Die Rückkehr der Politik

Die Parteichefs nehmen wieder das Heft des Handelns in die Hand und jagen die „Experten“ vom Hof. Das lässt leider nichts Gutes erwarten, wie die letzten Tage eindrücklich gezeigt haben.

Titelbild der Frankfurter Rundschau mit Mario Draghi am Tag seines Rücktritts
Titelseite der Frankfurter Rundschau am Tag nach Draghis Rücktritt.

Man kann der Ansicht sein, die Regierung in einer Demokratie sollte aus dem Wahlergebnis hervorgehen und wenn nicht direkt legitimiert, so doch zumindest nah am Wähler:innenvotum ausgerichtet sein. Man kann der Ansicht sein, dass nach mehreren Regierungswechseln, die jeweils eine sehr unterschiedliche politische Ausrichtung brachten, und einigen Häutungen und Abspaltungen innerhalb der Parteien und Fraktionen es nun Zeit ist, die Zusammensetzung der Parlamente noch einmal durch die Wähler:innen prüfen zu lassen. Man kann der Ansicht sein, dass eine Vielparteienregierung, in der die Fliehkräfte dominieren und in der es an zu vielen Stellen sehr großen Aufwands bedarf, alles zusammenzuhalten, dass diese Regierung einen Schlussstrich zieht. Man kann also durchaus finden, dass es gute Gründe dafür gibt, dass Mario Draghi sein Amt als Ministerpräsident aufgibt und Italien am 25. September ein neues Parlament wählt – und eine neue Regierung bekommt.

Gründe, die einen zu der gegenteiligen Meinung kommen lassen, wurden in den letzten Tagen ebenfalls einige genannt: die Vielzahl der Krisen, die es akut und gleichzeitig zu bewältigen gilt, der enge Zeitplan des Wiederaufbaufonds, dessen Einhaltung Bedinung für die nächsten Überweiseung aus Brüssel ist, das hohen Ansehe, das Italien dank Draghi international endlich wieder gewonnen hat, die nun drohende Wiederkehr der Eurokrise und schließlich die Sorge, das die Postfaschist:innen die nächste Wahl gewinnen können. Das alles sind vernünftige und richtige Argumente, dennoch liegt das Deprimierendste und Beängstigendste an diesem Regierungsende meines Erachtens woanders. Das Spektakel, was das politische Italien von vorvorigem Donnerstag bis letzten Mittwoch bot, macht fassungslos aus einem Grund, den etwa die ehemaligen Ministerin Elsa Fornero in der Sendung metropolis unterstrich: Die Motivation, die hinter dem Agieren von M5S, Lega und Forza Italia lag, die Ziele, die sie mit ihrem Handeln verbanden, waren so klein und so kurzsichtig und sie standen in keinem Verhältnis zum Ausmaß des Schadens, den sie verursachten.

Giuseppe Conte und die, die ihm an Mitstreiter:innen geblieben sind, sahen ihre Felle davonschwimmen und in ihrer Verzweiflung eskalierten sie inhaltliche Unstimmigkeiten, bis sie nicht mehr einzufangen waren. Nun beschweren sie sich, dass sie niemals die Regierung haben stürzen wollen und warum denn nun ihnen alle die Schuld in die Schuhe schöben. Aber wenn sie auf dem Weg der Eskalation nicht gemerkt haben, mit wem sie es in Mario Draghi zu tun haben – jemandem, der taktische Spielchen ebenso verachtet wie mangelhaftes Arbeiten und fest zu seinen Grundsätzen steht – und wer ihre Koalitionspartner in dieser Regierung der nationalen „Einheit“ sind – u.a. die Lega Salvinis, der wie ein Raubtier die schwachen Momente der politischen Gegner ausnutzt – dann haben sie kein diplomatisches Gespür und offensichtlich keine Fähigkeit zur erfolgreichen Verhandlung. Oder sie haben es durchaus mitbekommen, und sind sehenden Auges in das grand finale gelaufen, weil ihnen das eigene politische Überleben wichtiger war als das Wohl des Landes. Dann sind aber auch ihre Beschwerden und Rechtfertigungen nur Heuchelei und Lüge. In beiden Fällen disqualifizieren sie sich als politische Führungskraft.

Matteo Salvini sah die Gunst der Stunde, den König zu ermorden ohne Königsmörder zu sein. Im Grunde befand er sich in einer ähnlich verzweifelten Lage wie Conte, nur nicht ganz so akut. Aber sein Führungsanspruch innerhalb des Mitte-Rechts-Lagers steht seit längerem auf tönernen Füßen, haben Fratelli d’Italia die Lega doch sogar in ihren Kerngebieten in Sachen Wählerstimmen überholt. Entsprechend wackelt auch seine Position als Parteichef, zumal die Kritik an seinem souveränistisch-nationalen Kurs vom traditionellen Parteiflügel während der Draghi-Regierung immer lauter wurde. Flucht nach vorn und Angriff sind Salivinis Spezialitäten, wen kümmert es da, das ohnehin in neun Monaten gewählt worden wäre und auch jetzt Giorgia Meloni in den Umfragen weit vor der Lega liegt? Hauptsache, jetzt schon nicht mehr staatstragend sein müssen – was Minister Giorgetti sowieso viel besser kann und damit ungeheuer nervte – sondern lieber wieder direkt in den Wahlkampf, wieder Lautsprecher sein, wieder die Häfen schließen wollen und gegen Migranten hetzen. Weder Salvini noch Conte profitieren wirklich von der jetzigen Wahl im Vergleich zu der regulären im Frühjahr 2023. Es gibt keine Übergangszeit für sie in der Opposition, in der sie sich inhaltlich hätten konsolidieren können. Der einzige Vorteil: Sie können jetzt sofort sloganhaft unrealistische Positionen vertreten und die anderen des Versagens beschuldigen, ohne dass sie jemand zur Räson ruft – die mäßigende Wirkung der Regierung und Person Draghi ist ja passé.

Somit bleiben als Motivation a) die eigene Führungsposition in der Partei absichern und b) eventuell, aber nicht sicher, ein paar Prozentpunkte gut machen bis zur Wahl.

Das ist nicht viel.

Und über Silvio Berlusconis Forza Italia haben wir noch gar nicht gesprochen. Es hagelt Austritte, alle drei Minister:innen kehren der altehrwürdigsten unter den populistischen Parteien den Rücken. Viel ändern wird es nicht. Die zehn Prozent Wählerstimmenanteil, die Forza Italia laut Umfragen auf sich vereint, verdanken sie nach wie vor der Person Berlusconi – nicht, weil diese unbelehrbaren Italiener:innen immer noch an die Versprechungen dieses Schönfärbers glauben. Sondern weil Berlusconi, so altersenil er langsam werden mag, noch immer ausreichend Einfluss hat und noch immer genug Fäden zusammenhält, um eben diesen Stimmenanteil zu bekommen. Insofern werden die ausgetretenen Spitzenpolitiker:innen entweder einer bestehenen nennenswerten Partei beitreten müssen, oder in der Versenkung verschwinden. Denn in der Mitte neben Berlusconi ist kein Platz, seit Jahrzehnten nicht.

