Und täglich grüßt das Murmeltier: Eine Verfassungsreform!

Giorgia Meloni gibt ein wenig überraschend den Startschuss für eine Reformierung des Regierungssystems. Neu ist das Vorhaben nicht.

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Giorgia Meloni hatte sie seit Jahren gefordert und im Wahlkampf angekündigt, und dennoch schien es so vieles zu geben, was wichtiger war als eine Verfassungsreform. Nun, nach etwas mehr als einem halben Jahr im Amt, will ihre Regierungsmehrheit ernst machen. Erste Gespräche mit der Opposition sind anberaumt, vorsichtige Gesprächsbereitschaft wird signalisiert. Eine Verfassungsreform. Mal wieder. 2016 ist die letzte gescheitert, und mit ihr krachend die vielversprechende Karriere des Matteo Renzi. Oder war es umgekehrt? Der Karriere von Silvio Berlusconi konnte seine gescheiterte Verfassungsreform von 2006 wenig anhaben, dem Ansehen der Verfassung hat sie allerdings umso mehr geschadet. Jetzt also ein neuer Anlauf und es ist noch offen, ob dieser eher der Regierung schaden wird oder der konstitutionellen Demokratie Italiens.

In der aktuellen Debatte fallen zwei Dinge auf: Erstens sind es dieselben Argumente wie vor 15, 20 Jahren, sowohl in den Zielen wie in den Begründungen. Zweitens haben diese Jahrzehnte der Schrauberei an den Grundlagen der politischen Ordnung dazu geführt, dass so einige fundamentale Prämissen verrutscht sind. Zu ersterem: Stabilere Regierungen und eine direkte Verbindung zwischen Wahlvolk und Regierung, darin besteht Melonis erklärtes Ziel der Reform. Entweder ein (Semi-)Präsidialsystemine oder eine Direktwahl des Premiers, einhergehend mit der Stärkung ihrer Kompetenzen. Parlamentarische Demokratie aus dieser Sicht? Verlangsamt lediglich die Prozesse und bietet zu viel Raum für Mauscheleien und Abtrünnige (= Sturz bestehender und Installation neuer, im schlimmsten Fall: technokratischer Regierungen). Damit will die Regierung Meloni endlich Schluss machen, so wie zahlreiche Regierungen vor ihr. Dass sich die Fraktionen der Regierungsparteien – oder ihrer Vorgängerversionen – an genau solchen Mauscheleien, Fraktionswechseln, Regierungsstürzen genauso beteiligten wie an der Einsetzung technokratischer Regierungen – geschenkt. Dass es andere Wege gäbe, die Regierungschefin zu stärken als ihre Direktwahl einzurichten, wird immerhin als mögliche Kompromissvariante akzeptiert, aber nicht tatsächlich verfolgt.

Zu zweiterem: Meloni sagt, sie möchte eine möglichst breite Verständigung über die geplante Reform, aber so oder so habe sie das Mandat für eine solche Reform von den Italiener:innen erhalten. Hat sie das? Sie hat das Regierungsmandat erhalten, aber dezidiert eines, die grundlegenden Pfeiler des demokratischen Systems zu ändern? Bis zum „Sündenfall“ 2001/2002, als die damalige Mitte-Links-Regierung einzelne Verfassungsänderungen zur Kompetenzverteilung zwischen Regionen und Zentralstaat mit lediglich absoluter Mehrheit verabschiedete, galt in Italien eindeutig: Für eine Verfassungsreform wird eine Zweidrittelmehrheit benötigt. Dies war viele Jahrzehnte dem Umstand geschuldet, dass die vorgesehene „Notbremse“ für einen solchen Fall, das Verfassungsreferendum, nicht in Kraft gesetzt worden und damit nicht verfügbar war. Doch auch nach dessen Einrichtung hielt sich zumindest der Grundgedanke, dass eine signifikante Änderung der demokratischen Spielregeln das Einverständnis einer breiten Mehrheit bedürfe.

Davon ist nur noch in Ansätzen etwas zu spüren. Nachdem 2005/2006 die damalige Berlusconi-Regierung mit Verweis auf die linke Vorgängerregierung eine umfassende Reform des politischen Systems nur mit den Stimmen der Regierungsmehrheit durchs Parlament brachte, brach etwas weg im Verfassungsverständnis der politischen Elite. Eine Verfassungsreform war ein mögliches cavallo di battaglia, ein Profilierungsprojekt für das politische Lager. Auch Matteo Renzi zehn Jahre später, wählte nur anfangs den Ansatz einer lagerübergreifenden Reform. Als Allianzen zerbrachen und Widerstände aufkamen, zog er allein durch – und verlor. Dass beide Reformversuche an der Wählerschaft scheiterten, für die sie doch angeblich gemacht worden waren, wirkte kurzzeitig beruhigend auf die Lage. Benötigen wir wirklich solche tiefgreifenden Reformen? Und wenn ja, sollten sie dann nicht doch eher über eine Sonderkommission der Parlamentskammern ausgearbeitet werden, einer commissione bicamerale wie in den 1990er Jahren? Denn auch das war einmal common sense: Verfassungsreformen sind parlamentarische Initiativen, nicht Teil des (dezidiert politischen) Regierungsprogramms. Also bringt sie auch nicht die Regierung ein. Acqua passata.

Heute hat eine Meloni „das Mandat des Volkes“ für eine Verfassungsreform, heute fabuliert Matteo Salvini davon, dass – wenn die Opposition nicht will – eben das Volk sein Votum für die Reform geben wird. Ein bestätigendes Referendum existiert in Italien aber gar nicht. Es wurde darüber in den vergangenen Jahrzehnten schon öfter gestritten, denn nicht erst die Rechtspopulisten beschwören die direkte Verbindung zwischen Volk und Regierung(schef). Das öffentlich postulierte Demokratieverständnis dreht sich schon seit langem weg von der parlamentarischen Repräsentation hin zum vermeintlich unmittelbaren Ausdruck des Volkswillens durch die vermeintlich direkt bestellte Regierung. Und insbesondere deren Oberhaupt. Deshalb auch der dringende Wunsch nach einem direkt gewählten Staatschef oder eine direkt gewählten Premierministerin.

Die Frage, die sich dabei zum wiederholten Male stellt, lautet: Hilft eine solche Reform denn wirklich mehr als sie schadet? Erwächst Stabilität tatsächlich aus einer Direktwahl? Ist ein politisches System nicht nur immer so stark und stabil, wie es seine politischen Führungskräfte erlauben? Selbstverständlich hat ein französischer Präsident mehr Macht als ein italienischer Premier. In den letzten Jahren kann man beobachten, wie dies auch in Frankreich die Spaltung der Gesellschaft fördert und Umwälzungen im Parteiensystem nicht ausschließt. Das Vereinte Königreich, dieses andere glorreiche Beispiel vergangener Jahre für die Macht einer Regierungschefin, zeigt, dass der Verfall politischer Tugenden und Fähigkeit auch vor den traditionsreichsten Demokratien nicht Halt macht. Effektive Macht hängt an Autorität und Überzeugungskraft gegenüber den Beherrschten, an Disziplin und Loyalität der Parteien und Fraktionen gegenüber ihrer Führung.

