Die Stärke der Rechten

Melonis Regierung ist stabil wie kaum eine vor ihr. Hat Italien jetzt also endlich die Regierung, die es wollte?

In Italien hat es in der Summe mehr rechte als linke Regierungen geben, weshalb es also nicht verwundern dürfte, das eine rechte Regierung deutlich fester im Sattel sitzt als manche linke oder gemischte vor ihr. Nur dass diese hier das Präfix „ultra-“ verdient hat und noch sicherer durch die Legislatur zu navigieren scheint als ihre rechten Vorgänger. Damit drängt sich erneut die Frage auf, die schon zur Wahl im September 2022 allerorten alarmierte: Ist Italien jetzt ein ultrarechtes Land geworden? Hat es einen tiefgreifenden politischen, ideologischen Wandel gegeben? Bleibt Italien jetzt rechts? Die ersten beiden Fragen würde ich klar verneinen, die dritte hat jedoch einiges Potenzial, mit Ja beantwortet werden zu können. Das wirkt paradox? Ist es aber nicht. Machtwille, Oppositionsschwäche und politische Resignation sind die Kombination, aus der Melonis Erfolg resultiert.

Faktor 1: Machtwille und Moderation

Der erste Grund für Melonis erfolgreiches Regieren ist an dieser Stelle schon mehrfach zur Sprache gekommen und soll daher nur kurz angerissen werden: Ihr gelingt es seit Amtsantritt, sowohl den faschistoiden Parteikollegen als auch den rechtspopulistischen Koalitionspartnern der Lega genau so viel Raum zu geben, dass sie den harten Kern der Wählerschaft bei der Stange halten und sich ausreichend profilieren können, damit sie nicht rebellieren. Denn zugleich gibt sich Meloni insbesondere auf internationaler Ebene moderat, gesprächsbereit, verlässlich. Keine radikalen wirtschafts- und finanzpolitischen Manöver und Bündnistreue im Falle des Ukraine-Krieges. Innerkoalitionär hält sie sich solange aus Polemiken und Streitereien raus, bis es nicht mehr geht, dann stellt sie sich zumeist vor ihre Kollegen und sagt intern: Basta. Machterhalt steht ganz vorn, deshalb geht Loyalität vor eigener Profilierung

Faktor 2: Die Opposition

Von dieser Eigenschaft könnten sich insbesondere die Kleinpartei-Anführer Carlo Calenda und Matteo Renzi etwas abschauen. Aber wenn es auf die ankäme, dann wäre die Situation schon eine ganz andere und Melonis Rechts-Koalition hätte ernsthafte Konkurrenz. Hat sie aber nicht. Und das liegt nicht an den profilierungssüchtigen Politikern der selbsterkorenen „Mitte“, sondern am Partito Democratico und dem Movimento 5 Stelle.

Für einen kurzen Moment nach der Regionalwahl in Sardinien im Februar sah es so aus, als könnte sich der Zusammenschluss von PD und M5S zum Kern des campo largo – dem Zusammenschluss aller Oppositionsparteien – tatsächlich zu einer Wahlalternative entwickeln. Dort gewann mit Alessandra Todde eine lokal und regional gut gelittene, pragmatische Kandidatin der Fünf-Sterne – allerdings im Endergebnis doch deutlich knapper als am Wahlabend vorausgesehen. Meloni hatte mit ihrem Kandidaten ein paar strategische Fehler begangen, aber die große Krise der Regierungskoalition, die manche da schon herbeireden wollten, folgte daraus nicht. Auch hier wirkte die Geschlossenheit nach außen, bei aller Kritik, die es intern gegeben haben wird. Vor allem aber konnte das Mitte-Links-Bündnis einen Monat später in den Abbruzzen den Erfolg nicht wiederholen und unterlag klar dem Kandidaten der Rechten. Parallel begannen die öffentlich ausgetragenen Streitigkeiten um die Kandidatensuche zur Regionalwahl in der Basilicata und für den Oberbürgermeisterkandidaten in Bari. Dort, in Bari, zeigt sich nun die geringe Haltbarkeit des Bündnisses: Der Kommune droht Zwangsverwaltung wegen mafiöser Verstrickungen. Es wurden Anklagen gegen 130 Personen erlassen, während sich der Fall auf die Regionalregierung ausbreitet: Im Zentrum der politischen Diskussion steht nun der Kauf von Wählerstimmen, derentwegen die Beigeordnete der Region für Transport & Verkehr, Anita Maurodinoia, inzwischen zurückgetreten ist.

