Notwendige, vielleicht auch das Richtige getan haben – am Ende sorgte sie mit für den Aufstieg der Fünf-Sterne und auch die Lega labte sich lange an dem Anti-Europäismus, der in den Monti-Jahren entstand.

Die Ehrungen, die Mario Draghi jetzt von allen Seiten zuteil werden, werden kaum länger anhalten als bis zu dem Punkt, an dem eine Partei die Chance erblickt, sich erfolgreich zu profilieren und bei den nächsten anstehenden Wahlen zu punkten – oder diese gar herbeizuführen. Im Grunde ist bei einer Experten-Regierung das Ende schon mitgedacht. Ein Ende, das im schlimmsten Fall ein Scheitern sein wird – nicht, weil Draghi die Umsetzung bestimmter Vorhaben nicht gelingen wird. Sondern weil die Parteien die Zeit nicht nutzen, zu mehr Profil, mehr Kompetenz und mehr Kompromissbereitschaft bei weniger Individualinteresse zu gelangen. Weil der politische Niedergang Italiens nur unterbrochen, nicht behoben wird.

Renzis unangemessener Machtpoker

Matteo Renzi läutet eine Regierungskrise ein, während das Land mit Pandemie und Wirtschaftskrise kämpft

Nun ist sie also da, die Regierungskrise. Conte II neigt sich seinem Ende zu. Dies hatte sich seit Wochen, wenn nicht Monaten immer wieder angedeutet. Die treibende Kraft dahinter war immer wieder und bis zuletzt Matteo Renzi, der frühere Premierminister und Vorsitzende der Splitterpartei Italia Viva.

Als ob es noch eines Beweises bedurfte, dass es Matteo Renzi bei Politik vor allem um ihn selbst geht, hat seine Partei durch die Enthaltung bei der Abstimmung zum italienischen Recovery Plan – dem Weg, wie Italien mit EU-Geldern aus der pandemiebedingten Krise kommen solle – sich enthalten und daraufhin den Rücktritt der Ministerinnen von Italia Viva angekündigt. In den vergangenen Wochen hatten Renzi und Iv immer wieder Verbesserungen am Recovery Plan eingefordert, wie das Geld auszugeben sei, wie die Strukturen hinter dem Programm aufgebaut werden sollten und ob nicht zusätzlich der EMS genutzt werden sollte, um das Gesundheitssystem zu stärken.

Alle diese Einwände, so der Tenor auch heute in Medien und Bevölkerung, waren wichtig und teils richtig. Gleichwohl scheint niemand ernsthaft zu glauben, Renzi ginge es um Inhalte. Kein Entgegenkommen genügte, am Ende schien Conte die Forderungen nicht mal mehr ganz ernst zu nehmen, da es stets so schien, als könne er sie ohnehin nicht in ausreichendem Maße erfüllen. Ex-Ministerpräsident Romano Prodi äußerte am Vorabend im italienischen Fernsehsender la7, Renzi sei es die ganze Zeit nicht ums verhandeln gegangen, sondern um den Bruch mit der Regierung.

Renzi selbst gibt sich gleichwohl staatstragend, will trotz dem Ausscheiden aus der Regierung alle notwendigen Maßnahmen und Gesetze zur Pandemiebekämpfung und ihrer Begleiterscheinungen mittragen. Das passt ihm gut, kann er dann doch den häufig vorgebrachten Einwand begegnen, ihm ginge es immer nur darum, seine Posten, le poltrone, zu behalten.

Doch seine Worte überzeugen nicht. Zu sehr erinnert er an sich selbst fünf Jahre zuvor, als er im Dezember 2016 seine Verfassungsreform dem italienischen Volk zur Abstimmung stellte. Sie sollte das Land modernisieren und aus der politischen Krise führen, eine historische Reform zum Wohle aller Italiener:innen. Doch schon damals erschien der gute Wille für das Volk nur Fassade, die inhaltliche Auseinandersetzung trat fast komplett hinter der personellen Zurschaustellung zurück: Es war Renzis Reform, seine historische Tat, und allein wegen des historischen Werts, sie überhaupt zustande gebracht zu haben, sollten die Wähler:innen ihr zustimmen. Allein, diese Logik der Personalisierung verfing nicht, höchstens mündete sie ins Gegenteil: Die Reform wurde abgelehnt, weil es Renzi war, der sie in Überschätzung seiner Kräfte durchgeboxt hatte, ohne auf breiteren politischen Rückhalt zu setzen.