Beides gab es in Italien über einen zu langen Zeitraum nicht. Mit der Ausnahme der Staatspräsidenten, die bei aller Kritik über die mögliche Ausdehnung ihrer Kompetenzen in den vergangenen Jahren immer wieder die fragile Stabilität des politischen Systems garantierten. Hinterzimmerpolitik, beschimpfen es die einen. Selbstschutz des Staates vor einer allzu oft unfähigen politischen Führung, könnte man es auch nennen. Und just dann, wenn die Staatspräsidenten wieder zu großer Form aufliefen, wirkte der Gedanke an ein Präsidialsystem besonders charmant. Zuletzt diskutierten Medien und Politik diese Frage, als im Raum stand, dass Mario Draghi ins Amt des Staatsoberhauptes wechseln könne. Für einen wie Draghi wäre ein solches Amt doch wie gemacht, welches Wohl überkame die italienische Nation mit einem mächtigen Presidente della Repubblica wie ihm?! Nur sind nun nicht viele der politischen Exponenten aus einem solchen Holz geschnitzt. Nicht viele haben ein solch tiefes Institutionenverständnis wie Amtsinhaber Sergio Mattarella, frei von egozentrischen Eskapaden. Eine Direktwahl des Staatsoberhauptes würde andere Kandidat:innen hervorbringen als die indirekte, durch hohe Mehrheiten regulierte Wahl mittels parlamentarischer Vollversammlung. Es wäre ein politischer Wettbewerb und die Parteichefs würden antreten: Salvini, Meloni, Schlein, Calenda. Oder früher: Renzi, Berlusconi. Vorstellbar? Natürlich. Wünschenswert? Da sind Zweifel angebracht. Die Wankelmütigkeit, die fehlende Qualität, der Egozentrismus würde kaum weichen, die Intrigen zwischen Parteien und innerhalb der Fraktionen ebensowenig. Was fehlen würde, wäre der externe Ausgleich, die hintergründige Steuerung und Beratung durch den Staatspräsidenten. Ein Sturz oder eine Abwahl des neuen Regierungsoberhaupts wäre schwieriger – dies könnte zu Anpassungen führen, in der Auswahl der Kandidat:innen, in der politischen Taktik, vielleicht zu mehr Ruhe in Gesetzgebungsvorhaben. So, wie es das positive Beispiel der Bürgermeister:innen und Regionalpräsidenten auf lokaler und regionaler Ebene vormachen. Das erhoffen sich die Befürworter:innen, die es ernst meinen mit dem Wohl der italienischen Demokratie. Allerdings: Italien ist kein ausgeprägter Förderalstaat, die Befugnisse von Regionalpräsident:innen sind nicht allzu groß. Einen heterogenen Staat wie Italien zu führen, ist noch einmal eine andere Liga. Insofern hat die Sorge der Gegner eines Präsidialsystems etwas für sich: eine stärkere Spaltung der Gesellschaft, eine weitere Stärkung der Mehrheitslogik ohne Rücksicht auf Minderheitenmeinungen (und womöglich sogar -rechte, blickt man auf die heutige Regierung). Die Unruhe würde sich verlagern, aber nicht verschwinden. Es wäre eine starke Regierung des einen Teils der Gesellschaft gegen die andere. Wohin das führen kann, sieht man an der dritten, „alten“ Demokratie dieser Welt, den USA.

Eine Woche voller Unsäglichkeiten

Schaden an einer Demokratie entsteht nicht nur durch bewusste Umstrukturierung. Auch Unvermögen, fehlende politische Kultur und ideologisch motivierte Entscheidungen tragen dazu bei. Davon zeigt die Regierung Meloni derzeit leider genug.

Putinfreund Berlusconi mutiert zum Risikofaktor der Regierung

Die vergangenen Tage waren reich an Verlautbarungen aus der italienischen Regierung, die ungläubiges Kopfschütteln hervorriefen. Wobei, so ungläubig war es wohl nicht mal, denn alles kam wenig überraschend. Am wenigsten überraschend waren wohl die Äußerungen Berlusconis, mit denen er den ukrainischen Präsidenten Selenskyi diffamierte und zum wiederholten Male zeigte, dass er seinem alten Freund Putin nähersteht als der westlichen Allianz – und auch den Fakten des Ukrainekrieges. Immerhin blieb es diesmal nicht bei einem beschämten Kopfschütteln der europäischen Parteifreunde: Manfred Weber sagte ein Treffen der EVP in Neapel aufgrund von Berlusconis Äußerungen ab. Dabei hatte er noch im Herbst enthusiastisch Wahlkampf für den 86-Jährigen gemacht. Außenminister Antonio Tajani (FI) ist gleichwohl nur wenig zu bedauern, wenn er jetzt gegenüber der EU, der NATO, den USA und den eigenen Koalitionspartnern beschwichtigen darf. Er hat es nie an Loyalität zu Berlusconi fehlen lassen – das ist nun die Folge. Dass Forza Italia sich nicht von ihrer Überfigur emanzipieren kann, liegt am Wesen dieser Partei.

Melonis Minderwertigkeitskomplex gegenüber den europäischen Partnern gefährdet Beziehungen zur EU

Wie weit der Bruch mit den europäischen Partnern reicht, wird noch zu sehen sein. Die Versuche zu kitten und die Solidarität mit der Ukraine keinem Zweifel zu unterstellen, werden umso schwerer fallen, als auch Giorgia Meloni sich zu einigen befremdlichen Äußerungen hinreißen ließ. Hintergrund war das Treffen zwischen Emmanuel Macron, Olaf Scholz und Wolodimir Selenskyi [https://www.zdf.de/nachrichten/politik/meloni-selenskyi-macron-ukraine-krieg-russland-100.html]. Ungefragt (!) ließ sie verlautbaren, sie halte die Organisation dieses Besuchs für unangemessen. Sie war nicht eingeladen, wurde nicht vorab einbezogen – und schmollte deshalb. Sollte es tatsächlich ein diplomatischer Faux-Pas der beiden europäischen Partnerländer gewesen sein – erst Melonis beleidigter Kommentar ließ Italiens Schwäche offenbar werden. Wenn man nicht bei den Großen am Tisch sitzen darf, ändert sich die Situation nicht dadurch, dass man den anderen Vorwürfe macht und sich öffentlich echauffiert. Dann bleibt man erst recht am Katzentisch. Wer Macron dazu nötig, sich wegen eines Treffens mit dem ukrainischen Präsidenten zu rechtfertigen, wird bei der nächsten Gelegenheit sicher nicht mit Wohlwollen empfangen. So etwas sollte man intern regeln.

Es stand schon vor ihrer Wahl zur Regierungschefin zu befürchten, dass Meloni eine schwierige Auffassung davon hat, wie Italiens Gewicht im europäischen Kontext am besten zur Geltung kommen sollte. Sie war damit angetreten, dass sich Italien nicht mehr unterbuttern lassen würde, wie es das vermeintlich über Jahre getan habe. Sie wollte, dass das Land selbstbewusst seine Interessen vertritt, seinem Status als drittgrößte Volkswirtschaft entsprechend. Diese latent aggressive Betonung der eigenen Stärke und Selbstbehauptung wirkte besonders fragwürdig vor dem Hintergrund, dass Mario Draghi währenddessen Italien wie von selbst in eine Führungsrolle innerhalb Europas brachte. Ohne jegliche great-again-Rhetorik. Stärke und Autorität entstehen durch tatsächliches Selbstbewusstsein, nicht durch einen verkappten Minderwertigkeitskomplex, die ganze Zeit zu kurz gekommen zu sein. Genau diesen trägt Giorgia Meloni aber mit sich herum, und während sie anfänglich versuchte, sich möglichst entspannt und souverän auf dem europäischen und internationalen Parkett zu bewegen, ist der Ton nun gereizter. Auf diese Art bringt sich die italienische Regierung allerdings selbst in die Isolation. Das kann gefährlich werden: Unbeachtet und unverstanden am Rand zu stehen, könnte sie dazu bringen, wieder stärker gegen die EU zu polemisieren, Kompromisse scheitern zu lassen, kurzum den Konflikt erneut zu schüren. Was dann passieren könnte, ist vor allem für Italien selbst ein großes Risiko. Es ist abhängig vom Wohlwollen der EU-Kommission hinsichtlich der finanziellen Unterstützung aus dem EU-Wiederaufbaufonds. Ohne diese und andere Mittel, bekommt Italien sehr schnell ein Problem, ebenso wie jede Missstimmung zwischen dem Land und Europa die Finanzmärkte unruhig werden lässt – und damit die Zinsen steigen.

Wegen Sanremo: Die RAI Ziel von Attacken aus der Regierungsfraktion

Auch innenpolitisch war die letzte Woche geprägt von befremdlichen, besorgniserregenden Äußerungen. Wie aus anderen Ländern mit rechtspopulistischen Regierungen bekannt, finden sich Stellschrauben zur Errichtung einer autokratische(re)n Herrschaft insbesondere in der Justiz und den Medien. Zur Justiz an anderer Stelle mehr, lässt doch die Debatte zum größten Unterhaltungsformat des Landes, das Festival von Sanremo, genug aufhorchen: Zahlreiche Mitglieder der Regierungsmehrheit nahmen dessen Ausstrahlung zum Anlass, den Austausch der Führungsriege der staatlichen Rundfunkanstalt RAI zu fordern. Just in dem Jahr, in dem das Festival die höchsten Einschaltquoten überhaupt verzeichnete, und Moderator Amadeus zum eigentlichen Herrscher des Landes gekürt wurde, folgerte die neue politische Führung aus einigen Provokationen und Diskussionen – zu sexualisiert, zu homophil, zu feministisch, zu hohl, zu extravagant, zu politisch – dass sofortiger Handlungsspielraum bestünde. (Dabei war für die meisten, einschließlich Salvini, wahrscheinlich Roberto Begninis Deklamation des Verfassungsartikels 21 über die Meinungs- und Pressefreiheit am unerträglichsten.)

