Die „Mutter aller Reformen“: Mehr Stabilität durch Direktwahl des Regierungschefs in Italien

Melonis Regierung will Hinterzimmerverhandlungen und Technokratenregierungen verhindern und legt dafür einen Gesetzentwurf vor, der einige Lehre aus der Vergangenheit zieht und andere nicht.

Nun ist sie da, der lang angekündigte Entwurf für eine Verfassungsreform, mit der die „Anomalien“ des italienischen Regierungssystems beendet werden sollen. Es ist wahrlich nicht der erste Versuch, die vergleichsweise häufigen Regierungskrisen und -wechsel in Italien institutionell zu beheben. Melonis Regierung setzt dabei einen klaren Schwerpunkt: Es soll lediglich die Art und Weise geändert werden, wie der presidente del Consiglio dei Ministri, wie die Bezeichnung korrekt lautet, ins Amt kommt. Nämlich durch direkte Wahl.

Warum braucht es diese Reform?

Die Reformbedürftigkeit des politischen Systems in Italien ist seit Jahrzehnten lagerübergreifender Konsens gewesen, wobei sich jedoch die Ansätze, wie und was reformiert werden müsse, deutlich unterschieden. Italiens Rechte wollte dabei stets einen stärkeren Regierungschef, die Alleanza Nazionale und ihre Nachfolger Fratelli d’Italia wünschten sich am liebsten die Direktwahl des Staatsoberhauptes. Diese Idee bekam in der jüngeren Vergangenheit neuen Schwung einerseits wegen des hohen Ansehens des aktuellen Republikspräsidenten Sergio Mattarella und andererseits während Mario Draghis Zeit als Premier, in dem sich der Wunsch ausbildete, er möge mit erweiterten Kompetenzen ins Amt des Staatschefs wechseln. Das Ansehen Mattarellas ist ungebrochen, die Träumerei von Draghi als Führungsfigur in einem semipräsidenzialismo jedoch längst ad acta gelegt. Auch unabhängig von seiner Person gab gegen dieses an Frankreich orientierten Modells immer Widerstände, und auch dieses Mal einigte sich die Rechtskoalition darauf, lieber den Presidente del Consiglio zu stärken, und das Amt des Republikspräsidenten unangetastet zu lassen.

Als notwendig erachtet Melonis Regierungskoalition die Reform, um Regierungsbildungen, die nicht direkt vom Votum des Wahlvolkes gedeckt sind, zu verhindern. In dieser Hinsicht war die vergangene Legislatur eine besondere gewesen, brachte sie doch mit ein- und demselben Wahlergebnis so unterschiedliche Regierungen wie die rechtspopulistische von Lega und M5S, die progressiv-populistische von M5S und PD sowie Draghis Regierung der nationalen Einheit hervor. Insbesondere Technokratenregierungen wie jene von Draghi oder in früheren Zeiten Mario Monti waren Meloni und ihren Mitstreiter:innen schon immer ein Graus: Vermeintliche Experten, die nicht den Volkswillen, sondern den Willen der EU und der Finanzmärkte durchsetzen, so ihre Sichtweise. Dieser Option schiebt der Reformentwurf einen Riegel vor.

Weshalb sollte die Reform diesmal gelingen?

1993, 1997, 2006, 2016 – in all diesen Jahren (und in einigen mehr) sind Verfassungsreformen auf den Weg gebracht bzw. zur Abstimmung gestellt worden – und keine davon wurde umgesetzt. In den 1990er Jahren wurden Kommissionen aus beiden Parlamentskammern beauftragt, einen großen, umfassenden Wurf zu erarbeiten. Die Berlusconi-Reform von 2006 sollte ebenfalls ein großer Wurf werden, wenngleich von der Regierungsmehrheit allein erarbeitet. Demgegenüber speckte Matteo Renzi seinen Reformentwurf bereits ab, er scheiterte 2016 allerdings ebenso am Verfassungsreferendum wie Berlusconi vor ihm. Keine ermutigende Vorgeschichte für Giorgia Meloni, und die wohl offensichtlichste Lehre daraus ist: Die Reform ist sehr knapp gehalten. Sie umfasst lediglich fünf Artikel und greift in gerade einmal 4 Verfassungsparagraphen ein. Diese betreffen die ausschließlich die Ernennung bzw. Wahl des presidente del Consiglio. Zusätzlich sollen die Senator:innen auf Lebenszeit abgeschafft werden, aber dies ist eine Randnotiz. Begrenzung aufs Wesentlich also.