Für Giuseppe Conte, dem Vorsitzenden des M5S, tut es wenig zur Sache, dass seine Bewegung selbst Mitglied der Regionalregierung war, und die Angeklagten eigentlich aus dem Mitte-Rechts-Spektrum kommen und erst später zur linken Regierungsmehrheit übergewechselt sind. Wenn es um Stimmenkauf, um politische Korruption geht, dann ist der Kern der Fünf-Sterne-Bewegung getroffen. Nicht umsonst war ihr Slogan jahrelang onestà, Rechtschaffenheit. Eine Partei, die sich nicht klar von mafiösen Verstrickungen und gekauften Wählerstimmen distanzieren kann, ist kein Partner. Hier bedarf es klarer Kante, und so sind die Fünf-Sterne-Mitglieder der regionalen giunta mittlerweile von ihren Ämtern zurückgetreten – und fordern eine ähnlich klare Haltung unwirsch vom PD. Hier geht Profilierung definitiv vor Loyalität. In Bezug auf den Machtwillen fällt das Urteil weniger eindeutig aus: M5S hat viel zu verlieren, wenn sich die Bewegung nicht klar distanziert. Und gegebenenfalls etwas zu gewinnen, sollte der Makel der Korruption am PD haften bleiben. Nicht zu unrecht müssen sie sich daher den Vorwurf gefallen lassen, letztlich doch die Stimmen vom potenziellen Koalitionspartner klauen zu wollen anstatt vom Mitte-Rechts-Lager. Tatsächlich sind PD und M5S in inhaltlichen Fragen oft weit auseinander, etwa in der Haltung zur EU und zur Migration, doch die Gräben wirken auch deshalb so tief, weil sie anders als Melonis Regierungsbündnis die Sticheleien untereinander schlecht aushalten und vertiefen statt sie zu kitten. Angesichts eines solchen Skandals wie in Apulien halten die dünnen Bänder des Bündnisses dann umso weniger.

Für den Partito democratico ist es eine desaströse Lage: Auch im eigenen Wählerfeld gehören Korruption und politischer Betrug wohl zu den schlimmsten Vergehen (anders als in Teilen der rechten Wählerschaft, die schließlich jahrzehntelang problemlos Silvio Berlusconi wählte). Zudem mangelt es der Partei nach wie vor an inhaltlichem Profil, sie ist nach wie vor zwischen verschiedenen Strömungen hin und her gerissen. Da war es unabdingbar, sich wenigstens wieder als Alternative mit realistischer Machtoption präsentieren zu können – und das geht in der aktuellen Lage nur über den Movimento 5 Stelle. Verliert der PD nun kurz- bis mittelfristig diese Option, sehen selbst die eigenen Anhänger kaum noch eine Perspektive. Die Unterstützer des Mitte-Links-Lagers sind also nicht zwingend alle nach rechts gerutscht, sie sehen nur womöglich keine aussichtsreichen und/oder glaubwürdigen Kandidat:innen. Dieses Proble ist speziell für den PD nicht neu. Schon bei einigen vergangenen Wahlen häuften sich (Selbst-)Berichte, wonach „man wieder PD wählte“, einfach nur, weil man es immer getan hatte, nicht weil man überzeugt gewesen wäre oder sich etwas davon versprach. Somit verfallen die Wählerinnen und Wähler zunehmend in Agonie – und gehen gar nicht mehr zur Wahl.

Faktor 3: Abstinenz

Was kostet eine Wählerstimme? Die oben genannten Skandale lassen den Blick nicht nur auf die Politiker:innen richten, die sich mit Geld einen Sitz im Kommunal- oder Regionalrat sicherten (nicht nur in Apulien, auch im Piemont und auf Sizilien laufen Ermittlungen). Was ist den Wählerinnen ihre Stimme wert? 50 Euro, wie es scheint. Oder eine bezahlte Rechnung. Heizung, Strom, ist schließlich alles teurer geworden. Klassisch natürlich auch der angebotene Arbeits- oder Ausbildungsplatz. Wie Goffredo Buccini im Corriere della Sera vom 8. April zurecht feststellt, sagt der Tauschwert einer Wählerstimme viel über den Stellenwert der Demokratie aus. Beziehungsweise über den empfundenen Wert des eigenen Votums: Wenn ich breitwillig die inzwischen berühmt gewordene bombola di gas, die Gasflasche fürs Haus, gegen mein höchstes demokratisches Recht, frei zu wählen, eintausche, dann muss ich überzeugt sein, dass mir die Gasflasche mehr bringt als die Wahl.

Das ist eine traurige Feststellung. Und doch eine, die ins Bild passt. Denn immerhin bekommt die Person eine Gasflasche, oder eine bezahlte Rechnung. All diejenigen, die weder in Sardinien noch in den Abruzzen ihre Stimme gar nicht erst abgegeben haben, erhalten gar nichts. Ist damit nicht schlau, wer sich wenigstens fünzig Euro in die Hand drücken lässt? 47,81 Prozent erhielt die „Partei der Nichtwählenden“ in den Abbruzzen, 47,7 Prozent in Sardinien. Zur nationalen Parlamentswahl im September 2022 waren es zwar nur 36,09 Prozent, aber immerhin hielt es mehr als ein Drittel für verzichtbar, seine Stimme abzugeben. Jedes Mal wird dies erschrocken vermerkt – und dann konzentriert man sich auf die Reaktionen und Streitereien der Parteien, obwohl diese im Vergleich viel weniger Zuspruch erhielten: Die stärkste Kraft Fratelli d’Italia erhielt in den Abruzzen gerade mal 24,1 Prozent der abgegebenen Stimmen. Es werden alle Politiker:innen angehört, was sie zum Wahlergebnis sagen, dabei wäre es interessant zu hören, was die Einwohnerinnen der Kommunen zu sagen haben, in denen fast 80 Prozent der Wahlberechtigten zuhause blieben.