Schon zuvor war über eine Neubesetzung der Hauptgeschäftsführung debattiert worden. Carlo Fuertes war von Mario Draghi eingesetzt worden und wäre regulär noch bis 2024 im Amt. Ein vorzeitiger Austausch wäre schon kritisch genug, tatsächlich eine Fernsehshow hierfür zum Anlass zu nehmen, nur weil einige Inhalte nicht dem Kulturverständnis der Regierung entsprechen, wiegt deutlich schwerer. Sollte es dazu kommen, während zugleich die Leitung der Hauptnachrichtensendungen ausgetauscht wird, ist nicht nur mit einer inhaltlich-programmatischen Neuausrichtung zu rechnen, sondern auch vorauseilender Gehorsam zu fürchten. Wenn nach jeder unliebsamen Übertragung Köpfe rollen – dann schränkt das die Presse- und Meinungsfreiheit wesentlich stärker ein als ein schlicht konservativer Programmdirektor.

Und dann waren ja noch Regionalwahlen im Lazio und der Lombardei. Niemand ging hin. Die Regierungskoalition hat klar gewonnen. Das Land verändert sich, und die meisten nehmen es hin.

Die neue Normalität des Postfaschistischen

Etwas mehr als 100 Tage ist Melonis Regierung im Amt und an den Zwischenbilanzen fällt auf: Es geht um politische Inhalte.

Giorgia Meloni schüttelt Ursula von der Leyen leicht verkrampft die Hand.
Sieht noch nicht nach echter Freundlichkeit aus: Giorgia Meloni und Ursula Von der Leyen. European Union 2022

Giorgia Melonis Regierung der besonderen Attribute – die erste Frau als Premier, die rechteste Regierung aller Zeiten, die erstaunlich schnell gebildete Regierung, die erste klassisch „gewählte“ Regierung seit langem – hat ihre Phase der Luna di miele, der Flitterwochen hinter sich gelassen. Das gab natürlich Anlass für allerlei Bilanzen, bei denen erstaunlich wenig darüber gesprochen wurde, dass hier eine postfaschistische Partei an die Macht gekommen ist, die sich in einer ideologisch-historischen Linie mit dem Movimento Sociale Italiano sieht, der Nachfolgepartei der Faschist:innen.

Die europäischen Nachbarstaaten, insbesondere Deutschland, hatten Italien vor und nach der Wahl äußerst kritisch beäugt – Melonis politische Herkunft und das Personal ihrer plötzlich so erfolgreichen Partei hatten dort weit mehr Sorge ausgelöst als in Italien selbst. Die italienische Sichtweise scheint sich durchzsetzen: Zwar gibt es einiges zu kritisieren an der neuen Regierung, doch die Fundamentalkritik blieb und bleibt aus. Auf europäischer Ebene hat man sich längst wieder anderen Themen zugewandt. Die linke und linksliberale Presse in Italien stürzten sich zwar auf die teils dilettantisch wirkenden Haushaltsverhandlungen, die (halbe) Abschaffung des Bürgergelds, die sinnfreie Debatte, ab welchem Betrag Kartenzahlung ermöglicht werden muss oder nicht. Sie stoßen sich zurecht an Äußerungen des Justizministers Nordio, der harsche Kritik an der Verwendung richterlicher Abhörmethoden äußerte, ohne auf deren Relevanz bei Anti-Mafia-Ermittlungen einzugehen. Deutlich wurde der Umgang mit den NGO-Schiffen kritisiert, welche die neue Regierung – wenig überraschend – gezielt kriminalisiert. Ein wenig Schadenfreude war dabei, als sich Meloni bei Tankstellenstreiks kürzlich erstmals mit Protest gegen ihre Politik konfrontiert sah und dem Bruch eines Wahlkampfversprechens aus früheren Tagen überführt. Roberto Calderoli wurde für seinen Vorschlag einer differenzierten Autonomie der Regionen von allen möglichen Seiten scharf unter Beschuss genommen.

Doch einen Satz hört man häufig, in Kommentaren zur Regierung Meloni: Man kann ihr wohl kaum zum Vorwurf machen, dass eine rechte Regierung die Politik einer rechten Regierung macht. Man kann also nicht einverstanden sein mit ihren Maßnahmen, sie falsch und schlecht für Italiens Entwicklung halten, dagegen protestieren, und allzu fragwürdige Regelungen versuchen zu verhindern. Dabei handelt es sich aber schlicht um die Essenz der politischen und demokratischen Auseinandersetzung. Hier wird um Politik gestritten – nicht um die Fundamente der rechtsstaatlichen Demokratie und auch nicht um Ideologie.

Das ist erst einmal eine gute Nachricht. Vielleicht haben jene Skeptiker:innen Recht, die sagen, dass Meloni sich nur handzahm gibt, solange sie weiß, andernfalls die ganze EU gegen sich zu haben. Sobald sich dort die (Mehrheits-) Verhältnisse änderten, wäre sie zu viel radikaleren Schritten bereit. Vernunft also nur aus politischem Überlebenswillen heraus. Aber aus Europa kommt zur Zeit kein rechts-autokratischer oder -populistischer Rückenwind. Tschechien hat gerade erst proeuropäisch (und anti-russisch) gewählt. Der Krieg in der Ukraine und die Energiekrise stärken den europäischen Zusammenhalt. Gleichzeitig schreckt das politische wie wirtschaftliche Desaster, das zur Zeit in Großbritannien zu beobachten ist, wohl selbst die größten EU-Kritiker:innen ab. Sollte das absehbar so bleiben, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sich Giorgia Meloni und ihre Regierung dauerhaft an die Strukturen und Logiken der EU anpassen, anstatt das ganze Gefüge mit ihren Freunden im Geiste radikal umzukrempeln.

Meloni ist besessen und beseelt davon, für ihre „große Nation“ Italien das Beste zu tun und das Land zu – vermeintlich alter – Stärke zurückzuführen. Dafür braucht sie stabilen Rückhalt in der Wählerschaft und im außen- wie wirtschaftspolitischen Kontext, das hat sie schnell verstanden und entsprechend schon im Wahlkampf Taktik und Rhetorik geändert. Sie weiß auch, dass sie nicht zu stark werden darf, weil das andernfalls heftige Reaktionen ihrer politischen Partner hervorrufen könnte. Dass sie nicht zu radikal sein darf, weil sie sonst die Straße gegen sich aufwiegelt. Vielleicht ist Melonis moderate Politik also nur Kalkül. Wenn das verzweigte Netz aus innen- wie außenpolitischen Gegengewichten sie jedoch weiter dazu zwingt, macht es am Ende kaum einen Unterschied. Hauptsache, Italiens Demokratie bleibt stabil.

Eindeutiger Sieg, fragwürdiges Wahlsystem

Der Erfolg der Rechts-Koalition in Italien fiel deutlich aus und gibt Giorgia Meloni ein klares Mandat zu regieren. Dennoch sorgt das geltende Wahlsystem für Verzerrungen und Unklarheiten, die es dringend zu beheben gälte.

Grafik der Sitzverteilung in der Abgeordnetenkammer Italiens. Centrodestra mit 237 Sitzen, die Lega erhält davon 67. Zur Mehrheit reichen 201 Stimmen.

Keine Frage, die Parteien des rechten Spektrums Fratelli d’Italia, Lega, Forza Italia und Noi moderati handelten vor der ad hoc angesetzten Wahl schnell und klug, schmiedeten vorab eine Koalition und nutzten damit die Eigenheiten des italienischen Wahlsystems [LINK] zu ihren Gunsten: Sie teilten die Direktwahlkreise untereinander auf, anstatt dort jeweils in Konkurrenz zueinander anzutreten. 147 von 400 Sitzen werden in der Abgeordnetenkammer nach dem Prinzip first past the post vergeben, d.h. eine Stimme mehr genügt zum Sieg. 74 von 200 sind es im Senat. Ein strategischer Vorteil gegenüber dem linken Lager, dem es nicht gelang, eine entsprechende Einheit zu bilden und in dem daher – überwiegend – jede:r für sich antrat.

Mehr Sitze (und mehr Macht) für die Lega als das Gesamtergebnis hergibt – wie geht das?

Was für die Rechts-Koalition insgesamt von Vorteil war, hat für den eindeutigen Wahlsieger Fratelli d’Italia allerdings auch Nachteile. Im Vorfeld der Regierungsbildung musste Giorgia Meloni trotz des klaren Votums von 26 Prozent der Gesamtstimmen für FdI mit ihren Partnern und Konkurrenten Silvio Berlusconi und Matteo Salvini harte Kämpfe um die Besetzung von Ministerposten führen – obwohl diese mit lediglich 8.7 und 8.1 Prozent (Abgeordnetenkammer) deutlich abgeschlagen waren. Diese nominelle Schwächung, die aus dem Gesamtstimmenanteil hervorgeht, spiegelt sich nämlich nicht eindeutig in der Sitzverteilung wieder. Anders als im deutschen Wahlsystem werden die Direktmandate nicht mit dem proportionalen Gesamtergebnis einer Partei verrechnet, sondern sie kommen noch hinzu.