Interessant ist der Vergleich zu Matteo Renzis Ansatz vor gut zehn Jahren: Diese berührte genau nicht die Kompetenzen und Wahlmodi des presidente del Consiglio, denn genau diese – übersteigerte – Stärkung des Premiers hatte Berlusconsi Reform zum Scheitern gebracht. Die heutige Rechtskoalition hingegen legt Wert darauf zu unterstreichen, dass sie die Rechte des Parlaments nicht antastet und auch nicht die Rolle des – sehr geschätzten – Staatsoberhaupts. Dieser Minimalansatz könnte taktisch funktionieren. Meloni weckt nicht den Anschein, sich pieni poteri verschaffen zu wollen, wie ihr heutiger Vize vor nicht allzu langer Zeit mal unbedacht für sich äußerte. Wenn vieles so bleibt wie es ist, wieso sollte die Reform dann auch nicht im Referendum durchgehen? Schließlich sind viele Italiener:innen mehr als genervt von den durch Machtspielchen hervorgerufenen Regierungskrisen, auf die sie keinen Einfluss nehmen können, und die das Land in den vergangenen Jahr oft gelähmt haben. Ein kleiner Eingriff mag helfen.

Interessant ist, dass kaum jemand noch in Frage stellt, ob es überhaupt in Ordnung ist, dass eine Regierung die Verfassung ändern will, ohne die Opposition ernsthaft miteinzubeziehen. In den vergangenen Jahrzehnten war dies noch ein entscheidendes Kritierium für die Legitimität einer Verfassungsreform, und das Wegbrechen (Renzi) oder nicht Vorhandensein (Berlusconi) einer lagerübergreifenden Einigung wirkte sich klar negativ auf die Akzeptanz des Vorhabens aus. Heute wird die Regierungsinitiative – statt dies dem Parlament zu überlassen – schlicht hingenommen, so wie auch selbstverständlich vom „bestätigenden Referendum“ gesprochen wird, das wahrscheinlich kommt, da die Reform nicht mit einer Zweidrittelmehrheit verabschiedet wird. Der Sinn der Regelung in Art. 138 ital. Verfassung ist jedoch ein umgekehrter: Verfassungsänderungen sollten mit einer breiten Mehrheit, nämlich zwei Dritteln in beiden Kammern, verabschiedet und von daher im breiten Konsens erarbeitet und getragen werden. Lediglich für den Fall, dass dies nicht geschieht, gibt es die Möglichkeit eines aufhebenden (!) Referendums, der die Reform unwirksam macht, wenn eine Mehrheit der Abstimmenden sich dafür ausspricht. Das Referendum ist ein Notanker, kein Bestätigungsinstrument einer Regierungsinitiative. Im jetzigen Fall beschränkte sich der Einbezug der politischen Gegenseite auf kurze Konsultationen und die generöse Bereitschaft, gegebenenfalls vernünftige Änderungswünsche zu berücksichtigen. Und das scheint niemanden mehr zu stören.

Die richtige Wahl der Mittel?

Sollte die Verfassungsreform erfolgreich sein, würde die „Anomalie“ von Italiens Regierungssystem keineswegs beendet. Im Gegenteil: Die Direktwahl eines Premiers in einem parlamentarischen System, indem es zudem noch ein indirekt gewähltes Staatsoberhaupt gibt, dem die Kompetenz obliegt, das Parlament aufzulösen, dürfte ziemlich einmalig sein. Israel hatte einige Jahre lang einen direkt gewählten Premierminister innerhalb eines parlamentarisch-proportionalen Systems. Die Funktionsfähigkeit erwies sich als mäßig (was sich u.a. bei Giovanni Sartori nachlesen lässt und wahrlich keine neue Erkenntnis ist). In allen anderen Systemen, die eine:n starke:n Regierungschef:in kennen, liegt deren Macht in anderen Mechanismen begründet: die Kompetenz, Minister:innen zu entlassen und die Regierung tatsächlich zu führen, nicht als Gleiche unter Gleichen; die Möglichkeit, die Kammern aufzulösen; die Schwierigkeit, sie aus dem Amt zu heben – Stichwort: konstruktives Misstrauensvotum; Wahlsysteme, die eine Fragmentierung der Parlamente zumindest eindämmen; nicht zuletzt: Fraktions- und Koalitionsdisziplin, die durch vorgenannte Mechanismen gestärkt wird.