Berlusconis Motiv? Schwierig. Die Überraschung ist groß, bei vielen auch die Enttäuschung. Da er kurz nach Draghis Rücktritt ankündigte, selbst wieder für den Senat kandidieren zu wollen, wird spekuliert, er wollte endlich seine Rückkehr in ein politisches Amt verwirklichen. Und eine kleine Revanche dafür, dass ihn die Regierungsmehrheit nicht ins Amt des Staatsoberhauptes hieven wollte? Im besten Fall war es Bündnistreue: Entweder jetzt an der Seite von Salvini und Meloni für sofortige Neuwahlen oder das Mitte-Rechts-Bündnis ist tot. Das war es in den vergangenen Monaten zwar schon öfter, aber Totgesagte leben länger.

Kurzsichtige Motive, kleinliche, selbstgefällige Motive. Sie lassen ahnen, wie diese Personen ihre Regierungsverantwortung wahrnehmen würden: nur ausgerichtet auf den kurzfristigen, persönlichen Gewinn, nicht auf das große Ganze oder gar auf den Erfolg in der Sache – durch Sachpolitik. Dies hebelt die eingangs genannten Argumente, warum nun passiert, was passiert nicht aus. Aber es macht den Abgang Draghis umso bitterer und die den Blick in Italiens Zukunft umso düsterer.

PS:

Früher war nicht alles besser, aber fast schon könnte man nostalgisch werden, wurden doch zu Berlusconis besten Zeiten Gesetze wenigstens geschrieben, um ihn persönlich vor einer Verurteilung zu schützen. Oder wenn die Justiz zu reformieren versucht wurde, damit sie die Korruption nicht aufdeckt. Oder wenn politische Intrigen geschmiedet wurden, weil man die Beteiligung der Linken an der Regierung verhindern wollte oder einen Staatsstreich vorbereiten. Einen Staatsstreich! Die Geschichte der italienischen Politik ist voll von unlauteren Absichten, die fragwürdiges Handeln, das Scheitern von Regierungen motivierten. Ein paar Wählerstimmen sind demgegenüber in jeder Hinsicht niederschmetternd.

Nach den Kommunalwahlen in Italien

Ein paar grundlegende Überlegungen zum derzeitigen Zustand der italienischen Politik

Im Januar diesen Jahres stand Italien politisch mal wieder fast vor dem Abgrund. Die lange Zeit erfolglose Suche nach einem neuen Staatsoberhaupt mündete dann allerdings in größtmögliche Stabilität: Sergio Mattarella machte weiter, und auf dieser Grundlage auch Minsterratspräsident Mario Draghi. Das erleichterte die europäischen Beobachter:innen und seither ist es erwartbar ruhig geblieben. Mario Draghi tritt auch in der größten außenpolitischen Krise seit Jahrzehnten, dem Krieg Russlands gegen die Ukraine, äußerst souverän auf und macht auf internationalem Parkett gar eine bessere Figur als etwa der deutsche Kanzler. Das Irrlichtern überlässt er wie so oft den Parteichefs, die seine Regierung unterstützen. Ab und an flackert mal ein wenig Besorgnis auf, weil der spread wieder steigt und die Eurokrise zurückkommen könnte oder weil es mit der Umsetzung des PNRR, dem EU-finanzierten Wiederaufbauplan, stärker hapert als gedacht.

Das politische Armutszeugnis, das Italien Anfang diesen Jahres ablegte, als sämtliche Parteiführungen Führungsstärke, Verhandlungsgeschick und Kompromissbereitschaft vermissen ließen, scheint fast schon wieder vergessen und hallt wider in Meldungen, die aus dem Kuriositätenkabinett zu entstammen scheinen: ein Friedensplan für die Ukraine aus dem Außenministerum, der mit niemandem abgestimmt war und der die Adressat:innen offensichtlich nicht mal erreichte, eine geplante Moskaureise von Lega-Chef Salvini, die dann doch nicht stattfand – und auf noch niedrigerem Niveau sich in Fernsehsendungen wegen Russland prügelnde Gäste (darunter der schillernde Vittorio Sgarbi, dessen Überdauern in der politischen Arena man nur mit Verwunderung zur Kenntnis nehmen kann). Das alles wird überdeckt und überstrahlt von Draghis professionellen, sachlichen Agieren. So weit, so gut?

Nun waren am vergangenen Wochenende Kommunalwahlen in Italien. Nicht die ganz großen Städte und Kommunen, die waren schon früher dran. Aber doch einige Überraschungen: Leoluca Orlando in Palermo abgewählt. Mitte-Rechts erobert mehr Städte als Mitte-Links, die liegt aber in Verona – traditionell konservativ – vorne. Weniger überraschend: Verhaftungen palermitanischer Kandidat:innen wegen Mafia-Verbindungen. Fünf-Sterne mit desolaten Ergebnissen. Giorga Meloni überholt Matteo Salvini, sogar in den Stammregionen der Lega.

Dies alles ließe sich jetzt im Einzelnen analysieren, die Gründe für den Zerfall der Fünf-Sterne, der sich nun schon über Monate hinstreckt, für den Aufstieg Melonis und den Absturz von Salvinis Lega. Und wem die Beteiligung an Draghis Regierung mehr schadet, wem sie mehr nützt. Allein, die Aussagekraft wäre begrenzt, denn es sind alles nur Momentaufnahmen. Was in Italiens Politik fehlt, ist Kontinuität, Stabilität und eine Perspektive über wenige Monate und Jahre hinaus1. Und diese Feststellung schließt auch den derzeitigen Ministerratspräsidenten ein.

Wohin man auch schaut, es sind fast überall Einzelpersonen, die in Italien Hoffnung wecken, Höhenflüge durchleben, Parteien vor dem Untergang retten oder in ebendiesen hinunter ziehen. Matteo Salvini rettete durch eine strickte Fokussierung auf seine Person (und einen nationalistischen Kurs) die Lega aus dem Wahlergebnissetief – nur um wenige Jahre später aufgrund seines verlorengegangenen Instinkts für die richtigen Parolen sie genau dort wiederhinzuführen. Noch vor wenigen Jahren war Salvini der Schrecken aller proeuropäischen Geister, heute empfindet man fast Mitleid angesichts der Aneinanderreihung von unglücklichen Entscheidungen. Giuseppe Conte wurde inmitten der turbulenten und schwierigen Regierungsverantwortung der Fünf-Sterne zum Hoffnungsträger, mit dem die realpolitischen Verwerfungen der einst so idealistischen Bewegung doch noch überstanden werden sollten – wo doch schon der vormalige Gottvater dieses Sammelbeckens aus Protestler:innen, Beppe Grillo, kein zuverlässiger Fixpunkt mehr zu sein schien. Nun, Conte wurde Präsident, eine eigens für ihn geschaffene Position – mit geringem Erfolg. Die endgültige Vaporisierung des Movimento 5 Stelle scheint nur noch eine Frage der Zeit.