Wahrscheinlich sagen sie: Es macht keinen Unterschied. Ich versuche, über die Runden zu kommen, meine Sorgen sind die Rechnungen, die Arbeit, die Kinder oder auch die fehlende Arbeit der Kinder, liegt die Jugendlichenarbeitslosigkeit in der Region doch laut Eurostat bei mehr als 19,5 (2021). Die Auffassung, dass sich ohnehin nichts ändert, mag nicht gerechtfertigt sein. Gleichwohl nähren Politiker:innen verschiedener Parteien immer wieder das Narrativ, dass es den anderen Parteien nur um Ämter und Zugriff auf Pfründe ginge. Solche Nachrichten wie die aus Apulien verstärken dieses Bild, ebenso die kontinuierlichen Streitereien und Vorwürfe untereinander. Vom PNRR, dem milliardenschweren Wiederaufbauprogramm der EU, von dem Italien besonders stark profitiert, ist seit längerem nur in Randnotizen zu hören. Zur Erinnerung: Die Konzeption dieses Plans brachte immerhin die Regierung Conte II zu Fall. Gibt es ein Programm, eine Vision? Wohin soll sich das Land entwickeln? So richtig mag man das weder für das rechte noch für das linke

Wahrscheinlich sagen sie: Es macht keinen Unterschied. Ich versuche, über die Runden zu kommen, meine Sorgen sind die Rechnungen, die Arbeit, die Kinder oder auch die fehlende Arbeit der Kinder, liegt die Jugendlichenarbeitslosigkeit in der Region doch laut Eurostat bei mehr als 19,5 (2021). Die Auffassung, dass sich ohnehin nichts ändert, mag nicht gerechtfertigt sein. Gleichwohl nähren Politiker:innen verschiedener Parteien immer wieder das Narrativ, dass es den anderen Parteien nur um Ämter und Zugriff auf Pfründe ginge. Solche Nachrichten wie die aus Apulien verstärken dieses Bild, ebenso die kontinuierlichen Streitereien und Vorwürfe untereinander. Vom PNRR, dem milliardenschweren Wiederaufbauprogramm der EU, von dem Italien besonders stark profitiert, ist seit längerem nur in Randnotizen zu hören. Zur Erinnerung: Die Konzeption dieses Plans brachte immerhin die Regierung Conte II zu Fall. Gibt es ein Programm, eine Vision? Wohin soll sich das Land entwickeln? So richtig kann man das weder für das rechte noch für das linke Lager sagen. Es gab viele sehr unterschiedliche Regierungen in den letzten Jahren, was sie bewirkt haben ist für die Bürger:innen wahrscheinlich nicht einmal so klar festzustellen. Nun also eine ultrarechte Regierung, mal sehen, so schlecht läuft es ja nicht.

Natürlich sind auch unter den Nichtwählenden welche, die auf die EU wettern, die Sympathien für Putin hegen und die etwas gegen Migrant:innen haben. Wahrscheinlich aber überwiegt der herablassende Rassismus deutlich den hasserfüllten Rassismus. Den Filippino im Haushalt und den Araber auf der Baustelle sieht man nicht als gleichwertig an: doch lieber die machen diese Arbeit als man selbst, vor allem, wenn man auf den Baustellen doch nur stirbt, wie unlängst in Florenz. Was nicht heißt, dass man sie aus dem Land haben möchte, nur, wenn es so weit kommen sollte… einige würden sich finden, die dagegen protestieren, die Solidarität zeigen, andere nicht. Resignation, was die Repräsentation der eigenen Interessen angeht, resultiert in Gleichgültigkeit, wenn es an grundlegende Werte des politischen Systems geht: Grundrechtssicherung, Medienfreiheit, Rechtsstaatlichkeit.

Wenn die wichtigsten Posten der RAI mit Getreuen der Regierung besetzt werden, diskutieren das die Medien. Vielleicht wird es für die Gesellschaft relevant, wenn die Sanremo-Ikone Amadeus nun der RAI seinen Rücken kehrt. Er war nun wirklich mehrheitsfähig, mit Rekordeinschaltquoten jedes Jahr aufs Neue, mit eine keineswegs rechtskonservativen Programm. Aber vielleicht schalten sie nur einfach um, wechseln mit ihm den Sender. Diese Resignation aber ist es, die es der aktuellen Regierung ermöglicht, punktuell ihre ideologisch-kulturellen Marker zu setzen. Die Dominanz der Medien ist ein Aspekt, Fragen der Abtreibung, der Rechte gleichgeschlechtlicher Paare etwa ein anderer. Auf diese Weise können sie das Land in eine erzkonservative Richtung wandeln, mit kleinen Maßnahmen im rechtlichen Rahmen, aber auch im Diskurs. Den Diskurs kann die Opposition zwar weiter mitgestalten – wenn sie aber keine wirkliche Gestaltungsoption hat, wird dies aber schwierig bleiben.

So kann Italien (ultra-)rechts werden und bleiben, ohne dass es dazu eine aktive Bewegung gegeben hätte. Nur eine kluge Anführerin, die die Situation für sich zu nutzen weiß.

Meloni international

Giorgia Meloni ist zu einer wichtigen Figur auf europäischer Ebene geworden. Ihr Vorteil: Sie kann mit allen reden. Richtig ist allerdings auch: Die anderen müssen mit ihr reden.