Der Entwurf der Regierung Meloni orientiert sich stattdessen am eigenen Land: Auf kommunaler und regionaler Ebene ist die Direktwahl des Regierungschefs schon lange eingeführt, verbunden mit einer nun auch für die nationale Ebene vorgesehenen gesicherten Parlamentsmehrheit. Der Reformentwurf sieht – wie die meisten der Regionalstatuten in Italien – vor, dass die Wahlliste mit den meisten Stimme, also jene, die den Presidente del Consiglio stellen wird, eine Mehrheitsprämie von 55 Prozent erhält. Alle Details regelt ein Wahlgesetz, das noch nicht vorliegt. Viele Fragen können also noch nicht beantwortet werden: Welche Voraussetzungen gelten für die Mehrheitsprämie? Mindestens 40 Prozent im Wahlergebnis? Für eine Koalition oder eine Einzelpartei? Was, wenn diese Schwelle nicht erreicht wird, gibt es dann eine Stichwahl?

Was bereits feststeht, ist eine gewisse – aber von den Macherinnen der Reform gewünschte – Unflexiblität in der personellen wie programmatischen Regierungsbildung. Schon die Berlusconi-Reform von 2006 sah vor, dass ein Premier nur durch einen anderen ersetzt werden kann, wenn er die selbe Parlamentsmehrheit repräsentiert und das selbe Programm durchsetzt wie sein Vorgänger. Dies wird nun wieder aufgegriffen: Verliert die Presidente del Consiglio eine Vertrauensabstimmung, so kann sie oder eine aus „ihrer“ Parlamentsmehrheit entstammende Person vom Staatsoberhaupt mit einer neuen Regierungsbildung beauftragt werden. Dabei sind nun Veränderungen in der Regierungskoalition nicht mehr ausgeschlossen, gleichwohl aber die Verpflichtung auf das ursprüngliche Regierungsprogramm. Wird ein auf diesem Weg neu ernannter Regierungschef wiederum gestürzt, bleiben nur die Auflösung der Kammern und Neuwahlen.

Vorstellbare Szenarien – wenig Vorteile bei einigen Ungereimtheiten

Würde nach diesem Reformentwurf beim nächsten Mal gewählt, würde sich die Vor- und Nachwahlzeit vielleicht wie folgt gestalten: Das entsprechend erneuerte Wahlgesetz wird mit hoher Wahrscheinlichkeit die Bildung von gemeinsamen Wahllisten, also von Vorab-Koalitionen ermöglichen. Denn aktuell gibt es zu wenige Einzelparteien, die eine Chance auf das Erlangen der Mehrheitsprämie von 55 Prozent der Sitze haben und daher auf die Bildung von Wahlkoalitionen verzichten wollten und können. Melonis Partner Lega und Forza Italia werden ihre Zustimmung zu einem Wahlgesetz davon abhängig machen, dass sie ein Stück vom Prämienkuchen abgekommen können. Auch für noch kleinere Partien, wie Noi moderati, wird es sinnvoll sein, sich einer solchen Wahlkoalition anzuschließen, ist doch zudem Sperrklausel von 3 oder mehr Prozent ebenfalls eine Option. Damit wiederum erhöhte sich aber auch das Risiko für eine „große“ Partei – wie aktuell FdI oder auch den PD – allein anzutreten, könnten sie doch eher die Hürde für den Bonus oder für die Zulassung zu einer möglichen Stichwahl verpassen und sich mit allen anderen die verbleibenden 45 Prozent der Sitze teilen zu müssen. Also bestünde ein Anreiz zur Koalitionsbildung. Diese heterogenen Gebilde werden aber oftmals aus genau diesen kalkulatorischen, taktischen Gründen geformt, nicht aus programmatischer Harmonie. Die kurze Existenz des „Terzo Polo“ aus dieser Legislatur ist dafür nur ein Beispiel. Die Basis für eine wirklich stabile Regierung bildet eine solche „Ehe“ nicht.

Kommt nun eine Presidente del Consiglio über eine solche siegreiche Koalition ins Amt, erhält – wie auch immer konkret – die Prämie von 55 Prozent, dann könnte sie eigentlich erst einmal ungestört regieren. Sofern es bezüglich der Besetzung der Ministerposten keine Unstimmigkeiten mit dem Staatsoberhaupt gibt, das diese nominiert. In der Vergangenheit hatten die Präsidenten ab und an einer geplanten Besetzung ihre Zustimmung verweigert. Wäre das gegenüber einem direkt gewählten Premier noch vertretbar, der sich auf die direkte demokratische Legitimation berufen kann, das Staatsoberhaupt lediglich auf indirekte?