Warum sollte es also bei Giorgia Meloni, der neue Fixstern der italienischen Rechten, anders verlaufen? Derzeit hat sie den Vorteil, als einzige wirkliche Oppositionspartei kohärent agieren zu können und die einzige Alternative zur Regierung zu bilden. Sollten ihre Fratelli d’Italia tatsächlich bei den nationalen Wahlen im nächsten Frühjahr stärkste Kraft werden, hätten sie damit Anspruch, ihrerseits die Regierung anzuführen. Und dann? Auch Giorgia Meloni wäre auf eine Koalitionsregierung angewiesen. Es ist kaum zu erwarten, dass das Mitte-Rechts-Lager, das seit der Staatspräsidentenwahl im Januar schwer zerrüttet ist, bis dahin wesentlich harmonischer agiert. Der Zwang zur Profilierung würde bleiben, erst recht, wenn gegebenenfalls weitere Partner ins Boot geholt werden müssten. Und dann hätte auch Meloni damit zu kämpfen, was in den vergangenen Jahrzehnten fast alle italienischen Politiker:innen das Leben schwer machte: Die Fokussierung auf eine Person, die eine Richtung vorgibt und kompromisslos und authentisch den wahren Wählerwillen verkörpert – denn nichts anderes haben Berlusconi, Renzi, Salvini, Grillo usw. stets versprochen – steht im eklatanten Widerspruch zu den massiven Fliehkräften und Flügelkämpfen innerhalb einer jeden Regierung und in fast jeder Partei. Rasche Enttäuschung und Abwendung der Wähler:innen scheint da vorprogrammiert.

Was hat nun Mario Draghi damit zu tun? Augenscheinlich nicht viel. Ihm gelingt es derzeit, die Fliehkräfte weitgehend zu neutralisieren, dem Profilierungsgebaren immer wieder Einhalt zu gebieten, wenn es darauf ankommt. Er zieht durch. Aber: Entscheidend ist nicht sein persönlicher Erfolg. Dieser garantiert für einen kurzen Zeitraum eine rationale Politik, aber daraus entwickelt sich keine Perspektive für die Zeit nach Februar 2023. Draghi steht dann nicht zur Wahl, er ist im engen demokratischen Sinn der Wählerschaft nicht rechenschaftspflichtig. Die Wahlberechtigten können seinen Politikstil oder seine inhaltliche Linie nicht per Wahl befürworten und andere Positionen abstrafen. Denn die Linie Draghi ist nicht notwendigerweise deckungsgleich mit der Linie jener Parteien und Minister, die seine Politik stützen und mittels Beschlüssen und Gesetzen tragen. Sie tragen sie mit aus Notwendigkeit, nicht zwingend aus Überzeugung. Sie sind allerdings diejenigen, die 2023 wieder zur Wahl stehen. Somit verstärkt sich aber der Eindruck, an der Spitze der Politik müsse jemand stehen, der gegen Parteien und Fraktionen die Geschicke des Landes führt und konsequent seine eigenen Vorstellungen umsetzt. Auch Draghi wurde als Heilsbringer gefeiert und willkommen geheißen. Anders als bei vielen anderen blieb zwar die Enttäuschung aus, das Enddatum seiner Regierungszeit ist gleichwohl gesetzt. Gesucht wird also jemand, der es ihm gleichtun kann. Einer oder eine, die weise und im Interesse des Volkes handelt und die Egoismen der Partitokrat:innen ausschaltet. Die Versprechungen, die man sich in dieser Hinsicht von Populistinnen und von Technokraten macht, unterscheiden sich kaum.

Auch in einer anderen Hinsicht unterscheiden sich populistische und technokratische Politik nur in ihrer Richtung, nicht in ihrer Art: Die einen vertreten den Anspruch, als einzige den wahren demokratischen Willen zu vertreten, in ihrer jeweiligen Führungsfigur den Volkswillen zu verkörpern – und daher als einzige die „richtige“ Politik im Programm zu haben. Die anderen hingegen meinen, als einzige vernünftige Politik zu machen, den ökonomischen, finanz- und außenpolitischen Erfordernissen gerecht zu werden und daher – wegen ihrer Rationalität und ihres Fachwissens – die einzig „richtige“ Politik zu machen. Was dabei auf der Strecke bleibt, ist offensichtlich: Thematische Schwerpunkte zu setzen, zu sagen, welche Politikfelder besonders wichtig sind und wie sie geregelt werden sollen – und diese politischen Vorstellungen dann in den Wettbewerb mit anderen zu stellen und am Ende – oha! – mit diesen Wettbewerbern um Kompromisse zu ringen.

Davon ist Italien weit entfernt. Die kurze Ära Draghi wird daran bis Februar nächsten Jahres nichts Substanzielles geändert haben. Vielleicht ist bis dahin die ein oder andere Reform erfolgreich umgesetzt, vielleicht bleibt vieles Stückwerk und versandet. Für diese kurze Zeit waren und sind immerhin die europäischen Partner beruhigt und können sich anderen Schauplätzen und Sorgenkindern widmen. Vielleicht schlägt Draghi auf europäischer Ebene mit Macron noch ein paar Pflöcke ein, ehe Italien wieder als wenig ernstzunehmender Partner agiert. Wer bis dahin wie in den Umfragen liegt oder in der Stichwahl in einer Woche noch die ein oder andere Kommune erorbert, ist dabei weitgehend irrelevant.

1 Abgesehen von jener individuellen, mit der es einigen Personen immer wieder gelingt, hinter und unter allen Umbrüchen im Parlament zu bleiben.

Wer wird Italiens neuer Staatspräsident? (3)

Gerade geht nichts mehr. Die Kandidatensuche für Italiens Präsidenten erreicht – vorerst – einen toten Punkt

Plakat: Cercasi candidato/candidata per la carica del presidente della repubblica italiana

Das Mitte-Rechts-Lager hat Silvio Berlusconi ausgewählt, der nun eifrig Stimmen aus dem anderen Lager zu finden sucht. Doch glücklich ist mit dieser Kandidatur eigentlich niemand. Berlusconi ist wohl der am wenigsten wählbare Kandidat für weite Teile der Wahlversammlung. Sollte er scheitern, scheitern allerdings auch Matteo Salvini und Giorgia Meloni und disqualifizeren sich damit als zukünftiges politisches Führungspersonal, das spätestens mit den nächsten Wahlen im Frühjahr 2023 gebraucht wird.