Wäre mit einem reinen Verhältniswahlrecht gewählt worden, so hätte die Lega beispielsweise lediglich 35 Sitze in der Abgeordnetenkammer erhalten, Forza Italia nur 32. Tatsächlich verfügen sie nun über 67 beziehungsweise 44 Sitze. Der Abstand zu Fratelli d’Italia mit 118 Sitzen fällt damit gerade im Falle der Lega wesentlich kleiner aus, als es bei einem rein proportionalen System der Fall gewesen wäre. Denn in dem Moment, wo die Rechts-Koalition die Direktwahlkreise untereinander aufteilte, musste sie sich auf Umfrage- und Erfahrungswerte stützen – und Giorgia Meloni selbstverständlich mit dem Machtbewusstsein zwei politischer Alphatiere kalkulieren. Zweier Alphatiere, die in ihrem stabilen Selbstbewusstsein und im Wissen um ihre früheren Erfolge durchaus nicht davon ausgegangen sind, die Führungsposition innerhalb der Koalition so eindeutig an „die Neue“ zu verlieren. Auch Meloni selbst wird kaum in dieser Dimension damit gerechnet haben, zudem war sie seit Auflösung der Parlamentskammern auf allen Ebenen darauf bedacht, möglichst viel Stabilität und Vertrauen in ihre zukünftige Regierung zu bekommen. Ihre tatsächliche Macht und Stärke konnte sie erst zuletzt ausspielen, als das Resultat fest stand und auf inhaltlicher Ebene plötzlich sie Italiens Verankerung im europäischen und atlantischen Verbund garantieren musste, gegenüber dem russophilen Irrlichtern Berlusconis und einiger Lega-Vertreter. Im Regierungsalltag wird sie gleichwohl auf die Geschlossenheit der Koalition angewiesen sein, in beiden Kammern. Einen Vorgeschmack auf kritische Abstimmungen gab es bereits bei der Wahl des Senatspräsidenten Ignazio La Russo, als Forza Italia nicht wie geplant abstimmte und La Russo nur mit Stimmen aus der Opposition ins Amt kam.

Für das politische System Italiens heißt dies zunächst, dass die wahrscheinlich wichtigste Opposition wie so häufig aus der Regierungsmehrheit selbst kommen wird – mit allen Risiken für die Stabilität und Dauer der Regierung Meloni. Allerdings hat das geltende Wahlsystem dafür gesorgt, dass ohne Neuwahl wohl kaum eine alternative Mehrheit zustande kommen wird. Allein das wird den Zusammenhalt der Koalition stärken, da die Anreize zum Aussteigen eher gering bzw. mit hohen Kosten verbunden sind (Neuwahlen). Demgegenüber wäre bei einem reinen Verhältniswahlrecht keine absolute Mehrheit für das rechte Lager zustandegekommen (43,8 Prozent, Camera, 44 Prozent Senato) und Italien hätte keinen klaren Wahlsieger gehabt. Welche negativen Auswirkungen große, lagerübergreifende Koalitionen für die Stabilität der Regierungen und damit für das politische Vorankommen des Landes haben, haben die die letzten beiden Legislaturperioden mehr als deutlich gezeigt.

Kandidaten-Flippern und fehlerhafte Wahlergebnisse. Das Wahlsystem leidet unter handwerklichen Fehlern

Nichtsdestoweniger bleibt das aktuelle Wahlgesetz reformbedürftig. So ist zum Beispiel wenig verständlich, weshalb das Votum für Direktkandidat:innen nicht unabhängig vom Kreuzchen für eine Parteiliste gemacht werden kann. Das würde nicht verhindern, dass Koalitionen sich vorab bei den Direktwahlkreise absprechen. Aber es gäbe der Wählerschaft mehr Wahlfreiheit – warum sollte nicht jemand eine Kandidatin des Terzo Polo wählen, in der Liste aber Fratelli d’Italia? Oder umgekehrt? Ein weiteres Ärgernis sind die mehrfachen Kandidaturen und das komplexe Auszählverfahren. Da Kandidat:innen in mehreren Direkt- und Listenwahlkreisen (uninominali e plurinominali) antreten können, entscheidet sich erst nach der Wahl, über welche der Positionen sie ins Parlament einziehen und wer dann an welcher Stelle für sie in den nicht genutzten Wahlkreisen nachrückt. Hinzu kommt der so genannten „Flipper-Effekte“, der durch den Abgleich der im Wahlkreis erreichten Quoten (und verbleibenden „höchsten Reste“, die nicht in einen vollständigen Sitz umgemünzt werden konnten) mit dem nationalen Ergebnis. Mit der Anpassung ans nationale Ergebnis wird einer Partei ihn ihrem schwächsten Wahlkreis ein Sitz genommen, den sie durch das regionale Ergebnis zu viel hatte, und einer anderen Partei zugeschlagen. Diese Verteilung erfolgt jedoch nur innerhalb der Stimmbezirke, insgesamt verliert die Partei keinen Sitz, weshalb es zu besagten Effekten in anderen Regionen kommt. Emanuele Bracco beschrieb das Phänomen für den Corriere della Sera so anschaulich, dass ich ihn hier – entnommen einem Artikel des Messaggero – schlicht zitieren möchte:

«Se 15.000 leghisti milanesi cambiassero idea e votassero Fratelli d’Italia, Fratelli d’Italia otterrebbe un seggio in più a Cagliari togliendolo a Forza Italia (i cui voti sono rimasti invariati). Forza Italia guadagnerebbe però un seggio in Basilicata, togliendolo alla Lega.» […] Con l’effetto paradossale […] che della serie di aggiustamenti dell’effetto flipper finisca vittima anche «un povero forzista sardo, che ha dovuto lasciare il suo posto a un collega lucano senza che i voti del suo partito siano cambiati né in Sardegna, né in Basilicata»

Il Messaggero, 26.08. 2022

Ein Sitz mehr für FdI in Cagliari, einen weniger dort für FI, dafür einen mehr in der Basilicata, wo die Lega einen Sitz verliert. Und ein Lukaner gewinnt den Sitz eines Sarden, ohne dass sich bei denen irgendwas getan hätte. Ähnlich verlief es mit Umberto Bossi, dem legendären früheren Parteichef der Lega Nord, passiert, der zunächst nicht wiedergewählt schien, schließlich aber doch noch ins Parlament einzog. Das Innenministerium, il Viminale, veröffentlichte vorläufige Ergebnislisten, die später mehrfach korrigiert werden mussten. Auch, weil den Verantwortlichen der Fehler unterlaufen war, die Partei +Europa bei der Stimmverteilung innerhalb der Koalition zu berücksichtigen, auch wenn diese unter der Drei-Prozent-Hürde gelegen hatte. Denn da sie in Koalition mit dem PD angetreten waren, mussten sie dennoch berücksichtigt werden – in Koalitionen liegt die Hürde bei nur einem Prozent.

Blockierte Listen ohne Präferenzstimmen und dennoch Unklarheit, wer eigentlich über welche Liste einzieht

Die Schwierigkeiten in der korrekten Sitzverteilung schaffen Unsicherheiten und Unklarheiten, nicht nur bei den betroffenen Parlamentsmitgliedern. Und das obwohl den Italiener:innen nicht einmal eines ihrer liebsten Wahlinstrumente zur Verfügung steht: die Präferenz. Damit können sie innerhalb einer Parteiliste einen Kandidaten oder eine Kandidatin bevorzugen, der oder die dann bei ausreichend erhaltenen Präferenzen innerhalb der Liste aufsteigt (in Deutschland gibt es das in ähnlicher Form des Kumulierens – wenn mehrere Präferenzstimmen zur Verfügung stehen – auf kommunaler Ebene). Dies wird als wichtiges demokratisches Instrument gegen die Macht der Parteispitzen gesehen, welche die Listen bestimmen. Denn in Italien hat zumeist der Parteichef oder die Chefin das Sagen darüber, wer auf die guten Listenplätze kommt – ein Grund, weshalb etwa Matteo Renzi lange nach dem Ende seiner Erfolgsphase noch zahlreiche Gefolgsleute in der Fraktion des PD hatte und weshalb Matteo Salvini trotz wachsender interner Kritik auf ausreichend Loyalität in der heutigen Lega-Fraktion setzen kann: Es sind „seine“ Leute, die dort sitzen.