Steht die Regierung, mögen sich – nicht untypisch für Italien und die Politik im Allgemeinen – gewisse Dynamiken entwickeln: Vielleicht fiel die koalitionsinterne Stimmverteilung an den Urnen nicht ganz so aus wie erwartet, und ein kleinerer Partner ist größer als erhofft, vielleicht war die Verteilung der Ressorts bei Regierungsbildung für den ein oder anderen nicht zufriedenstellend, oder einige Wochen und Monate nach Start geraten Koalitionäre unter Druck, weil ihre Umfragewerte sinken. Und vielleicht wollte jemand ohnehin erst einmal dem Kandidaten für den Premierposten die Möglichkeit des Scheiterns an der Urne überlassen, sieht aber jetzt nach dem Erfolg sein eigenens Stündchen schlagen. Gründe, für einen so genannten „ribaltone“ gibt es reichlich, und von allen wurde in den vergangenen Jahrzehnten in Italien Gebrauch gemacht. Das neue System würde das nicht gänzlich verhindern. Ein verlorenes Vertrauensvotum, und jemand aus den eigenen Reihen kann übernehmen. Diese Person hätte dann wiederum nicht mehr allzu sehr zu befürchten, ihrerseits gestürzt zu werden, denn dann würden zwangsläufig die Parlamentskammern aufgelöst. Das ist Druckmittel genug, denn mit jeder Parlamentsauflösung gehen Posten und Sitze verloren (zumindest für einige). Ein „Durchregieren“ ist somit eher der potenziellen zweiten Presidente del Consiglio möglich, während der aus der Wahl hervorgegangene Premier stets die innerkoalitionären Gleichgewichte und möglichen Meutereien beachten muss.

Allerdings wäre dieser zweite Presidente del Consiglio nicht mehr vom Volk gewählt – dabei sollte dies doch ein entscheidendes Kriterium sein, für das nicht wenig an demokratischen Grundideen geopfert wurde, insbesondere das Merkmal parlamentarischer Demokratien, nach denen das Parlament die Regierung mit seinem Vertrauensvotum stützt, einsetzt, kontrolliert – und nicht direkt das Volk (zudem: das verringerte Maß an Repräsentativität über die Prämie oder die Möglichkeit voneinander unabhängigen Wahlen von Liste und Regierungschef:in). Ebenfalls kann ein Wechsel an der Regierungsspitze nicht mit einem programmatischen Wechsel verbunden werden. Denn der Reformtext sagt eindeutig, im Falle eines Wechsels müssten die zu Beginn angekündigten poltischen Richtlinien und Vorhaben umgesetzt werden: „attuare le dichiarazioni relative all’indirizzo politico e agli impegni programmatici su cui il Governo del Presidente eletto ha ottenuto la fiducia“. Dies nimmt dem System weitere Flexibilität, was angesichts der multiplen und oft kaum vorherzusagenden Krisen, wie wir sie in den vergangenen Jahren erlebt haben, grob fahrlässig wirkt.

Da die Auflösung der Parlamentskammern sowie die mögliche Neubesetzung des Premierpostens nach einem Rücktritt eng und klar geregelt sind, verändert sich auch die Rolle des Republikspräsidenten. Es ist nicht mehr in seinem Ermessen, wem er am ehesten eine erfolgreiche Regierungsbildung betraut. Er vermag auch kaum mehr inhaltlich Einfluss nehmen (auf die Respektierung der internationalen Verpflichtungen, zum Beispiel). Genau das ist das Ziel der Reform: Den Gestaltungsspielraum der Entscheidungsträger zu minimieren und möglichst eng auf das Wählervotum zu begrenzen. Zu behaupten, die Reform berühre also nicht die Rolle des Staatsoberhauptes, ist somit nicht korrekt. Im Idealfall sorgen die neuen Regeln für eine Disziplinierung aller Beteiligten. Mit Blick auf die letzte Legislatur ist allerdings zu sagen, dass es häufig die Inkompetenz und Unfähigkeit des politischen Personals war, Regierungsarbeit zu leisten, die einen Eingriff des Republikspräsidenten und einen Rückgriff auf Technokrat:innen notwendig machte. Diese Möglichkeit, flexibel und stabilisierend zu reagieren, würde mit der jetzigen Reform genommen. Ob dies zu Italiens Besten ist, bleibt fraglich.