Wenn Berlusconi aber gewählt würde, stünde Italien – mal wieder – in einem sehr schlechten Licht, ein failed state unter moralisch-kulturellen und politischen Gesichtspunkten. Gerade aktuell laufen wieder Prozesse wegen Falschaussagen derjenigen, die rings um Berlusconis Bunga-Bunga-Partys die jungen Frauen organisiert haben. Lange her, so scheint es, doch plötzlich wieder sehr präsent.

Der also nicht, lui no, aber wer dann? Im Augenblick kann sich niemand richtig aus der Deckung wagen, jeder neue Name wäre potenziell sofort verbrannt. Also halten sich alle bedeckt, das einzige, was zu sehen ist, ist Matteo Salvini, der sich vorsichtig aus der möglicherweise tödlichen Umarmung mit Berlusconi zu befreien versucht.

Mario Draghi derweil ist zum Nichtstun verurteilt. Als jemand, der selbst gern den Posten einnehmen möchte, kann er die eigentlich einflussreiche Karte des amtierenden Ministerpräsiden nicht ausspielen, sondern muss darauf setzen, dass sich die Chef:innen der großen Parteien ins Benehmen setzen.

Vor Mitte bis Ende dieser Woche sind also eher keine neuen Wendungen zu erwarten und selbst das könnte noch zu früh sein. So werden die Italiener:innen vorerst wieder damit leben müssen, dass die ganze Welt den Kopf über sie schüttelt.

Wer wird Italiens neuer Staatspräsident? (1)

Ende Januar wählt Italien ein neues Staatsoberhaupt.

Derzeit gibt es fast täglich neue Verlautbarungen, vielsagendes Schweigen und taktische Bewegungen. In loser Folge erscheinen hier in den kommenden Tagen kurze Meldungen zum (Nicht-) Stand der Dinge.
Plakat: Cercasi candidato/candidata per la carica del presidente della repubblica italiana

Neuerdings scheint jeder, der Interesse am höchsten Amt der Republik hat, einfach eine Pressekonferenz geben zu können, die eigentlich einem anderen Thema gewidmet ist, dann aber zwischen den Zeilen durchblicken zu lassen, Präsident werden zu wollen.

So hat es der amtierende Ministerratspräsident Mario Draghi vor Weihnachten gemacht, und vor wenigen Tagen Silvio Berlusconi. Man sollte eigentlich meinen, dieses Amt wäre würde- und bedeutungsvoll genug, um Kandidaten erstens von Dritten benennen zu lassen und zweitens mit einer sicheren Wählerschaft in der Parlamentsversammlung im Hintergrund. Auf ein solches Vorgehen drängen Vertreter:innen des linken Lagers zunehmend verzweifelt, derweil werden Mitte-Rechts schon mal ein paar Pflöcke eingehauen.

LUI NO – bloß nicht Berlusconi

Silvio Berlusconi will also Präsident der Republik werden. Dazu versammelt er heute (14. Januar 2021) die Spitzen von Forza Italia, Lega und Fratelli d’Italia in seiner Villa in Rom. Silvio Berlusconi. Im Ernst? Im Ernst. Schon vor Wochen brachte er sich ins Spiel, einige wollten es ihm ausreden, andere gaben sich angetan, aber unverbindlich. Zuletzt wurde das Vorhaben zunehmend konkreter, vor allem nachdem sich insbesondere die Lega äußerst zurückhaltend bezüglich einer Wahl Mario Draghis gezeigt hatte.

Das wiederum sorgte quasi für Panikattacken auf der linken Seite des politischen Spektrums. L’Espresso, das linksliberale Politmagazin, titelte vergangene Woche: LUI NO – nicht er, oder vielmehr: DER nicht. Enrico Letta, Vorsitzender des Partito democratico, unterstrich neben vielen anderen, der oder die neue Präsidentin müsse einen, nicht spalten, und alle Italienerinnen und Italiener vertreten. Das ist wohl das letzte, was man von Silvio Berlusconi behaupten kann. Niemand hat mehr polarisiert in den vergangenen Jahrzehnten, und niemand hat wohl größeren Anteil am Niedergang der politischen Kultur, dem Umgreifen des Populismus und der Banalisierung der politsichen Debatte. Denn Berlusconi war ja nicht nur Partei- und mehrmaliger Regierungschef, sondern war und ist Medienmogul, ökonomisches Schwergewicht und vor allem: Ein begnateter Vertreter seiner eigenen Interessen.

Und wie will er dieses Mal die Abgeordneten der Parlamentsversammlung hinter sich kriegen? Ganz einfach, indem er sein Interesse – die Krönung seiner Karriere durch das höchste Amt – mit dem Interesse der Wählenden – keine vorzeitigen Neuwahlen – verknüpft. Also sagt er: Wenn Draghi nicht mehr Ministerpräsident ist, dass scheidet Forza Italia aus der Regierung aus. Heißt nichts anderes als: Wenn ihr Draghi wählt – und nicht mich – dann gibt es vorzeitige Neuwahlen und ein Großteil von euch ist seinen Platz im Parlament und einen Teil der Pensionsansprüche los. Wollt ihr das? Nein? Dann wählt mich.

Und da kann dann ein Enrico Letta noch so ungläubig kundtun, dass es sehr schädlich wäre, hätte Berlusconi dies wirklich so gesagt (in einem Interview in der Sendung Metropolis) – der Ball ist im Feld und die anderen werden ihn spielen.

Mattarella zum Zweiten?

Und was macht Mario Draghi? Verbietet den Journalist:innen bei der ersten Pressekonferenz des Jahres, überhaupt Fragen nach seiner politischen Zukunft zu stellen. Seine Selbstkandidatur war scheinbar nur mäßig erfolgreich und wird zusehends geschwächt durch die pandemische Lage, die dringend eine funktionierende und stabile Regierung braucht, also am besten Draghi selbst am Ruder im Palazzo Chigi.

Weil aber bislang sonst noch niemand mehrheitsfähiges im Gespräch ist – oder sich auch nur andeutet, wer abseits der Berlusconi-Variante diese Mehrheit organisieren könnte – kommt nun doch noch die Option eines Mattarella-bis auf den Tisch. Der amtierende Präsident der Republik, Sergio Mattarella, hatte vehement zu verstehen gegeben, dass er dazu nicht zur Verfügung steht. Aber wenn sie ihn nun doch wählen sollten? Um die Regierung zu sichern? Um Berlusconi zu verhindern? Um die eigene Unfähigkeit zum Kompromiss und zu vernünftigen Entscheidungen zu verschleiern?