Schwierige Kompromissfindung beim Sondergipfel der EU im Febrauar zu den Urkraine-Hilfen, European Union 2024

Es war wohl Giorgia Melonis erster großer Erfolg auf internationaler Ebene: Im Februar diesen Jahres konnte erst nach langen Verhandlungen ein Kompromiss mit Ungarns Ministerpräsidenten Viktor Orban zu den Hilfen für die Ukraine gefunden werden. Meloni spielte in diesen Verhandlungen augenscheinlich eine wichtige Rolle – wie sie gegenüber den Medien zuhause denn auch betonte. Hatte die langjährige politische Freundschaft mit Orban anfangs noch als Hindernis gegolten, um in Europa anzukommen und ernst genommen zu werden, war es jetzt Melonis Vorteil: Sie konnte als glaubhaftes Bindeglied zwischen dem Paria und dem Rest der EU fungieren.

Mit den anstehenden Europawahlen im Juni rückt Giorgia Meloni weiter in den Fokus: Matthias Rüb und der FAZ-Podcast sehen sie daher schon als „Neue Anführerin Europas“, als neue Angela Merkel. Und klar: Absehbar werden die rechten Parteien gut abschneiden, ihre Partei Fratelli d’Italia ohnehin. Meloni ist Vorsitzende der Europäischen Konservativen und Reformisten, und in dieser Allianz unangefochten die Führungsfigur. Damit kommt keine Verhandlung über eine neue EU-Kommissionspräsidentin an ihr vorbei. Zumal sie – im Gegensatz zu „Identität und Demokratie“, denen die AfD und Salvinis Lega angehören – auch tatsächlich verhandlungs- und kompromissbereit sein wird.

Ukraine-Hilfe als Eintrittskarte in den Kreis der „Großen“

Und so wird Meloni schon länger von Manfred Weber umschwärmt, dem Vorsitzenden der Europäischen Volkspartei. Über eine Fusion ihrer beider europäischen Fraktionen wird gesprochen, in jedem Fall aber über eine Allianz zur Wahl der neuen Kommissionspräsidentin. Manfred Weber eignet sich seinerseits dafür in besonderem Maße – er scheute sich nie, etwa Silvio Berlusconi zu umwerben und zu unterstützen, selbst wenn dieser wieder einmal auf fatalste Weise seine Freudnschaft zu Wladimir Putin unterstrichen hatte.

Das führt zum wichtigsten Pfand Melonis in der EU: Ihre unverbrüchliche Unterstützung für die Ukraine. Die war ihr Eintritt in den internationalen Kreis, elementarer Bestandteil ihrer Versicherung, stets zum transatlantischen Bündnis zu stehen (selbstverständlich auch, wenn der US-Präsident Trump heißt; was sie dann mit der Ukraine-Unterstützung macht, wird sich zeigen). Auf EU-Ebene ist es ein Deal, der beiden Seiten vorerst hilft: Meloni wird gebraucht, damit Italien nicht als Unterstützerland wegfällt. Sie gewährleistet, dass die durchaus russophilen Stimmungen in ihrem Land nicht die Überhand gewinnen. Dafür wird sie von der europäischen Elite, von der EU-Kommission, von Macron und Scholz, ernst genommen und berücksichtigt. Im Grunde ist der Ukraine-Krieg für Meloni also ein Vorteil, denn anfangs sah es tatsächlich so aus, als würde Melonis politische Herkunft, ihre spürbare Unsicherheit unter den „Großen“ und ihr Minderwertigkeitskomplex gegenüber Frankreich und Deutschland im Wege stehen. Kaum vorstellbar heute, dass sie sich empfindlich getroffen öffentlich darüber mokieren würde, wenn Scholz und Macron ein Treffen mit Zelensky vereinbaren würden, ohne sie zu informieren, wie im Februar vergangenen Jahres. Kaum vorstellbar aber auch, dass sie heute nicht informiert würde.

Aktuell ist Meloni zudem Vorsitzende der G7, der Gipfel in Apulien findet im Juni statt. Das verschafft ihr zusätzlich Gelegenheit, bei symbolträchtigen Terminen ihre außenpolitische Rolle zu stärken, etwa beim Besuch in Kiev vor einem Monat.

Giorgia Meloni mit Volodymyr Zelensky und Ursula von der Leyen u.a. auf dem Antov Flughafen in Kiev am 24. Februar 2024, European Union 2024

Erste Erfolge für die Richtung ihrer Politik konnte Meloni damit schon erzielen. Wurde das Herzensthema von Italiens Rechten, die Migration, am Anfang ihrer Amtszeit zunächst nachrangig behandelt, klingt die neue Ausrichtung der EU stark nach ihren Forderungen: Außengrenzen schützen, Aufnahmelager und Asylverfahren außerhalb Europas. Meloni ist nun mit vorn dabei beim Verhandeln von Abkommen etwa mit Tunesien. Und das nationale Abkommen mit Albanien gilt plötzlich als Vorzeigemodell (obwohl die Implementierung und Wirkung mehr als skeptisch zu betrachten sind).