Im vergangenen Jahr dann schmiedete Renzi mit seinen Kolleg:innen des PD eine Koalition mit den Fünf-Sternen, nur um kurz darauf sich abzuspalten und seine eigene Partei zu gründen, die sich fortan wie die erste Oppositionspartei, insbesondere gegenüber den Fünf-Sternen verhielt. Italia viva ist die jüngste unter unzähligen Ein-Mann-Parteien, die das Parteiensystem Italiens in den letzten Jahrzehnten hervorgebracht hat, und von denen keine jemals besondere Bedeutung erlangt hätte. Auch Iv erhält in Umfragen kaum mehr als 2 Prozent. Doch Wähler:innen hinter sich zu versammeln ist auch gar nicht das Ziel dieser Parteien. Sie müssen nur ausreichen, um ins Parlament einzuziehen. Und dort spielt man dann das Zünglein an der Waage, dessen Stimmen für die heterogenen, instabilen Koalitionen dringend nötigen sind. Das verschafft Macht, die sich nicht im Wählerzuspruch widerspiegelt. Doch warum sollte sie auch – was sie schafft, sind Aufmerksamkeit, Fernsehauftritte und vor allem – poltrone.

So gesehen ist Renzis Vorstoß nichts Außergewöhnliches in Italiens Regierungsgeschichte. Er, der die alte politische Klasse „verschrotten“ wollte, reiht sich ein in die unselige Tradition derjenigen, die Regierungskrisen wegen persönlicher politischer Vorteile auslösen. Was Renzis Vorteil ist? In der derzeitigen Konstellation war sein Gestaltungsspielraum begrenzt. Eine wahrscheinliche „technische“ Regierung wird ebenso auf die Stimmen von Italia Viva in den Parlamentskammern setzen müssen – aber vielleicht sind ein paar unliebsame Gegner weniger am Kabinettstisch, das Kräfteverhältnis wird sich eher nicht zugunsten der Fünf-Sterne entwickeln und überhaupt: Bei einer neuen Regierungsbildung können die Bedingungen neu verhandelt werden und damit günstiger für Renzi ausfallen.

So unangemessen eine solche Taktik schon zu normalen Zeiten ist, weil sie nicht im Ansatz der Verantwortung des Regierens gerecht wird und die in Italien besonders ausgeprägte Politikverdrossenheit nur weiter nährt, so wirkt sie inmitten der Pandemie, die Italien besonders heftig getroffen hat, noch viel deplazierter. Es ist kaum zu erwarten, dass Renzis Vorgehen ihm Zustimmung in der Bevölkerung bringen wird. Es ist leider auch nicht zu erwarten, dass die nächste Regierung viel besser sein wird als die alte. Oder das sie wesentlich länger halten wird. Aber solche Ziele hat Renzi ja gar nicht. Ihm geht es vor allem um eins: Renzi.

Contes später Befreiungsschlag

Italiens Ministerpräsident Conte nutzt die Freiheit, die ihm sein Rücktritt verschafft, um Matteo Salvini harsch zu kritisieren. Zu Recht. Doch die Abwertung parlamentarischer und konstitutioneller Werte und Strukturen hat nicht allein Salvini zu verantworten.

Giuseppe Conte hatte in Jean-Claude Juncker sicher oft einen einfacheren Gesprächspartner als mit dem Kabinettskollegen Matteo Salvini. Foto: European Union, 2018

Es scheint, als habe Giuseppe Conte in seiner Rede im italienischen Senat endlich die Worte gefunden, auf die viele Italiener*innen und viele ausländische Beobachter schon lange gewartet haben: Klare, eindeutige Worte, mit denen er die Umgangsformen, den Verhandlungsstil, die demokratiezersetzende Rhetorik von Innenminister Matteo Salvini scharf kritisierte. Dabei ließ sich Conte nie auf das Niveau seines politischen Kontrahenten hinab, der eigentlich sein Regierungspartner sein sollte. Conte selbst war häufig genug den herablassenden Attacken des Lega-Chefs Salvinis ausgesetzt gewesen, der nicht nur ständig im Wahlkampfmodus war, sondern auch für einen Wahlkämpfer oft genug Takt und Anstand vermissen ließ.

Wie schwer auszuhalten es gewesen sein muss, die taktischen Spielchen, die unehrliche, auf größtmögliche Wählerunterstützung ausgerichte Kommunikation Salvinis in der Regierungsarbeit auszuhalten, davon konnte man in Contes Rede einen deutlichen Eindruck gewinnen.