Es bleibt spannend. Erster Wahlgang: 24. Januar.

Ein langer italienischer Sommer

Sportliche Erfolge, wirtschaftlicher Aufschwung, zuletzt ein Nobelpreis: Es läuft in Italien. Und die Politik?

Mario Draghi zeichnet sich verantwortlich für die erfolgreiche Regierungsarbeit. Foto: European Union 2021

Mario Draghi eröffnete die Pressekonferenz am 5. Oktober mit der Nachricht, dass der italienische Physiker Giorgio Parisi gemeinsam mit zwei Kollegen den Nobelpreis für Physik erhalten wird. Erneut eine Auszeichnung mit weltweiter Aufmerksamkeit für das vor kurzem noch so gebeutelte Land. Davon hatte es in diesem Jahr, in diesem wundersamen italienischen Sommer schon einige gegeben:

Zuerst gewanndie junge Rockband Maneskin den Eurovision Song Contest und eroberte danach – musikalisch – die Welt mit ihren englischsprachigen Songs. Wann hatte es das zuletzt gegeben? Wenig später erkämpfte sich die italienische Fußballnationalmannschaft den Titel in der verschobenen EURO 2020 – und das auch noch mit ansehnlichem Fußball! Hatte es das je schon gegeben? Die Gratulationen kamen von überall und von Herzen, die Seele der Italiener:innen streichelte der Erfolg in jedem Fall. Fußball ist der Kitt, der die Nation zusammenhält.

Aber nicht nur König Fußball sorgte für neu erwachten Nationalstolz: Bei Olympia in Tokio holte sich Marcell Jacobs Gold über die Paradedisziplin 100m. Ein Italiener der neue Usain Bolt? Kaum zu glauben! Nun folgt die Erfolgsmeldung aus der Wissenschaft, die nur für Auftrieb sorgen kann angesichts anhaltend knapper Ressourcen an den Universitäten und einem veralteten Lehrsystem. Dazwischen, vielleicht noch ungewöhnlicher: Positive Nachrichten aus Wirtschaft und Finanzen. Italiens Wirtschaft wächst, stärker als erwartet. Die F.A.S. empfiehlt Investitionen in italienische Firmen. Wann gab es das zuletzt?

„Super-Mario“ Draghi scheint seinem Spitznamen gerecht zu werden und er erfüllt das wichtigste Kriterium, weswegen er in das Amt des Premierministers geholt wurde: Das Vertrauen der Wirtschafts- und Finanzakteure wiederzugewinnen (neben dem der politischen Partner:innen in der EU, versteht sich). Tatsächlich wird er ja auch den Anforderungen gerecht, die an ihn gestellt wurden zum Amtsantritt: Etwa den Impffortschritt zu beschleunigen – 77 Prozent der Italiener:innen sind bereits geimpft, eine Quote, von der manche Regionen in Deutschland meilenweit entfernt sind. Das Management der Pandemie zu verbessern, was seine Regierung zwar gegen Widerstände, aber letztlich unbeirrt und mit klaren – scharfen – Regeln tut.

Entscheidender jedoch für die Zukunft Italiens: die großen und schwierigen Reformen rasch anzugehen, welche die Grundlage für alle weiteren Maßnahmen des Next Generation EU-Plans bilden, die Justizreform und die Reformierung des Steuersystems. Letztere ist diese Woche angeschoben worden, mit einer so genannten legge delega, mit welchem die Regierung beauftragt wird, binnen 18 Monaten in kleineren Gesetzespaketen (decreti legislativi) die einzelnen Reformschritte zu konkretisieren und zu verabschieden. Dieses Delegationsgesetz liefert zunächst nur den Rahmen, die Grundprinzipien. Es muss von beiden Parlamentskammern verabschiedet werden, das heißt, das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Aber wie die vergangenen Monate gezeigt haben, lässt sich die Regierung Draghi kaum beirren. Einige Korrekturen hier und da, ansonsten wird wie geplant durchgezogen.

Auch das ist angenehm überraschend, denn anders als einige seiner Vorgänger, die ihre Tatkraft demonstrieren wollten, scheint Draghi niemals die Sachorientierung abhanden zu kommen. Es gibt keine Reform um der Reform Willen, sondern Reformen, um notwendige Dinge zu korrigieren und zu verbessern. Wenig überraschend scheint also, dass eine deutliche Mehrheit der Italiener:innen (57 Prozent) seine Arbeit positiv bewertet (Umfrage Ipsos vom 29.09.21).

Dagegen sträubt sich insbesondere die populistische Rechte, durch die Lega in der Regierung vertreten. Ein Eklat folgt auf den nächsten, weil Parteichef Salvini öffentlich gegen die Pläne der Regierung wettert (der er eben selbst angehört) und seine Leute nicht zu Ministerratssitzungen erscheinen oder dort gegen gemeinsam getroffene Entscheidungen abstimmen lässt. Geholfen hat Matteo Salvini diese Taktik bislang nicht. Innerhalb der Partei verliert er an Rückhalt, die gemäßigten Wirtschaftsliberalen um Giancarlo Giorgetti gewinnen an Gewicht. Gleichzeitig verliert die Lega Unterstützung in der Wählerschaft, speziell im Kerngebiet der Partei im Norden, wobei noch nicht ausgemacht ist, ob trotz oder wegen des moderateren Regierungskurses – oder weil vor allem die Widersprüchlichkeit im Verhalten der Parteiführung evident ist. In jedem Fall verlor das Mitte-Rechts-Lager bei den Kommunalwahlen am vergangenen Wochenende an Rückhalt. Mailand, Bologna und Neapel gingen klar an Mitte-Links, in Turin, Rom und Triest kommt es zur Stichwahl.

Alles gut also in Italien? Ja – noch. Von Beginn an wurde Draghis Amtszeit vom Ende der Legislatur her gedacht. Frühjahr 2023, dann stehen regulär die Parlamentswahlen an. Das ist auch richtig so, handelt es sich doch um ein governo tecnico, eingesetzt vom Staatspräsidenten, unterstützt von fast allen Parteien in – wenn auch brüchiger – „nationaler Einheit“. Doch einen solchen langen Atem wollten und wollen einige politische Kräfte nicht haben. Im Februar 2022 steht die Wahl des Staatspräsidenten an, und kaum war Mario Draghi Premier, wurde er schon für dieses höchste, aber konkret politisch eher wirkungslose Amt ins Spiel gebracht.