Melonis politischen Ziele bleiben ultrarechts

Meloni gibt sich also als verlässliche, vernünftige Partnerin. Sie wird respektiert für ihre Art – wahrscheinlich sind viele in Europa froh darum, dass sie es mit jemandem zu tun haben, der Peinlichkeiten vermeidet (Berlusconi), sich stets akribisch vorbereitet, um im Stoff zu stehen (Conte), keine schädlichen populistischen Kommentare raushaut (Salvini, Berlusconi), nicht nur heiße Luft produziert (Renzi) und passabel Fremdsprachen beherrscht (alle). Sie ist nicht Mario Draghi, aber immerhin. Schließlich ist Olaf Scholz auch nicht Angela Merkel. Weil man sie respektieren kann, sollte man sie aber nicht unterschätzen. Ist sie wirklich so „normal konseverativ“, wie sie etwas FAZ-Korrespondent Rüb beschreibt? Nicht unbedingt. Sie hat sich die harschen Töne abgewöhnt, aber nicht ihre erzkonservativen Grundüberzeugungen. Ihr engstes Umfeld besteht nach wie vor aus Personen, die wie sie im politischen Aktivismus des Movimento Sociale Italiano, der neofaschistischen Partei, groß geworden sind. Teilweise ist das deckungsgleich mit ihrer Familie. Meloni treibt eine politische Überzeugung an, die zudem geprägt war und ist, dass ihre Positionen Minderheitsmeinungen waren, die nicht akzeptiert wurden.

Sie hat sich selbst als „Underdog“ bezeichnet in ihrer Antrittsrede. Sie führt deshalb einen Kampf in der Politik, einen Kampf gegen das Establishment. Sie will ankommen an der Macht, sie will verändern, sind will der rechten Geisteshaltung endlich Genugtuung verschaffen. Und anders als das politische Trampeltier Matteo Salvini geht ihr politischer Instinkt darüber hinaus, das Bauchgefühl des gewöhnlichen italienischen Barbesuchers zu treffen. Sie weiß zu führen, eine heterogene Koalition zu halten, Allianzen zu schmieden. Denn keineswegs trennt sie sich von ihren politischen Freunden in Ungarn oder Polen, die für die stärksten rechtsstaatlichen Einschränkungen in Europa seit der Wende verantwortlich sind. Aber sie weiß, wie sie sich geben muss. Eben nicht radikal, sondern gesprächsbereit.

Bei zu viel Sexismus und Frauenverachtung zieht sie inzwischen zwar die Reißleine – nicht zuletzt mit der Trennung von ihrem Partner Andrea Giambruno, der sich mehrfach in mysogener Weise geäußert (und gehandelt) hatte. Aber ansonsten können Partei- und Koalitionsfreunde von Rassen und Ethnien schwafeln, rechter Gedenkkultur und Kulturchauvinismus frönen, die eigenen faschistischen Wurzeln pflegen und dezidiert homofobe, frauenfeindliche Generäle für ihre Wahllisten gewinnen wollen. Meloni sagt meist nichts dazu, hält sich im Hintergrund und bedeckt. Zwar kann man sich geradezu bildlich vorstellen, wie sie manchmal die Hände vors Gesicht schlagen muss, wenn mal wieder jemand eine Äußerung getätigt hat, die für Empörung sorgen muss. Doch ob sie inhaltlich wirklich nicht einverstanden ist, steht auf einem ganz anderen Blatt.

Die Rechte will Diskurshoheit – und sägt an den Grundvoraussetzungen der Demokratie

Und zwar auf dem selben Blatt, auf dem die Einflussnahme auf den Staatsrundfunk RAI steht. Melonis Regierung hat viele entscheidende Positionen in der Programmleitung und den großen Nachrichtensendungen neu besetzt. Einige führende, erfolgreiche Köpfe haben die RAI verlassen, nur rechtlich gesehen aus freien Stücken, weil ihnen die Spielräume verengt und Freiheiten genommen werden sollten. Pressekonferenzen und Interviews, die kritische Fragen ermöglichen, lässt Meloni kaum zu. Stattdessen veröffentlicht sie Statements und offene Briefe, in denen sie unwidersprochen ihre Sicht präsentieren kann.

Dies ist ein wichtiger Baustein in Melonis politischen Vorhaben: Die Sicht der Rechten auf die Welt braucht endlich einen gesicherten Platz im öffentlichen Diskurs. Weg mit dem linken Mainstream, der angeblich überall unwidersprochen den Ton angibt. Weiße, katholische, heterosexuelle italianità – keine Scham gegenüber der Vergangenheit, Sichtbarkeit kommunistischer Verbrechen und linker Fehler, Nationalstolz, Tradition und Kultur in der engsten der möglichen Definitionen. Es ist Identitätspolitik, die Giorga Meloni und ihre Partei antreibt. Demokratische Pluralität steht dem entgegen. Das sollte man nicht aus dem Auge verlieren, wenn man Melonis aktuelle internationale Performance bewundert.

Die „Mutter aller Reformen“: Mehr Stabilität durch Direktwahl des Regierungschefs in Italien

Melonis Regierung will Hinterzimmerverhandlungen und Technokratenregierungen verhindern und legt dafür einen Gesetzentwurf vor, der einige Lehre aus der Vergangenheit zieht und andere nicht.