Conte zahlte es Salvini nun, da er als Ministerpräsident so gut wie Geschichte ist, zurück, indem er – endlich! – aufzeigte, wie wenig Salvinis Gebaren mit verantwortungsvoller Regierung vereinbar ist. Indem Salvini Ministerkolleg*innen öffentlicher heruntermachte; indem er sich in deren Ressorts einmischte; selten die offiziellen und internen Wege nutzte, sondern stets über die socials und Kameras kommunizierte; indem er ganz offensichtlich den Zeitpunkt für die Auflösung der Zusammenarbeit nach wahltaktischen Gesichtspunkten wählte – all das schadete dem Ansehen der demokratischen Institutionen, wie Conte betonte. Salvini macht Politik, die sich einzig und allein nach seinen persönlichen Interessen (Macht!) und nach der Stimmung der Umfragen orientiert. Auf kurz oder lang zerstört so eine Haltung das, was vom Vertrauen in die Institutionen in Italien noch übrig ist. Denn noch mag eine Vielzahl der Italiener*innen Salvini folgen, doch wenn die Zuneigung einmal erlischt – wie es etwa Matteo Renzi erleben musste – werden sie sofort und desillusioniert erkennen, dass er wenig für das Land, aber viel für seine Person getan hat.

Conte kritisierte in seiner Rede auch endlich, dass Salvini stets ablehnte, sich vor dem Senat zu den Vorwürfen aus der Russland-Affäre zu äußern. Diese Verweigerungshaltung zeige seinen fehlenden Respekt vor den Institutionen und seine mangelnde Verfassungskultur. Viel härter kann man einen Minister nicht kritisieren, und dabei dennoch die Form wahren. Und es ist richtig, in allen Belangen: Salvini schadet Italiens Demokratie, er schadet dem Ansehen der Institutionen und Ämter, weil er, selbst in einem hohen Amt, jegliche Demut und jeglichen Respekt vor Verfahren, Pflichten und Gepflogenheiten vermissen lässt. Natürlich, die Menschen lieben ihn dafür. Doch was im Hintergrund dieses offen zur Schau gestellten me ne frega, „ist mir egal“ zerrieben wird, sind die Grundwerte einer liberalen Demokratie: Volkssouveränität ja, aber eben auch ein Garantiesystem aus Verfahren und institutioneller Verantwortlichkeit, gegenüber den anderen Institutionen und gegenüber der Bevölkerung. Sie sorgen dafür, dass eine temporäre Mehrheit nicht allmächtig wird und dass die Vorhaben dieser Mehrheit kritisiert, hinterfragt, kontrolliert werden können. Diese grundlegenden Verfassungswerte brachte Giuseppe Conte gegen Salvinis von der piazza gestützten Souveränismus an.

Das war überfällig. Bis dahin hatten sich niemand in der Regierung, auch der Koalitionspartner Fünf Sterne nie in dieser Deutlichkeit gegen Salvinis neo-faschistisches, souveränistisches Gebaren gewandt. Vielleicht intern, jedoch nicht in der Form, der es bedurft hätte, nach außen. Aus Eigeninteresse, Angst vor Machtverlust, hoffentlich nicht aus fehlender Überzeugung haben sie die Grundwerte der parlamentarischen Demokratie Italiens nie verteidigt gegen Salvinis „Ich und das Volk“, das er direkt auf der Straße oder vermittelt über Social Media vor sich her trägt. Und noch etwas wichtiges hat Conte kritisiert: Salvinis Verwendung religiöser Symbole. Dass Salvini missbräuchliche, weil von religiösen Inhalten vollständig entleerte Verwendung christlicher Symbole wie den Rosenkranz und das Kruzifix beleidige die Gläubigen und gefährde zugleich die staatliche Laizität, so Ministerpräsident Conte in seiner Rede. Auch das war eine in ihrer Klarheit wichtige Kritik, den Italiens Verfassung garantiert nicht nur die Religionsfreiheit, ihr steht es auch unter dem Gesichtspunkt der Internationalität und der Laizität diametral entgegen, religiöse Symbole in eins zu setzen mit nationaler Symbolik und der Narration eines „Wir gegen Die“. Wobei das „Die“ den Papst mit einschließt.