Diese Präferenzabgabe gibt es nicht mehr, und trotzdem – oder auch: zudem – ist nicht ganz klar, wer wie über welche Liste nun ins Parlament gekommen ist. Das ist ein Manko und sollte eine Korrektur sein, die auch ohne gänzlich neues Wahlgesetz von der neuen Regierung behoben werden kann und sollte. Denn wenn die Wählerschaft nicht mehr versteht, welchen Effekt ihr Votum eigentlich hat, so schadet dies dem Vertrauen in das demokratische System.

Io sono Giorgia. Italien hat erstmals eine Regierungschefin

Giorgia Meloni wird als erste Frau in der Geschichte Italiens als presidente del Consiglio vereidigt. Die vergangenen Wochen haben einiges offen gelegt über die neue Rechts-Koalition – und vieles im Dunkeln gelassen.

Leitartikel der Repubblica vom 22. Oktober 2022, am Tag von Giorgia Melonis Vereidigung.

Nun geht plötzlich alles ganz schnell. Die Konsultationen im Quirinalspalast bei Staatspräsident Sergio Mattarella dauern nur wenige Minuten. Er erteilt Giorgia Meloni den Auftrag zur Regierungsbildung und kurz darauf wird die Liste der Ministerinnen und Minister veröffentlicht, um die bis kurz vor Schluss noch heftig gestritten wurde. Melonis Vereidigung ist für Samstag angesetzt, die Vertrauensabstimmungen in Abgeordnetenkammer und Senat finden am Montag und Dienstag statt. Pronti per partire, hatte Meloni in den vergangenen Wochen oft betont, sie sind bereit zu starten. Sind sie das? Und was erwartet Italien nun?

Fratelli d’Italia ist die neue rechte Führungsmacht. Die Lega arrangiert sich damit besser als erwartet

Die Wochen nach der Wahl vom 25. September, als die Rechtskoalition aus Fratelli d’Italia, Forza Italia und Lega mit weitere moderaten Parteien deutlich gewann, verliefen alles andere als ruhig. Unmittelbar nach der Wahl hatten viele – die Autorin eingeschlossen – erwartet, dass vor allem der Koalitionspartner Lega, in Person von Matteo Salvini, der designierten Regierungschefin Probleme bereiten würde. Fratelli d’Italia hatten innerhalb des Rechtsbündnis klar die Führungsmacht eingenommen und der Lega vor allem in ihren Kernregionen den Rang abgelaufen. Salvini war intern angeschlagen, und Giorgia Meloni sicher bewusst, dass ein schwacher Parteichef der Lega ihr noch gefährlicher werden könnte als ein starker – weil zu Aggression und Geländegewinn praktisch gezwungen. Daher prägte die Diskussion um die neue Regierung zunächst die Frage: Darf Salvini wieder Innenminister werden, sein Lieblingsposten, den er bereits in der Regierung Conte I inne hatte und zur Profilierung nutzte? Die Antwort lautet nein, Salvini wird Minister für Infrastruktur und Vize-Premier. Diese Entscheidung fiel dann geräuschloser, als zu erwarten gewesen wäre. Das Innenministerium geht an die Lega, Minister wird Matteo Piantedosi, ein Präfekt mit langer Berufserfahrung im Viminale. Alles andere als ein Lautsprecher, aber sicher auch keiner, der gegen eine andernorts getroffene Regierungslinie agieren würde. Ein akzeptabler Kompromiss also. Die Lega erhält zudem das Wirtschaftsministerium, ein gewichtiges, wenn nicht das wichtigste Ministeramt. Doch es ist ein zweischneidiges Schwert: Zum einen erhält es ausgerechnet Giancarlo Giorgetti, Salvinis größter interner Konkurrent, der die Lega als zuverlässiger Partner in der Regierung Draghi hielt. Ein Moderater, der die wirtschaftlichen Interessen des Kernklientels der Lega im Norden im Auge behält, während Salvini populistisch die Bauchregion der Wählerschaft anspricht. Dass Giorgetti Wirtschaftsminister wird, könnte für Salvini auf mittlere Sicht aber sogar von Vorteil sein: In der aktuellen Energie- und Inflationskrise ist dieses Amt nicht nur wichtig, sondern auch undankbar, und viel vom Frust der Bevölkerung wird sich dort abladen.

So oder so, Matteo Salvini gelang es in den vergangenen Wochen weitgehend, das Pokerface zu wahren und die Verhandlungen intern zum bestmöglichen Ergebnis zu führen. Meloni ist es dabei – vorerst – gelungen, sich einerseits in Kernfragen durchzusetzen, und andererseits die Interessen der Lega so zu befrieden, dass kein offener Konflikt zutage trat. Compatezza. Der Wille zur Macht ebnet den Weg zum Kompromiss.

No means no. Berlusconi hadert mit der Rolle als Junior-Junior-Partner

Ganz anders Silvio Berlusconi. Am Tag der gemeinsamen Konsultationen mit Sergio Mattarella blieb von den Attacken auf Giorgia Meloni nur noch eine erhobene Augenbraue übrig. Auf der gemeinsamen Pressekonferenz hatte Meloni da gerade gesagt, dass die Koalition einvernehmlich ihren Namen dem Staatsoberhaupt als Premier vorgeschlagen habe. Berlusconi und Salvini tauschten Blicke, doch anders als der Lega-Chef behielt der Cavaliere seine Mimik nicht unter Kontrolle. Berlusconi hatte einstecken müssen: weder die von ihm favorisierte und ihm treu ergebene Licia Ronzulli sollte Ministerin werden – nicht für Justiz, noch für etwas anderes – noch Maria Elisabetta Casellati das Amt der Guardasigilli erhalten. Das Justizministerium für Forza Italia, welche Ironie, und dann mit einer Person (Casellati) besetzt, die die offensichtlichen Lügen Berlusconis um die Prositution Minderjähriger mit rhethorischer Akrobatik als Wohltätigkeit deutete. Dass diese Absurdität nicht Realität wurde, ist wohl weniger ethischen Grundsätzen der neuen Regierungschefin zu verdanken als strategischen Machtkämpfen und – im Falle von Ronzulli – persönlichen Animositäten. Berlusconi reagierte auf das Nein gegenüber Ronzulli damit, dass seine Gefolgsleute Ignazio la Russa die Wahl zum Senatspräsidenten verweigerten. Gewählt wurde dieser trotzdem, aber die Eskalation war da. Zumal Berlusconi genüsslich einen Zettel auf dem Parlamentspult ausbreitete, auf dem Giorgia Meloni als anmaßend, selbstherrlich, arrogant und beleidigend betitelt wurde. Diese reagierte harsch: Er habe ein Attribut vergessen, sie sei nicht erpressbar. Ist sie nicht, wie es die Zusammensetzung der Ministerriege nun zeigt: Casellati wird Ministerin für Reformen, Justizminster wird der von ihr favorisiert Carlo Nordio. Ob das für das Justizsystem ein Vorteil ist, bleibt fraglich: Im jahrzentelangen Streit um eine politisierte Magistratura steht Nordio auf der Seite der Politiker:innen, die vor den Ermittlungen der Richter:innen und Staatsanwält:innen besser geschützt werden müssen.

Geholfen, sich gegen Berlusconi durchzusetzen, hat Giorgia Meloni am Ende vielleicht, dass der Parteichef Forza Italias die designierte Regierung kurz vor der Ernennung international in größte Bedrängnis brachte. In an die Presse durchgestochenen Audioaufnahmen dozierte Silvio Berlusconi über die angeblichen wirklichen Gründe für Russlands Angriff auf die Ukraine. Die prorussische Haltung Berlusconis und seine alte Freundschaft zu Putin hatten schon im Wahlkampf dazu geführt, dass sich Europa und die Vereinigten Staaten um die Loyalität Italiens sorgten. Die Äußerungen Berlusconis zwangen Meloni nun dazu, so deutlich wie nie zuvor die feste Verankerung Italiens in der EU und im atlantischen Bündnis zu bekräftigen – wer sich in diesen Rahmen nicht einordnen kann und will, wird nicht Teil der Regierung, auch um den Preis, dass es keine Regierung gibt.

Unklar bleibt bislang, wer aus welchen Gründen die Audioaufnahmen an die Presse gegeben hat. Welche internen Querelen in Forza Italia dazu geführt haben, wem geschadet, wem gedient werden sollte. Fakt ist, dass sich binnen Tagen die Situation in der Koalition änderte: Nach der verweigerten Wahl La Russas war noch geunkt worden, Forza Italia scheide aus der Regierung aus, ehe diese überhaupt gebildet würde. Gerüchte über mögliche Abwanderungen in eine andere Fraktion gibt es weiterhin, aber die offene Meuterei ist Geschichte, ehe sie überhaupt begann. Berlusconi hat sich mit seinen Äußerungen zu Putin und Zelensky dermaßen ins politische Abseits gestellt, dass er Giorgia Meloni tatsächlich nicht mehr erpressen konnte – sie ist zwar auf die Stimmen Forza Italias angewiesen, aber ein offensichtlicher Pution-Freund („Er hat mir zwanzig Wodka-Flaschen geschenkt“) als Koalitionspartner schwächt die Regierung international dermaßen, dass FI als Konsequenz keinesfalls wichtige Ministerämter bekleiden dürfte – auch und gerade nicht das des Außenministeriums mit Antonio Tajani.