Nun ist sie da, der lang angekündigte Entwurf für eine Verfassungsreform, mit der die „Anomalien“ des italienischen Regierungssystems beendet werden sollen. Es ist wahrlich nicht der erste Versuch, die vergleichsweise häufigen Regierungskrisen und -wechsel in Italien institutionell zu beheben. Melonis Regierung setzt dabei einen klaren Schwerpunkt: Es soll lediglich die Art und Weise geändert werden, wie der presidente del Consiglio dei Ministri, wie die Bezeichnung korrekt lautet, ins Amt kommt. Nämlich durch direkte Wahl.

Warum braucht es diese Reform?

Die Reformbedürftigkeit des politischen Systems in Italien ist seit Jahrzehnten lagerübergreifender Konsens gewesen, wobei sich jedoch die Ansätze, wie und was reformiert werden müsse, deutlich unterschieden. Italiens Rechte wollte dabei stets einen stärkeren Regierungschef, die Alleanza Nazionale und ihre Nachfolger Fratelli d’Italia wünschten sich am liebsten die Direktwahl des Staatsoberhauptes. Diese Idee bekam in der jüngeren Vergangenheit neuen Schwung einerseits wegen des hohen Ansehens des aktuellen Republikspräsidenten Sergio Mattarella und andererseits während Mario Draghis Zeit als Premier, in dem sich der Wunsch ausbildete, er möge mit erweiterten Kompetenzen ins Amt des Staatschefs wechseln. Das Ansehen Mattarellas ist ungebrochen, die Träumerei von Draghi als Führungsfigur in einem semipräsidenzialismo jedoch längst ad acta gelegt. Auch unabhängig von seiner Person gab gegen dieses an Frankreich orientierten Modells immer Widerstände, und auch dieses Mal einigte sich die Rechtskoalition darauf, lieber den Presidente del Consiglio zu stärken, und das Amt des Republikspräsidenten unangetastet zu lassen.

Als notwendig erachtet Melonis Regierungskoalition die Reform, um Regierungsbildungen, die nicht direkt vom Votum des Wahlvolkes gedeckt sind, zu verhindern. In dieser Hinsicht war die vergangene Legislatur eine besondere gewesen, brachte sie doch mit ein- und demselben Wahlergebnis so unterschiedliche Regierungen wie die rechtspopulistische von Lega und M5S, die progressiv-populistische von M5S und PD sowie Draghis Regierung der nationalen Einheit hervor. Insbesondere Technokratenregierungen wie jene von Draghi oder in früheren Zeiten Mario Monti waren Meloni und ihren Mitstreiter:innen schon immer ein Graus: Vermeintliche Experten, die nicht den Volkswillen, sondern den Willen der EU und der Finanzmärkte durchsetzen, so ihre Sichtweise. Dieser Option schiebt der Reformentwurf einen Riegel vor.

Weshalb sollte die Reform diesmal gelingen?

1993, 1997, 2006, 2016 – in all diesen Jahren (und in einigen mehr) sind Verfassungsreformen auf den Weg gebracht bzw. zur Abstimmung gestellt worden – und keine davon wurde umgesetzt. In den 1990er Jahren wurden Kommissionen aus beiden Parlamentskammern beauftragt, einen großen, umfassenden Wurf zu erarbeiten. Die Berlusconi-Reform von 2006 sollte ebenfalls ein großer Wurf werden, wenngleich von der Regierungsmehrheit allein erarbeitet. Demgegenüber speckte Matteo Renzi seinen Reformentwurf bereits ab, er scheiterte 2016 allerdings ebenso am Verfassungsreferendum wie Berlusconi vor ihm. Keine ermutigende Vorgeschichte für Giorgia Meloni, und die wohl offensichtlichste Lehre daraus ist: Die Reform ist sehr knapp gehalten. Sie umfasst lediglich fünf Artikel und greift in gerade einmal 4 Verfassungsparagraphen ein. Diese betreffen die ausschließlich die Ernennung bzw. Wahl des presidente del Consiglio. Zusätzlich sollen die Senator:innen auf Lebenszeit abgeschafft werden, aber dies ist eine Randnotiz. Begrenzung aufs Wesentlich also.

Interessant ist der Vergleich zu Matteo Renzis Ansatz vor gut zehn Jahren: Diese berührte genau nicht die Kompetenzen und Wahlmodi des presidente del Consiglio, denn genau diese – übersteigerte – Stärkung des Premiers hatte Berlusconsi Reform zum Scheitern gebracht. Die heutige Rechtskoalition hingegen legt Wert darauf zu unterstreichen, dass sie die Rechte des Parlaments nicht antastet und auch nicht die Rolle des – sehr geschätzten – Staatsoberhaupts. Dieser Minimalansatz könnte taktisch funktionieren. Meloni weckt nicht den Anschein, sich pieni poteri verschaffen zu wollen, wie ihr heutiger Vize vor nicht allzu langer Zeit mal unbedacht für sich äußerte. Wenn vieles so bleibt wie es ist, wieso sollte die Reform dann auch nicht im Referendum durchgehen? Schließlich sind viele Italiener:innen mehr als genervt von den durch Machtspielchen hervorgerufenen Regierungskrisen, auf die sie keinen Einfluss nehmen können, und die das Land in den vergangenen Jahr oft gelähmt haben. Ein kleiner Eingriff mag helfen.