Verantwortung im Amt, instiutionelles Gleichgewicht, Laizität, Achtung des Parlaments und Austragung politischer Konflikte in eben diesem Parlament – all diese Aspekte der konstitutionellen Demokratie Italiens sind in den letzten Monaten geschwächt worden, und Giuseppe Conte hat in Matteo Salvini sicherlich den richtigen Adressaten für seine Kritik gefunden. Und dennoch: Die gesamte Regierung hat es an ehrlicher Auseinandersetzung im Parlament – statt auf facebook und twitter – vermissen lassen. Das Misstrauen war gegenseitig, die Misstöne auch. Wenn jetzt Conte dem Innenminister vorwirft, verantwortungslos zu sein, weil sich die Regierungskrise mit den Haushaltsverhandlungen überschneidet, so reibt man sich verwundert die Augen: Die gesamte Regierung hatte in ihrer 14-monatigen Amtszeit wenig darauf gegeben, verantwortungsvolle Haushaltsdebatten zu führen. Nun sagt Conte, es sei nicht zu verantworten, dass Italien ohne mit der EU abgestimmten Haushalt dastünde, gezwungen wäre, die Mehrwertsteuer zu erhöhen und zugleich einen Anstieg des spread in Kauf nehmen müsse. Doch all das, was die Regierung in ihrer Amtszeit abgeliefert hat, all die schädlichen Äußerungen auch von Luigi Di Maio und Kollegen, haben fast zu einem Defizitverfahren der EU und sicher zu manchem Sprung des spread, des Zinsaufschlags, geführt. Monatelang haben externe Kritiker der Regierung in Sachen Wirtschafts- und Finanzpolitik genau dies vorgeworfen: Verantwortungslosigkeit. Auch wenn Conte und Finanzminister Tria diejenigen waren, die hier versucht haben, gegenzusteuern: Dass Salvini dieser Regierung nun ein Ende setzt, kann unter finanzpolitischen Gesichtspunkten fast mit Erleichterung aufgefasst werden.

Salvinis Demokratieverständnis, oder besser: seine demokratische performance, sind eine Gefahr für die liberale Demokratie und deshalb war es imminent wichtig, dass Ministerpräsident Conte endlich laut ausgesprochen hat, was ihm offenbar schon seit Monaten auf der Seele lag. Doch Conte selbst scheidet demnächst aus. Ob er eine mögliche neue Regierung führen wird, ist mehr als fraglich. Wer folgt ihm nach, der oder die in ebensolcher Klarheit Salvini die Stirn bieten kann? Die Fünf Sterne haben sich das nie wirklich getraut. Sie haben selbst in den vergangenen Jahren eine eher konfuse Vorstellung von den demokratischen Werten der Verfassung repräsentiert. Etwa indem sie Personalentscheidungen via Rousseau abstimmen lassen, einer elektronischen Plattform, auf der nur wenige, zahlende Mitglieder abstimmen können. Oder als sie in einer Protestaktion die Verfassung auf ihre Plätze im Parlament legten und den Saal verließen, als die Regierung Letta vereidigt werden sollte: Die Fünf Sterne fanden, nach Matteo Renzis Rücktritt hätte es Neuwahlen geben müssen – etwas, das die parlamentarisch geprägte Verfassung Italien genau nicht vorsieht. Ebenso wie in der jetzigen Situation. Die Werte der Verfassung macht sich in Italien zur Zeit leider nur der zu eigen, der davon profitiert.

Und die Demokraten? Der PD präsentierte sich bis vor wenigen Tagen erneut mit Flügelkämpfen und Taktikspielchen. Es wäre zu wünschen, dass die Demokraten als einzig verbliebene moderate Kraft mit klaren Worten und der Inbrunst der Überzeugung für das parlamentarische System Italiens einträten, für den Wert von Verhandlungen und Kompromissen in einem schon immer politische gespaltenen Italien. Doch es bleibt abzuwarten, ob der PD die innere Spaltung und die inneren Machtkämpfe überwinden kann. Welches Ergebnis Koalitionsverhandlungen oder Neuwahlen auch immer bringen mögen, es ist noch lange nicht gesagt, dass sich Italiens Demokratie konsolidiert, selbst wenn Salvini und seine Lega nicht an einer Regierung beteiligt sein sollten.

Von No TAV zu No M5S

Die Fünf Sterne Bewegung wandert von Misserfolg zu Misserfolg und verliert weiterhin an Wählerzuspruch. Das hat mehrere Gründe.

Die italienischen Zeitungen werden derzeit nicht müde zu betonen, dass die Brüche in der grün-gelben Koalition in Rom inzwischen unübersehbar und unüberbrückbar sind. Wie lange hält die Zweckehe aus Lega und Fünf Sterne Bewegung noch?

Die Europawahl Ende Mai ist der Stichtag, an dem alle erwarten, dass sie auseinander gehen. Denn dann wird offensichtlich werden, was schon heute deutlich zu spüren ist und von Kommunalwahlergebnissen bestätigt wird: Den Fünf Sternen bricht der Boden unter den Füßen weg. Die großen Wahlsieger des Jahres 2018, als sie stärkste Kraft wurden, sind nurmehr ein nervöser Haufen, der händeringend versucht, sich zu profilieren und die eigene Agenda durchzusetzen.