Also musste Silvio Berlusconi zurückrudern, klarstellen und ebenjenen Tajani zur europäischen Fraktion PPE gehen lassen, um alle Gemüter zu beruhigen. Eregbnis: Tajani – ehemaliger EU-Parlamentspräsident und ebenso unzweifelhafter wie langjähriger EU-Befürworter – wird trotz der Vorkommnisse Außenminister. Meloni hat einen klaren Rahmen gesetzt und ein Machtwort gesprochen. Dass ihre Machtworte auch in Zukunft durchdringen und Salvini wie Berlusconi in die Schranken weisen, ist noch nicht ganz sicher wie die erhobene Augenbraue zeigt. Aber es ist etwas wahrscheinlicher geworden.

Die politische Richtung der neuen Regierung bleibt schwammig.

Melonis Machwort hat einen weiteren Effekt: Ihre unmissverständliche Verortung Italiens in den internationalen Bündnissen lässt sich nicht nur auf die Position im Ukraine-Krieg beziehen. Sie sind ein Bekenntnis zur europäischen und transatlantischen Zusammenarbeit, hinter das sie selbst nicht so leicht zurücktreten kann. Das ist eine gute Nachricht. Dennoch bleibt abzuwarten, wie sich insbesondere die europäische Zusammenarbeit in der Praxis gestalten wird. Während die Besetzung des Außens- und Wirtschaftsministeriums mit Tajani und Giorgetti dahingehend optimistisch stimmen, wirft unter anderem die Besetzung der Parlamentspräsidien Fragen nach der tatsächlichen Verankerung europäischer Werte auf. Dem Mussolini-Verehrer Ignazio La Russa könnte trotz eindeutiger post-faschistischer Biografie zugute gehalten werden, dass er ein inzwischen eine lange politische und institutionelle Karriere hinter sich hat, die in der Regel mäßigend wirkt und ein hohes Amt wie das des Senatspräsidenten – das zweithöchste im Staat – noch zusätzlich ein „senso di Stato“ entwickeln lässt. Doch es bleibt weiterhin schwer erträglich, dass jemand, der alle Italiener:innen zu Erben des Duce erklärt, im institutionellen Prozess der Senatspräsidentschaft die Führung der Geschäfte ausgerechnet von der Holocaust-Überlebenden Liliana Segre übergeben bekommen hat. Sich ihre Ansprache anzuhören kann helfen, das große Ganze nicht aus dem Blick zu verlieren.

Vielleicht noch spaltender ist die Figur Lorenzo Fontanas (Lega), dem neuen Präsidenten der Abgeordnetenkammer. Der ultrakonservative, homophobe Abtreibungsgegner mit Sympathien für Putin und Neigung zur plakativen Äußerung wird es schwer haben, die Gesamtheit der Abgeordneten zu repräsentieren. In seiner ersten Ansprache hob er zwar die Vielfalt und Diversität Italiens und seiner Bevölkerung hervor, die seinen Reichtum begründe, doch kann man sich des Eindrucks schwerlich erwehren, dass er vor allem sich selbst und die seinen in der Rolle der von ihm benannten Minderheiten sieht, die es zu schützen gelte.

Wohin strebt also die neue Regierung? Europäisch, atlantisch, moderat und wirtschaftsliberal? Oder erzkonservativ, marktgläubig, sovranistisch und rassistisch? Anzeichen gibt es nach wie vor für beide Richtungen, und die Grenzen verlaufen nicht parallel zu den neuen machtpolitischen Gräben. Moderate Kräfte gibt es in allen drei Parteien, radikale auch. Den Willen zur Macht ebenfalls, auch innerhalb der Parteien. Welche politische Haltung welchem Machtstreben nutzt, ist noch nicht ganz ausgemacht. Giorgia Meloni jedenfalls will zunächst ruhige Fahrwasser für ihre neue Regierung und das heißt noch: weitgehend im Einklang mit den europäischen Partnern.

Die Regeln des Spiels.

Der Partito Democratico moniert das Wahlsystem, Giorgia Meloni will ein Präsidialsystem einführen. Wie so oft sind in Italien die politischen Spielregeln Teil des politischen Wettkampfs.

Spielbrett mit Würfel

Am 25. September wählt Italien ein neues Parlament und bekommt eine neue Regierung. Ganz Europa und ein Teil der Welt schaut besorgt auf das Land und den Wahlausgang. Neben den inhaltlichen Fragen um internationale Ausrichtung, Minderheitenrechte oder Fiskalpolitik werden in Italien auch wieder institutionelle Fragen diskutiert, vom Wahlgesetz bis zur angekündigten Direktwahl des Staatsoberhaupts. Erneut sind damit die demokratisch-rechtlichen Spielregeln Teil der politischen Auseinandersetzung, anstatt dass sie die allseits akzeptierte Grundlage für den Wettbewerb der Parteien bilden. Italiens politische Instabilität rührt auch daher.

Das Rosatellum. Ein Wahlgesetz, das heute nicht mehr (allen) gefällt

So äußern sich insbesondere Vertreter:innen des Partito Democratico negativ über das geltende Wahlgesetz, das so genannte Rosatellum. Enrico Letta, Vorsitzender des Partito Democratico, schlug kürzlich Alarm, das Rechts-Bündnis könne wegen dieses schlechtesten Wahlgesetzes, das das Land je gesehen habe, eine Zweidrittelmehrheit holen: „La peggiore legge elettorale che ha visto il nostro Paese potrebbe dare uno scenario da incubo: con il 43 per cento dei voti la destra potrebbe arrivare al 70 per cento dei seggi in Parlamento„, zitiert ihn La Repubblica. Auch der Mailänder Oberbürgermeister Sala, stets für den PD angetreten, schimpfte über das schlechte Wahlsystem. Da sollte niemand so genau nachfragen, wer denn dieses Wahlgesetz eigentlich zu verantworten hat. Dies war nämlich federführend der Partito Democratico selbst, in Allianz mit den heutigen politischen Gegnern FI und Lega. Mit diesem 2017 beschlossenen und nach Ettore Rosato (damals Fraktionsvorsitzender PD) benannten Gesetz haben sie sich ganz offensichtlich selbst keinen Gefallen getan. Denn da der PD nicht in einer nennenswerten Koalition, sondern vornehmlich allein antritt, hat er kaum eine Chance auf eine Regierungsoption – obgleich er wahrscheinlich zweitstärkste Kraft werden wird. Warum? Weil das Wahlgesetz belohnt, wer vor der Wahl Koalitionen bildet, und wer allein kämpft, kämpft schon auf verlorenem Posten. Wie kam es dazu?

Als das Verfassungsgericht 2017 das so genannte, von Matteo Renzi erdachte Italicum in den Teilen für verfassungswidrig erklärte, wo es aus einer nicht vorhandenen Stimmenmehrheit gleichwohl und unverhältnismäßig eine Parlamentsmehrheit kreieren wollte, hatte Italien übergangsweise einen Wahlmodus nach Verhältniswahlrecht. Das wollte der Gesetzgeber aufgreifen, und dazu sollte das deutsche Modell Pate stehen: Ein Mix aus Mehrheits- und Verhältniswahlrecht. Deshalb wird ein geringerer Teil durch Direktkandidaten nach einfachem Mehrheitsprinzip gewählt, der Rest proportional nach Stimmanteil der Listen. Die Sache hat nur einen Haken: Es gibt kein voto disgiunto, das heißt, wähle ich den Direktkandidaten, wähle ich auch dessen Liste. Und umgekehrt. Und anders als in Deutschland gibt es keine Überhangmandate, mit denen am Ende die Sitzverteilung im Parlament die Stimmanteile der Listenwahl widerspiegelt. Wenn aber bereits eine fettes Stück Torte durch die Direktmandate vergeben wird, ist es umso wichtiger, diese zu gewinnen. Und wenn man diese gewinnt, dann hat man auch schon einen großen Teil der Listenplätze für sich entschieden. Also bietet sich an, Koalitionen zu bilden und die Wahlkreise unter sich aufzuteilen. Genau das ist in den letzten Wochen geschehen, dem PD sind allerdings die Koalitionspartner abhanden gekommen.