Interessant ist, dass kaum jemand noch in Frage stellt, ob es überhaupt in Ordnung ist, dass eine Regierung die Verfassung ändern will, ohne die Opposition ernsthaft miteinzubeziehen. In den vergangenen Jahrzehnten war dies noch ein entscheidendes Kritierium für die Legitimität einer Verfassungsreform, und das Wegbrechen (Renzi) oder nicht Vorhandensein (Berlusconi) einer lagerübergreifenden Einigung wirkte sich klar negativ auf die Akzeptanz des Vorhabens aus. Heute wird die Regierungsinitiative – statt dies dem Parlament zu überlassen – schlicht hingenommen, so wie auch selbstverständlich vom „bestätigenden Referendum“ gesprochen wird, das wahrscheinlich kommt, da die Reform nicht mit einer Zweidrittelmehrheit verabschiedet wird. Der Sinn der Regelung in Art. 138 ital. Verfassung ist jedoch ein umgekehrter: Verfassungsänderungen sollten mit einer breiten Mehrheit, nämlich zwei Dritteln in beiden Kammern, verabschiedet und von daher im breiten Konsens erarbeitet und getragen werden. Lediglich für den Fall, dass dies nicht geschieht, gibt es die Möglichkeit eines aufhebenden (!) Referendums, der die Reform unwirksam macht, wenn eine Mehrheit der Abstimmenden sich dafür ausspricht. Das Referendum ist ein Notanker, kein Bestätigungsinstrument einer Regierungsinitiative. Im jetzigen Fall beschränkte sich der Einbezug der politischen Gegenseite auf kurze Konsultationen und die generöse Bereitschaft, gegebenenfalls vernünftige Änderungswünsche zu berücksichtigen. Und das scheint niemanden mehr zu stören.

Die richtige Wahl der Mittel?

Sollte die Verfassungsreform erfolgreich sein, würde die „Anomalie“ von Italiens Regierungssystem keineswegs beendet. Im Gegenteil: Die Direktwahl eines Premiers in einem parlamentarischen System, indem es zudem noch ein indirekt gewähltes Staatsoberhaupt gibt, dem die Kompetenz obliegt, das Parlament aufzulösen, dürfte ziemlich einmalig sein. Israel hatte einige Jahre lang einen direkt gewählten Premierminister innerhalb eines parlamentarisch-proportionalen Systems. Die Funktionsfähigkeit erwies sich als mäßig (was sich u.a. bei Giovanni Sartori nachlesen lässt und wahrlich keine neue Erkenntnis ist). In allen anderen Systemen, die eine:n starke:n Regierungschef:in kennen, liegt deren Macht in anderen Mechanismen begründet: die Kompetenz, Minister:innen zu entlassen und die Regierung tatsächlich zu führen, nicht als Gleiche unter Gleichen; die Möglichkeit, die Kammern aufzulösen; die Schwierigkeit, sie aus dem Amt zu heben – Stichwort: konstruktives Misstrauensvotum; Wahlsysteme, die eine Fragmentierung der Parlamente zumindest eindämmen; nicht zuletzt: Fraktions- und Koalitionsdisziplin, die durch vorgenannte Mechanismen gestärkt wird.

Der Entwurf der Regierung Meloni orientiert sich stattdessen am eigenen Land: Auf kommunaler und regionaler Ebene ist die Direktwahl des Regierungschefs schon lange eingeführt, verbunden mit einer nun auch für die nationale Ebene vorgesehenen gesicherten Parlamentsmehrheit. Der Reformentwurf sieht – wie die meisten der Regionalstatuten in Italien – vor, dass die Wahlliste mit den meisten Stimme, also jene, die den Presidente del Consiglio stellen wird, eine Mehrheitsprämie von 55 Prozent erhält. Alle Details regelt ein Wahlgesetz, das noch nicht vorliegt. Viele Fragen können also noch nicht beantwortet werden: Welche Voraussetzungen gelten für die Mehrheitsprämie? Mindestens 40 Prozent im Wahlergebnis? Für eine Koalition oder eine Einzelpartei? Was, wenn diese Schwelle nicht erreicht wird, gibt es dann eine Stichwahl?

Was bereits feststeht, ist eine gewisse – aber von den Macherinnen der Reform gewünschte – Unflexiblität in der personellen wie programmatischen Regierungsbildung. Schon die Berlusconi-Reform von 2006 sah vor, dass ein Premier nur durch einen anderen ersetzt werden kann, wenn er die selbe Parlamentsmehrheit repräsentiert und das selbe Programm durchsetzt wie sein Vorgänger. Dies wird nun wieder aufgegriffen: Verliert die Presidente del Consiglio eine Vertrauensabstimmung, so kann sie oder eine aus „ihrer“ Parlamentsmehrheit entstammende Person vom Staatsoberhaupt mit einer neuen Regierungsbildung beauftragt werden. Dabei sind nun Veränderungen in der Regierungskoalition nicht mehr ausgeschlossen, gleichwohl aber die Verpflichtung auf das ursprüngliche Regierungsprogramm. Wird ein auf diesem Weg neu ernannter Regierungschef wiederum gestürzt, bleiben nur die Auflösung der Kammern und Neuwahlen.