Giorgia Meloni, Oppositionsführerin von Fratelli d’Italia, brachte diese Option nun erneut ins Spiel. Zwar wurde sie gleich von einem ihrer Partner, Forza Italia, ausgebremst; das Mitte-Rechts-Lager steht gerade, auch aufgrund interner Querelen, nicht auf so soliden Füßen, als dass ihm eine Wahl im Frühjahr 2022 gelegen käme. Dennoch hätten FdI, Lega und FI die besten Aussichten, stärkste Kraft zu werden. Bis zu dieser Woche lagen Fratelli d’Italia in Umfragen stets vorne, gefolgt von einer – geschwächten – Lega. Die hohen Zustimmungswerte für Mario Draghi drücken sich also paradoxerweise nicht in Zustimmung zu moderaten Parteien aus – doch wo wären diese auch zu finden, abseits des Partito democratico, der einem Großteil der Italiener:innen immer zu links sein wird. Der Anteil der Nichtwähler:innen bei den Kommunalwahlen war enorm, meist ging nicht einmal die Hälfte der Berechtigten zur Wahl. Den Bürger:innen scheinen sich keine adäquaten Optionen zu bieten.

Es läuft also in Italien. Nur die Parteipolitik, sie hängt wieder einmal hinterher.

Reform der Strafprozessordnung. Die erste große Hürde der Regierung Draghi

Erst verschoben, dann die nächtliche Abstimmung mit Vertrauensfrage. Die Justizreform spaltet die italienische Regierung.

Die Reformierung des Justizsystems ist ein elementarer Bestandteil des Wiederaufbauplans. La giustizia, Statue in Florenz (pixabay).

Also doch die Vertrauensfrage. Regierungschef Draghi nutzte das Instrument, mit dem sich zig Regierungen Italiens in den vergangenen Jahrzehnten am Leben erhalten haben, um ihr Programm halbwegs umsetzen zu können. Vielfach kritisiert, weil es parlamentarische Debatten unterbindet. Nun, am 2. und 3. August setzte auch Mario Draghi die Vertrauensfrage ein, um eine seiner wichtigsten Reformen durchzusetzen: Die Änderung der Strafprozessordnung.

Die Prozesse, egal ob zivil- oder strafrechtlich, dauern in Italien zu lange. Die durchschnittlichen Zeiten übersteigen die Mittelwerte anderer europäischer Länder bei weitem, was nicht zuletzt an einem enormen Rückstau liegt und an Personalmangel. Allerdings liegen die Fehler auch teils im System, das deshalb schon häufig reformiert werden sollte. Dies ist – der vermeintlichen Unreformierbarkeit des italienischen Staates zum Trotz – durchaus in den vergangenen Jahren geschehen. Um die derzeitige hitzige Diskussion zu verstehen, ist ein Blick zurück durchaus erhellend. Doch vorab bleibt zu konstatieren: Das Grundproblem – die lange Prozessdauer – wurde nie effektiv behoben.

Diese zu reduzieren ist nun das, was „Europa“ von Italien fordert. Grundlage für die miliardenschweren Hilfen des Wiederaufbaufonds sind die so genannten Strukturreformen in Verwaltung und Justiz. Die Ministerin Marta Cartabia, ehemalige Verfassungsrichterin, hat in den vergangenen drei Monaten also an einer Reform des Strafprozessrechts gearbeitet (und parallel an einer des Zivilprozesses, die demnächst im Senat eingebracht wird) mit dem Ziel, die italienischen Strafverfahren effizienter zu machen. Sie hat dafür Änderungen vorgesehen an der erst zum 1. Januar 2020 eingetretenen Justizreform ihres Vorgängers Bonafede.

Die Änderungen sind vielfältig, eine Stellungnahme des Obersten Rates der Richterschaft umfasst 158 Seiten. Im Kern geht es in der politischen Auseinandersetzung, an der sich auch die Richterschaft beteiligt, um nur einen Aspekt: Die Verjährung. Die Reform Bonafede hatte diese nach der 1. Instanz aufgehoben. War also erst einmal ein Urteil gefällt, konnte die Verjährung nicht mehr greifen, egal wie lange die Verfahren in der Berufung oder vor dem Kassationsgerichtshof dauern würden. Interessanterweise orientierte sich Bonafede am deutschen Modell und versuchte die Ministerin Cartabia noch bis zuletzt zu überzeugen, dass nicht die Einstellung des Prozesses das richtige Mittel sei, sondern die Verringerung der Strafe bei zu ausufernder Prozessdauer.

Denn die „niemals endenden“ Prozesse, welche die Reform Bonafede vermeintlich verursachte, sollen mit der Reform Cartabia ins Gegenteil gewendet werden: Nach zwei Jahren ist Schluss im Berufungsverfahren und nach einem Jahr im Verfahren vor dem Kassationsgericht. Unabhängig von der Komplexität der Sachlage und fast unabhängig vom Strafmaß: Lediglich Straftaten, auf die lebenslänglich steht, sollten von der so genannten „Unprozessierbarkeit“ (improcedibilità) ausgenommen sein.

Gegen diese Pläne lief die Fünf-Sterne-Bewegung Sturm. Sie waren diejenigen, die mit dem Slogan „Onestà“, Ehrlichkeit, in die Parlamente und Regierungen eingezogen waren, die sich stets dem Kampf gegen Mafia und Korruption verschrieben haben. Sie waren diejenigen, die die Verjährung in den Berufungsinstanzen abgeschafft hatten um zu verhindern, dass findige Anwälte die Verfahren politischer und wirtschaftlicher Kriminalität so sehr verlängern konnten, dass sie eingestellt werden mussten. Oder auch dass Prozesse eingestellt werden mussten, weil aufgrund der Überarbeitung der Gerichte keine Zeit mehr blieb.

Die Regierung Berlusconi hatte 2005 noch unter massivem Protest und Beanstandungen – auch aus Europa – die Verjährungsfristen, insbesondere für Wirtschafts- und Korruptionsdelikte gelockert. Man muss eine schlechtes Gedächtnis haben, um zu vergessen, dass es gerade in politischen Kreisen ein gewisses Interesse gab und gibt, bestimmte Prozesse ins Leere laufen zu lassen. Die Überzeugung, mit der Forza Italia für die Unprozessierbarkeit eintritt, weckt zumindest eher ungute Gefühle, selbst wenn ihr Großmeister Berlusconi inzwischen zu alt zu sein scheint, um neue strafrechtlich relevante Fakten zu schaffen. Nichtsdestoweniger, Veruntreuung von Geldern, Korruption, dies sind auch Themen, mit denen die Lega und Salvini, oder auch Matteo Renzi (Italia viva) zu tun haben – sie alle loben die Einstellung der Verfahren nach festen Zeiten in den höchsten Tönen. Dies sollte an sich schon Grund zu Misstrauen sein.