Giuseppe Conte und die Fünf Sterne müssen sich ganz schön strecken, um an der Regierung zu bleiben. Foto: EU 2019, Etienne Ansotte.

Allein, die Bedingungen sind schlecht: Während die Lega, angeführt von Salvini, es zumindest schafft, die Umsetzung der eigenen Vorhaben erfolgreich zu propagieren, fehlt es bei den Cinque Stelle praktisch an allem: Expertise und Erfahrung – von Geld ganz zu schweigen – um Herzensprojekte wie das Grundeinkommen auch in der Praxis erfolgreich umzusetzen; Durchsetzungsvermögen, um dem prepotent auftretenden Innenminister Salvini effektiv die Stirn zu bieten, wo sich die Regierung uneins ist; die effektive Macht, um Projekte wie die Hochgeschwindigkeitsverbindung Turin-Lyon tatsächlich zu stoppen.

Dieses Projekt, die so genannte TAV, zeigt das Dilemma der Fünf Sterne Bewegung in besonderem Maße: Seit Jahren wird gegen dieses Infrastrukturprojekt von zweifelhaftem Mehrwert in Sachen internationale Anbindung und Kosten-Nutzen-Rechnung protestiert, M5S hatte sich zum politischen Arm der Protestierer gemacht. Ähnlich wie die Grünen in Baden-Württemberg mit Stuttgart 21 sind sie es nun, die das Projekt dennoch umsetzen müssen. Denn die Ausschreibungen für die Arbeiten sind veröffentlicht, daran konnte die Regierung nichts tun. Doch statt diese missliche Situation offensiv anzugehen, wenn der Bau schon unvermeidlich ist, ließen sich die Fünf Sterne auf einen aussichtslosen Verhinderungskampf ein.

Screenshot der Webseite der No Tav Bewegung mit einem Bild von Protesten in Rom gegen die Hochgeschwindigkeitsstrecke durch die Alpen.
Proteste gegen den Hochgeschwindigkeitszug. Die Webseite der No TAV-Bewegung am 26.03.2019 (screenshot).

Sie versprachen ihren Anhängern, die Ausschreibung doch noch verhindern zu können. Was sie nicht konnten – und das hätten sie wissen können. Zudem verkündete der Koalitions“partner“ Lega parallel, dass das Projekt auf jeden Fall kommt. Verlässlichkeit in europäischen Großprojekten, Modernisierung, Investitionen in Infrastruktur und Zukunft – die Lega profilierte sich als Gestalter, die Fünf Sterne als (hilflose) Verhinderer.

Dabei darf man durchaus berechtigte Zweifel daran haben, ob ein Tunnel dieser Dimension durch das Susatal in den Westalpen tatsächlich sinnhaftig ist. Und auch daran, welche unglaublichen Effekte diese Verbindung auf den europäischen Güterverkehr angeblich haben soll. Erwartbar ist, dass die Verbindung von Italiens Nordosten nach Frankreich besser wird. Mehr aber auch nicht (vgl. Einschätzungen eines deutschsprachigen No-TAV-Blogs).

Doch darüber spricht niemand mehr, was zählt, ist – und da liefern sich Lega und der Partito Democratico ein Wettrennen – die Fünf Sterne als naive, unerfahrene und unfähige Modernisierungsgegner dastehen zu lassen, die das Land nur weiter hinter den anderen europäischen Staaten zurückbleiben lassen. Das Unschöne für die Fünf Sterne daran ist: Es ist etwas dran. Cinque Stelle war angetreten, um Zukunftsthemen zu besetzen und sie mit bewahrenden Zielen zu verknüpfen. Umweltschutz, Wasser als öffentliches Gut, Fortschritt, Netzinfrastruktur und ein wenig über allem: Transparenz, Kampf gegen Korruption und Vetternwirtschaft.

Davon ist wenig geblieben. Es sind noch immer wichtige Themen. Doch Naivität, Unerfahrenheit, Opportunismus gegenüber der Wählerschaft sowie ein ausgeprägtes Misstrauen gegenüber Expertentum und Wissenschaft haben die Fünf Sterne in die derzeitig Situation geführt. Und auch, dass im Europa 2018/2019 Nationalismus, Rassismus und starker-Mann-Gehabe wieder „Konzepte“ sind, mit denen sich die Wählergunst am besten einfangen lässt.