Damit wendet sich die Ausrichtung des Wahlgesetz gegen ihre eigenen Ideatoren. Damals – es ist gerade einmal fünf Jahre her – hatte insbesondere die Fünf-Sterne-Bewegung wenig Aussichten auf Bildung einer Koalition im Vorfeld einer Wahl. Diese potenzielle Schwächung der aufstrebenden Oppositionspartei lief ins Leere, M5S wurde Wahlsieger und war an allen drei Regierungen dieser Legislatur maßgeblich beteiligt – anders als übrigens an der Gestaltung des Wahlgesetzes selbst. Nachdem nämlich ein erster Entwurf noch mit ihnen zusammen ausgearbeitet worden war, genügte ein zusätzlich eingebrachter Änderungsantrag bezüglich des Trentino, der dem PD nicht gefiel, um den Pakt für eine der zentralen institutionellen Reformen zu zerstören.

Eine solche auf Eigeninteressen beruhende Änderung des Wahlsystems ist leider nichts Neues: Der Vorgänger des Rosatellum, besagtes Italicum, wurde zwar niemals angewendet, war aber in der Gestaltung ganz den Vorstellungen des damaligen Parteivorsitzenden des PD, Matteo Renzi, nach gestaltet: 40 Prozent der Stimmen sollten reichen, um einen Mehrheitsbonus an Parlamentssitzen zu erhalten – wie viel Prozent hatte der PD kurz zuvor bei den Europawahlen geholt? Genau, 40. Außerdem hätte er sich den Einfluss auf die Besetzung der Spitzenlistenplätze gesichert, was seine Führungsstil entsprach. Das so genannte Porcellum – der Name spricht für sich: eine Schweinerei – von 2005 war nicht wirklich besser. Hier wurde das Wahlgesetz als Interessensausgleich für die parallel vorbereitete Verfassungsreform verwendet, und insbesondere den kleineren Parteien entgegengekommen. Am Ende kam etwas heraus, das eine gesicherte Mehrheit in beiden Parlamentskammern schier unmöglich machte – die aber beide die Regierung stützen. Die Verfassungsreform trat bekanntlich nicht in Kraft, das Wahlgesetz aber blieb.

Insofern ist das Rosatellum kaum das schlechteste Wahlgesetz aller Zeiten, wie Enrico Letta konstatierte, aber es ist sicher auch nicht besonders gut. Deshalb wurde vor einigen Monaten noch über eine erneute Reform diskutiert, die dann wahrscheinlich der heutigen Interessenlage der Parteien entsprochen hätte. Und das heißt weniger: Welches System tariert am besten Repräsentation des Wählerwillens und Regierungsfähigkeit miteinander aus?, sondern vor allem: mit welchem Syste habe ich, Partei x, die besten Aussichten auf einen Wahlsieg? Allein, zur Zeit ist die Rechts-Koalition sicher ganz zufrieden mit der Aussicht, auch mit einer relativen Mehrheit eine verfassungsändernde parlamentarische Mehrheit erlangen zu können. Was direkt überleitet zur nächsten institutionellen Frage, der Einführung des Präsidialsystems.

Lieblingsprojekt der Rechten: Ein präsidiales System

Giorgia Meloni hat es in ihren Wahlkampfauftritten unterstrichen: Ihre Partei Fratelli d’Italia strebt die Direktwahl des Staatsoberhauptes an. Erst im Mai diesen Jahres hatten sie einen entsprechenden Gesetzesenwurf ins Parlament zur Abstimmung gegeben. Liest man des Gesetzestext und hört man Melonis Argumentation, kommt einem das alles äußerst bekannt vor. Das Präsidialsystem wäre an jenes in Frankreich angelehnt, die Bürger:innen bekämen mehr Einfluss, das Staatsoberhaupt mehr Rechte gegenüber dem sich zu oft als unfähig erweisenden Parlament und diese ganzen Hinterzimmer-Beschlüsse zur Bildung einer Regierung hätten endlich ein Ende. Wer möchte, kann das Pro und Contra für ein solches System in den Protokollen der verfassungsgebenden Versammlung Italiens nachlesen, oder in jenen der Commissione Bicamerale, mit der 1997 der Versuch einer umfassenden Verfassungsreform in Angriff genommen wurde. Die einen erhoffen sich davon eine einende Figur, die politische Programme oberhalb des oft fragmentierten Parlaments, in dem es häufig zu Austritten aus und Neubildungen von Fraktionen kommt. Dass mit einem auf fünf Jahre direkt gewählten Präsidenten – bisher waren es immer Männer – endlich die notwendige politische Stabilität einkehren würde. Die anderen fürchten, dass in einem nach wie vor oder immer wieder anders gespaltenen Italien ein Präsident aus einem der politischen Lager genau diese Spaltung weiter vertiefen könnte. Dass zudem die in den vergangenen Jahren so wichtig gewordene Figur des Staatsoberhaupts als mäßigendem Hüter der Spielregeln, als Garant für institutionelle Stabilität, aber nicht für politische Programmatik, ersatzlos wegfallen würde und dem Auf und Ab des politischen Wettbewerbs und dem Wankelmut der italiensichen Wählerschaft (siehe dazu auch den Artikel von Ulrich Ladurner in der aktuellen Ausgabe der Zeit) ausgesetzt würde.

Das Problem an der Idee des Präsidialsystems ist nicht, dass es per se schlecht für Italien wäre oder dass es der erste Schritt Melonis in ein neues faschistisches System bedeuten würde. Das Problem ist die durchaus reale Gefahr, dass die Reform entgegen den jetzigen Beteuerungen auch ohne Einbindung der Opposition durchgezogen werden könnte. Präzedenzfälle für Verfassungsreformen eines einzelnen politischen Lagers gibt es genug – 2001, 2005, 2015 – und eine Einigung mit dem PD scheint derzeit mehr als unwahrscheinlich. Erst recht wäre dieses Szenario zu erwarten, wenn FdI, Lega und Forza Italia gemeinsam wirklich mehr als zwei Drittel der Parlamentssitze erhalten sollten. Denn dann gäbe es nicht einmal die Möglichkeit, per Verfassungsreferendum über die Reform abzustimmen, das heißt, man bräuchte keine Mobilisierung der Opposition dafür befürchten. Da die Zweidrittelmehrheit aber nur eine parlamentarische, keine reale wäre, bekäme Italien erneut eine institutionelle Reform nach dem Gusto der derzeit Regierenden.

Die Spielregeln bestimmt, wer regiert?

Doch die Vielzahl an interessengeleiteten institutionellen Reformen hat Italiens politisches System – neben einigen anderen Faktoren – über die letzten Jahrzehnte geschwächt und willkürlicher erscheinen lassen. Es gab immer zwar wieder Momente, die zeigten, dass das bestehende System doch hält und funktioniert – zuletzt etwa bei Mattarellas Wiederwahl, die letztlich von den Abgeordneten ausging, oder bei den Verfassungsreferenden 2006 und 2016, in denen eben die weit reichenden, aber von einer Seite kommenden (und zudem schlecht ausgearbeiteten) Reformen verhindert wurden. Was würde es für Italien bedeuten, wenn Fratelli d’Italia den Präsidentialismus als ihr Lieblingsprojekt tatsächlich realisieren würden? Wahrscheinlich gespickt mit faulen Kompromissen mit der Lega und Forza Italia, die dann ihrerseits gern ein paar institutionelle Lieblingsprojekte verwirklicht sehen wollen (im Falle der Lega: Mehr Förderalismus; bei Forza Italia wohl eine Entschädigung dafür, dass es nicht die starke premiership geworden ist). Denn darum geht es leider: Dass Parteien oder politische Lager ihre Prestigeprojekte umgesetzt sehen wollen. So wie die Fünf-Sterne unbedingt die Reduktion der Parlamentarier:innen wollten – und mithilfe des PD auch bekommen haben.

Und nun stehen sie da und müssen zusehen, dass diese Reduktion und das Wahlgesetz nur sie selbst als Opposition schwächen und sie somit daran mitgewirkt haben, die Bahn frei zu machen für noch eine größere, einseitige Reform. Eine Chance, etwas daran zu ändern, gäbe es schlechtestenfalls nur noch, wenn sie selbst wieder an die Regierung kommen. Die Regeln des politischen Spiels aber werden dann endgültig zu dem, was sie genau nicht sein sollten: Ein Instrument in der Hand der Regierenden.

Die Rückkehr der Politik

Die Parteichefs nehmen wieder das Heft des Handelns in die Hand und jagen die „Experten“ vom Hof. Das lässt leider nichts Gutes erwarten, wie die letzten Tage eindrücklich gezeigt haben.

Titelbild der Frankfurter Rundschau mit Mario Draghi am Tag seines Rücktritts
Titelseite der Frankfurter Rundschau am Tag nach Draghis Rücktritt.