Dennoch, ein harter Schnitt also, zwei Jahre, ein Jahr. Zwar zeigten sich Ministerin Cartabia und auch Premier Draghi gesprächsbereit bezüglich Verfahren gegen die Mafia, aber die Empörung war bereits riesig und erneut stand (und steht) die Fünf-Sterne-Bewegung an einer Wegscheide: Würden sie an diesem Konflikt zerbrechen oder könnten sie gesichtswahrende Änderungen durchsetzen? Die Drohungen waren massiv: Unzählige Änderungsanträge, die den parlamentarischen Prozess zeitlich gesprengt hätten, Enthaltung der M5S bei der Abstimmung – nichts, was Geschlossenheit und Handlungsfähigkeit der Regierung demonstriert hätte.

Und Draghi stand unter enormen Zeitdruck: Zuerst müssen die Strukturreformen durchgehen, dann kann die eigentliche Arbeit an den Wiederaufbauplänen beginnen und hinter allem drückt der Bedarf an Finanzmitteln vonseiten der EU. Jede Verzögerung, jede ausufernde Debatte und Verhandlung bringt den eng getakteten Zeitplan ins Wanken, umso mehr als jede Infragestellung der von der Regierung ausgearbeiteten, im Ministerrat beschlossenen Reformen die Dauer der Regierung Draghi selbst unsicherer werden lässt.

Für Draghi wie für die Fünf-Sterne ist die Justizreform damit existenziell. Giuseppe Conte, der nun doch schon wieder fast sicherere künftige Vorsitzende des M5S, führte die Nachverhandlungen, versuchte die Reihen geschlossen zu halten und das Schlimmste – aus Sicht der Fünf-Sterne – zu verhindern: Mafia-Prozesse sind nun von dem strikten Zeitrahmen ausgenommen, auch solche, die mafiöse Aktivitäten begünstigen . Rückenwind erhielten sie vom Obersten Richterrat und der Nationalen Vereinigung der Richterschaft. Zu viele Prozesse würden sofort eingestellt werden müssen, auch wenn das Gesetz erst Anwendung findet auf Verfahren, die zum 1.1.2020 begonnen wurden. Zu sehr weichen die vorgeschlagenen Zeiten vom Mittelwert der Berufungsverfahren aus, wobei es in einigen, zumeist südlichen Regionen massive Ausreißer nach oben gibt.

Das heißt: Kaum ein Berufungsgericht könnte die verlangten Zeiten einhalten, es würden notwendigerweise unzählige Prozesse im Nichts enden. Das ist natürlich eine sehr effektive Methode, die Überlast abzubauen. Alle Prozesse, die neu dazu kommen, können dann vielleicht in zwei Jahren bearbeitet werden. Es wäre zu hoffen. Andernfalls erreicht Italien zwar die lang ersehnte, von Europa geforderte kürzere Prozessdauer. Zugleich würde es aber einige Rechtsstaatsprinzipien untergraben, etwa die Verpflichtung zur Strafverfolgung, oder auch – im Sinne der Beschuldigten – die Feststellung der Sachverhalte, die ja womöglich einen Freispruch beinhalten könnten.

Dass Draghi die Vertrauensfrage stellt, um seine ungemein breite parlamentarische Mehrheit stabil zu halten, ist darüber hinaus politisch vielsagend. Anders als viele Vorgängerregierungen benötigt er die Vertrauensfrage nicht, um eine hauchdünne Mehrheit zu retten. Einzig Fratelli d’Italia sind wirklich nennenswerte Oppositionspartei, ansonsten stimmen alle mit der Regierung. Aber wenn die Fünf-Sterne als mit Abstand größte Fraktion in der Abgeordnetenkammer stark abweichen von der Regierungsempfehlung, dann hätte dies natürlich Konsequenzen für die zukünftige Regierungsarbeit.

Die Koalition, die keine ist, sondern ein Zusammenschluss aus nationalem Notstand heraus, würde noch instabiler, die Streitigkeiten noch mehr, das Recht auszuscheren würden auch andere für sich in Anspruch nehmen wollen. Das alles muss Draghi unterbinden, will er das Projekt, für das er an die Spitze der Regierung geholt wurde, in der knappen Zeit, die ihm bleibt, auch umsetzen. Deshalb die Vertrauensfrage, um die fragilen Fünf-Sterne zu disziplinieren. Für diese mag das letztlich einen weiteren Verlust an Kohäsion bedeuten, weil zu viele Kröten geschluckt werden.

Was es für Italiens Demokratie bedeutet, wenn Zeitdruck und Projektplanung von fachlichen Expert:innen die Gesetzgebung bestimmen, bleibt abzuwarten. Wie zu Beginn von Draghis Amtszeit steht noch aus, ob diese Phase die heilsame Reformierung des italienischen Staates und die Grundsteinlegung für eine bessere politische Zukunft ist – oder ob das regierende Expertentum nicht am Ende nur die andere Seite der populistischen Social-Media-Medaille ist, mit den selben verheerenden Effekten auf die repräsentative parlamentarische Demokratie.

Der schweigsame Präsident

Mario Draghi spricht wenig in der Öffentlichkeit. Heute hielt er seine erste Rede im Senat.

Neulich wünschte jemand Mario Draghi Glück, als dieser gerade im Wagen vorbeifuhr. Draghi ließ das Fenster herunter und antwortete auf die italienische Redensart „In bocca al lupo“ wie es sich gehört: „Crepi il lupo“. Im Fernsehen wurde das kommentiert mit: Mario Draghi hat etwas gesagt, endlich hat auch er gesprochen.

Denn in den letzten Tagen sprachen alle, die in Italiens Politik etwas zu sagen haben, und auch jene, die nichts zu sagen haben. Zudem äußerten sich zahlreiche Journalisten, Professorinnen und diverse Expertinnen ausgiebig zur politischen Lage. Einzig der Protagonist, um den sich alles drehte, blieb still: Mario Draghi gab keine Interviews und keine Statements, gab keine Zwischenstände oder Planungen preis. Seine Auftritte vor der Presse blieben auf ein Minimum und auf die Kernaussagen zu seiner künftigen Regierung beschränkt. Und erst recht gab es keine tweets oder posts oder storylines – Italiens neuer Ministerpräsident ist ein no-social.

Ein ungewohnter Kommunikationsstil für Italien

Dieser neue Stil ist für Italiens Politik- und Medienlandschaft eine Neuerung. Sicherlich gewöhnungsbedürftig. Sie passt aber ganz ausgezeichnet zu den Erwartungen, die an den neuen politischen Heilsbringer gestellt werden: Einer, der die Dinge ernst nimmt. Einer, der sich nicht ständig profilieren muss, weil er bereits ein Profil hat. Einer, der nicht nutzlos daherredet, sondern arbeitet. Allerdings erhöht die Schweigsamkeit auch die Erwartungen an das, was dann kommt, wenn die Stille durchbrochen wird. Umso mehr, wenn die Ansprache dann im Parlament stattfindet, was durchaus auch ein Statement ist: Nicht schon ständig in den Medien präsent zu sein, sondern zuallererst dort, wo in einer Demokratie Politik gemacht wird – im Parlament.

Nun hat Mario Draghi, designierter neuer Ministerpräsident Italiens, im Senat seine Rede gehalten, mit der er das Vertrauen in dieser Kammer erhalten will (zur Zeit läuft die Debatte noch). Wer eine Ansprache erwartet hatte, die dem politische Erdbeben, das dieser Regierungsbildung vorausgegangen war, ebenso entspricht wie die pandemische wie ökonomische Ausnahmesituation, in der sich Italien befindet, wurde zumindest vom Auftritt her enttäuscht. Mario Draghi hat Großes vor – aber er fasst es nicht in große Worte.

Standing ovations für Conte, wenig Enthusiasmus für Draghi

Eher noch fasst er es in Zahlen, und fügt nebenbei hinzu, dass die Zahlen der Wirklichkeit nicht gerecht werden. Gleichwohl hält er sich an ihnen fest und kommt überraschenderweise ausgerechnet hier ein paar Mal ins Straucheln; Versprecher und Verblätterer nehmen den durchaus bedrückenden Zahlen – zur Pandemie und ihren Folgen – ihre Wucht, und dass, wo Zahlen ohnehin selten mitreißen. Draghi beginnt seine Rede mit der Pandemie und dem nationalen Ausnahmezustand, und vielleicht weil man es ein wenig zu oft gehört hat zuletzt, vielleicht, weil er keine neuen, keine authentisch berührende Worte dafür findet, bleibt das Auditorium eher unbeeindruckt. Den größten Applaus gibt es nach ein paar Minuten, als der neue Ministerpräsident dem alten dankt. Der Beifall, der in diesem Moment für Giuseppe Conte aufbrandet, hält derart lange an, dass es fast schon unangenehm wirkt für seinen Nachfolger. Als es dann in Teilen auch noch Standing Ovations gibt, wird das den anderen Senatorinnen zu viel: Buh-Rufe hallen durch den Plenarsaal.

Und doch lässt diese Situation bereits erahnen, was die Schwäche des neuen Regierungschefs sein könnte: Giuseppe Conte hat viele Sympathien gewonnen, in der Bevölkerung und auch unter den Parlamentariern. Dafür hat man ihm manche inhaltliche Unausgereiftheit nachgesehen. Bei Mario Draghi scheint es umgekehrt: Er ist der Experte, der nun die bestmöglichen Reformen und Programme auf den Tisch legt, aber ob er die Herzen der Bürgerinnen und Bürger gewinnen kann? Draghi steigert sich im Laufe seiner Rede. Wenig überraschend ist er dort am überzeugendsten, wo er seine Expertise geltend machen kann. Die notwendige Steurerreform, die als Ganzes angegangen werden muss, die Ausgestaltung der Verwaltungs- und Justizreform – es ist nicht nur überdeutlich, dass er um deren Bedeutung und Dringlichkeit weiß, dass er jeden Schritt, der diesbezüglich in der Vergangenheit gegangen wurde, kennt, sondern auch, dass er eine präzise Vorstellung davon hat, wie diese Reformen angegangen werden müssen. Und diese unbeirrt angehen wird.

Gleiches gilt für die Wirtschaftspolitik und Draghis Konzept, wie er Italien ökonomisch wieder zum Laufen kriegen will. Er stärkt die Hoffnung, dass mit dieser Regierung endlich die zukunftsgerichteten, innovativen Ideen umgesetzt werden, mit denen Italien wieder anschlussfähig wird in Sachen Produktivität, Arbeitsstandards oder Nachhaltigkeit. Ideen, die zudem auf dem festen Boden ökonomischen Sachverstands stehen. Allerdings wird es hier politisch spannend, denn Draghis Ausrichtung ist eindeutig wirtschaftsliberal – neoliberal, wenn man dieses Wort gebrauchen möchte – und das ist eine Haltung, die entgegen anderslautender Äußerungen des politischen Personals weder links noch rechts besonders viele überzeugte Anhänger hat.

Überzeugende Inhalte, verbesserungswürdige Rhetorik

Doch abseits der – zweifelsohne überzeugenden – Inhalte, zu denen auch die Investitionen in Kultur, Bildung und Forschung zählen, bleibt Mario Draghi überraschend blaß. Wenn es rumort im Auditorium, etwa bei einigen Äußerungen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik, unterbricht er sich und schaut in die Runde wie ein Lehrer, der sich insgeheim echauffiert über die aufmüpfigen Schüler, es aber unter seine Würde betrachtet, darauf einzugehen – und sei es nur durch die Veränderung seines Gesichtsausdrucks. An den potentiell emotionalsten Stellen seiner Rede, wenn er auf die Kraftanstrengungen der Italiener und Italienerinnen in dieser Pandemie zu sprechen kommt, wenn er von der Pflicht aller spricht, nun Eigeninteressen dem Wohl der Nation unterzuordnen, dann springt höchstens ein schwacher Funke über.

Italien, und Europa, können davon ausgehen, dass Mario DRaghi die Dinge angeht, die am dringlichsten sind, mit Sachverstand, Plan und Durchsetzungsstärke. Doch es wird kaum reichen, die Dinge gut zu machen. Er wird darüber reden müssen. Mit weniger Zahlen, dafür mit mehr Empathie. Die Reformen werden umfassend sein, und obwohl Draghi mit dem Recovery Plan EU-Gelder in Höhe von 210 Milliarden verteilen kann, wird es Missfallen, Unstimmigkeiten und auch Frust geben. Man gewinnt Zustimmung nicht allein durch gute Bilanzen. Die Bevölkerung will gehört und verstanden werden, dazu muss sie einen Regierungschef vor sich haben, der kommuniziert. Der so kommuniziert, dass sich die Menschen wiederfinden.

Bleibt Mario Draghi seinem Stil treu, kann das schwierig werden. Zwar haben sich die Italienerinnen und Italiener – mal wieder – einen Fachexperten gewünscht, der alles zum Guten wendet, weil er klug ist und uneigennützig. Die Vergangenheit hat aber schon oft gezeigt, dass ihnen ein Kommunikator, ein Entertainer, eine, die sich volksnah gibt, einer, der ihnen ähnlich ist, in Wirklichkeit viel lieber ist. Natürlich muss Draghi keine Wahlen gewinnen, also muss er auch nicht für sich werben. Doch in seine Stille drängen schon jetzt andere Stimmen, seine sachliche Distanziertheit wird früher oder später die Demagogen anspornen, um das Wahlvolk bei den Emotionen zu packen. Es bleibt abzuwarten, wie lange Mario Draghis Expertise ihn durch Italiens unruhige politische Gewässer trägt.