Man kann der Ansicht sein, die Regierung in einer Demokratie sollte aus dem Wahlergebnis hervorgehen und wenn nicht direkt legitimiert, so doch zumindest nah am Wähler:innenvotum ausgerichtet sein. Man kann der Ansicht sein, dass nach mehreren Regierungswechseln, die jeweils eine sehr unterschiedliche politische Ausrichtung brachten, und einigen Häutungen und Abspaltungen innerhalb der Parteien und Fraktionen es nun Zeit ist, die Zusammensetzung der Parlamente noch einmal durch die Wähler:innen prüfen zu lassen. Man kann der Ansicht sein, dass eine Vielparteienregierung, in der die Fliehkräfte dominieren und in der es an zu vielen Stellen sehr großen Aufwands bedarf, alles zusammenzuhalten, dass diese Regierung einen Schlussstrich zieht. Man kann also durchaus finden, dass es gute Gründe dafür gibt, dass Mario Draghi sein Amt als Ministerpräsident aufgibt und Italien am 25. September ein neues Parlament wählt – und eine neue Regierung bekommt.

Gründe, die einen zu der gegenteiligen Meinung kommen lassen, wurden in den letzten Tagen ebenfalls einige genannt: die Vielzahl der Krisen, die es akut und gleichzeitig zu bewältigen gilt, der enge Zeitplan des Wiederaufbaufonds, dessen Einhaltung Bedinung für die nächsten Überweiseung aus Brüssel ist, das hohen Ansehe, das Italien dank Draghi international endlich wieder gewonnen hat, die nun drohende Wiederkehr der Eurokrise und schließlich die Sorge, das die Postfaschist:innen die nächste Wahl gewinnen können. Das alles sind vernünftige und richtige Argumente, dennoch liegt das Deprimierendste und Beängstigendste an diesem Regierungsende meines Erachtens woanders. Das Spektakel, was das politische Italien von vorvorigem Donnerstag bis letzten Mittwoch bot, macht fassungslos aus einem Grund, den etwa die ehemaligen Ministerin Elsa Fornero in der Sendung metropolis unterstrich: Die Motivation, die hinter dem Agieren von M5S, Lega und Forza Italia lag, die Ziele, die sie mit ihrem Handeln verbanden, waren so klein und so kurzsichtig und sie standen in keinem Verhältnis zum Ausmaß des Schadens, den sie verursachten.

Giuseppe Conte und die, die ihm an Mitstreiter:innen geblieben sind, sahen ihre Felle davonschwimmen und in ihrer Verzweiflung eskalierten sie inhaltliche Unstimmigkeiten, bis sie nicht mehr einzufangen waren. Nun beschweren sie sich, dass sie niemals die Regierung haben stürzen wollen und warum denn nun ihnen alle die Schuld in die Schuhe schöben. Aber wenn sie auf dem Weg der Eskalation nicht gemerkt haben, mit wem sie es in Mario Draghi zu tun haben – jemandem, der taktische Spielchen ebenso verachtet wie mangelhaftes Arbeiten und fest zu seinen Grundsätzen steht – und wer ihre Koalitionspartner in dieser Regierung der nationalen „Einheit“ sind – u.a. die Lega Salvinis, der wie ein Raubtier die schwachen Momente der politischen Gegner ausnutzt – dann haben sie kein diplomatisches Gespür und offensichtlich keine Fähigkeit zur erfolgreichen Verhandlung. Oder sie haben es durchaus mitbekommen, und sind sehenden Auges in das grand finale gelaufen, weil ihnen das eigene politische Überleben wichtiger war als das Wohl des Landes. Dann sind aber auch ihre Beschwerden und Rechtfertigungen nur Heuchelei und Lüge. In beiden Fällen disqualifizieren sie sich als politische Führungskraft.

Matteo Salvini sah die Gunst der Stunde, den König zu ermorden ohne Königsmörder zu sein. Im Grunde befand er sich in einer ähnlich verzweifelten Lage wie Conte, nur nicht ganz so akut. Aber sein Führungsanspruch innerhalb des Mitte-Rechts-Lagers steht seit längerem auf tönernen Füßen, haben Fratelli d’Italia die Lega doch sogar in ihren Kerngebieten in Sachen Wählerstimmen überholt. Entsprechend wackelt auch seine Position als Parteichef, zumal die Kritik an seinem souveränistisch-nationalen Kurs vom traditionellen Parteiflügel während der Draghi-Regierung immer lauter wurde. Flucht nach vorn und Angriff sind Salivinis Spezialitäten, wen kümmert es da, das ohnehin in neun Monaten gewählt worden wäre und auch jetzt Giorgia Meloni in den Umfragen weit vor der Lega liegt? Hauptsache, jetzt schon nicht mehr staatstragend sein müssen – was Minister Giorgetti sowieso viel besser kann und damit ungeheuer nervte – sondern lieber wieder direkt in den Wahlkampf, wieder Lautsprecher sein, wieder die Häfen schließen wollen und gegen Migranten hetzen. Weder Salvini noch Conte profitieren wirklich von der jetzigen Wahl im Vergleich zu der regulären im Frühjahr 2023. Es gibt keine Übergangszeit für sie in der Opposition, in der sie sich inhaltlich hätten konsolidieren können. Der einzige Vorteil: Sie können jetzt sofort sloganhaft unrealistische Positionen vertreten und die anderen des Versagens beschuldigen, ohne dass sie jemand zur Räson ruft – die mäßigende Wirkung der Regierung und Person Draghi ist ja passé.

Somit bleiben als Motivation a) die eigene Führungsposition in der Partei absichern und b) eventuell, aber nicht sicher, ein paar Prozentpunkte gut machen bis zur Wahl.

Das ist nicht viel.

Und über Silvio Berlusconis Forza Italia haben wir noch gar nicht gesprochen. Es hagelt Austritte, alle drei Minister:innen kehren der altehrwürdigsten unter den populistischen Parteien den Rücken. Viel ändern wird es nicht. Die zehn Prozent Wählerstimmenanteil, die Forza Italia laut Umfragen auf sich vereint, verdanken sie nach wie vor der Person Berlusconi – nicht, weil diese unbelehrbaren Italiener:innen immer noch an die Versprechungen dieses Schönfärbers glauben. Sondern weil Berlusconi, so altersenil er langsam werden mag, noch immer ausreichend Einfluss hat und noch immer genug Fäden zusammenhält, um eben diesen Stimmenanteil zu bekommen. Insofern werden die ausgetretenen Spitzenpolitiker:innen entweder einer bestehenen nennenswerten Partei beitreten müssen, oder in der Versenkung verschwinden. Denn in der Mitte neben Berlusconi ist kein Platz, seit Jahrzehnten nicht.

Berlusconis Motiv? Schwierig. Die Überraschung ist groß, bei vielen auch die Enttäuschung. Da er kurz nach Draghis Rücktritt ankündigte, selbst wieder für den Senat kandidieren zu wollen, wird spekuliert, er wollte endlich seine Rückkehr in ein politisches Amt verwirklichen. Und eine kleine Revanche dafür, dass ihn die Regierungsmehrheit nicht ins Amt des Staatsoberhauptes hieven wollte? Im besten Fall war es Bündnistreue: Entweder jetzt an der Seite von Salvini und Meloni für sofortige Neuwahlen oder das Mitte-Rechts-Bündnis ist tot. Das war es in den vergangenen Monaten zwar schon öfter, aber Totgesagte leben länger.

Kurzsichtige Motive, kleinliche, selbstgefällige Motive. Sie lassen ahnen, wie diese Personen ihre Regierungsverantwortung wahrnehmen würden: nur ausgerichtet auf den kurzfristigen, persönlichen Gewinn, nicht auf das große Ganze oder gar auf den Erfolg in der Sache – durch Sachpolitik. Dies hebelt die eingangs genannten Argumente, warum nun passiert, was passiert nicht aus. Aber es macht den Abgang Draghis umso bitterer und die den Blick in Italiens Zukunft umso düsterer.

PS:

Früher war nicht alles besser, aber fast schon könnte man nostalgisch werden, wurden doch zu Berlusconis besten Zeiten Gesetze wenigstens geschrieben, um ihn persönlich vor einer Verurteilung zu schützen. Oder wenn die Justiz zu reformieren versucht wurde, damit sie die Korruption nicht aufdeckt. Oder wenn politische Intrigen geschmiedet wurden, weil man die Beteiligung der Linken an der Regierung verhindern wollte oder einen Staatsstreich vorbereiten. Einen Staatsstreich! Die Geschichte der italienischen Politik ist voll von unlauteren Absichten, die fragwürdiges Handeln, das Scheitern von Regierungen motivierten. Ein paar Wählerstimmen sind demgegenüber in jeder Hinsicht niederschmetternd.