Vorstellbare Szenarien – wenig Vorteile bei einigen Ungereimtheiten

Würde nach diesem Reformentwurf beim nächsten Mal gewählt, würde sich die Vor- und Nachwahlzeit vielleicht wie folgt gestalten: Das entsprechend erneuerte Wahlgesetz wird mit hoher Wahrscheinlichkeit die Bildung von gemeinsamen Wahllisten, also von Vorab-Koalitionen ermöglichen. Denn aktuell gibt es zu wenige Einzelparteien, die eine Chance auf das Erlangen der Mehrheitsprämie von 55 Prozent der Sitze haben und daher auf die Bildung von Wahlkoalitionen verzichten wollten und können. Melonis Partner Lega und Forza Italia werden ihre Zustimmung zu einem Wahlgesetz davon abhängig machen, dass sie ein Stück vom Prämienkuchen abgekommen können. Auch für noch kleinere Partien, wie Noi moderati, wird es sinnvoll sein, sich einer solchen Wahlkoalition anzuschließen, ist doch zudem Sperrklausel von 3 oder mehr Prozent ebenfalls eine Option. Damit wiederum erhöhte sich aber auch das Risiko für eine „große“ Partei – wie aktuell FdI oder auch den PD – allein anzutreten, könnten sie doch eher die Hürde für den Bonus oder für die Zulassung zu einer möglichen Stichwahl verpassen und sich mit allen anderen die verbleibenden 45 Prozent der Sitze teilen zu müssen. Also bestünde ein Anreiz zur Koalitionsbildung. Diese heterogenen Gebilde werden aber oftmals aus genau diesen kalkulatorischen, taktischen Gründen geformt, nicht aus programmatischer Harmonie. Die kurze Existenz des „Terzo Polo“ aus dieser Legislatur ist dafür nur ein Beispiel. Die Basis für eine wirklich stabile Regierung bildet eine solche „Ehe“ nicht.

Kommt nun eine Presidente del Consiglio über eine solche siegreiche Koalition ins Amt, erhält – wie auch immer konkret – die Prämie von 55 Prozent, dann könnte sie eigentlich erst einmal ungestört regieren. Sofern es bezüglich der Besetzung der Ministerposten keine Unstimmigkeiten mit dem Staatsoberhaupt gibt, das diese nominiert. In der Vergangenheit hatten die Präsidenten ab und an einer geplanten Besetzung ihre Zustimmung verweigert. Wäre das gegenüber einem direkt gewählten Premier noch vertretbar, der sich auf die direkte demokratische Legitimation berufen kann, das Staatsoberhaupt lediglich auf indirekte?

Steht die Regierung, mögen sich – nicht untypisch für Italien und die Politik im Allgemeinen – gewisse Dynamiken entwickeln: Vielleicht fiel die koalitionsinterne Stimmverteilung an den Urnen nicht ganz so aus wie erwartet, und ein kleinerer Partner ist größer als erhofft, vielleicht war die Verteilung der Ressorts bei Regierungsbildung für den ein oder anderen nicht zufriedenstellend, oder einige Wochen und Monate nach Start geraten Koalitionäre unter Druck, weil ihre Umfragewerte sinken. Und vielleicht wollte jemand ohnehin erst einmal dem Kandidaten für den Premierposten die Möglichkeit des Scheiterns an der Urne überlassen, sieht aber jetzt nach dem Erfolg sein eigenens Stündchen schlagen. Gründe, für einen so genannten „ribaltone“ gibt es reichlich, und von allen wurde in den vergangenen Jahrzehnten in Italien Gebrauch gemacht. Das neue System würde das nicht gänzlich verhindern. Ein verlorenes Vertrauensvotum, und jemand aus den eigenen Reihen kann übernehmen. Diese Person hätte dann wiederum nicht mehr allzu sehr zu befürchten, ihrerseits gestürzt zu werden, denn dann würden zwangsläufig die Parlamentskammern aufgelöst. Das ist Druckmittel genug, denn mit jeder Parlamentsauflösung gehen Posten und Sitze verloren (zumindest für einige). Ein „Durchregieren“ ist somit eher der potenziellen zweiten Presidente del Consiglio möglich, während der aus der Wahl hervorgegangene Premier stets die innerkoalitionären Gleichgewichte und möglichen Meutereien beachten muss.

Allerdings wäre dieser zweite Presidente del Consiglio nicht mehr vom Volk gewählt – dabei sollte dies doch ein entscheidendes Kriterium sein, für das nicht wenig an demokratischen Grundideen geopfert wurde, insbesondere das Merkmal parlamentarischer Demokratien, nach denen das Parlament die Regierung mit seinem Vertrauensvotum stützt, einsetzt, kontrolliert – und nicht direkt das Volk (zudem: das verringerte Maß an Repräsentativität über die Prämie oder die Möglichkeit voneinander unabhängigen Wahlen von Liste und Regierungschef:in). Ebenfalls kann ein Wechsel an der Regierungsspitze nicht mit einem programmatischen Wechsel verbunden werden. Denn der Reformtext sagt eindeutig, im Falle eines Wechsels müssten die zu Beginn angekündigten poltischen Richtlinien und Vorhaben umgesetzt werden: „attuare le dichiarazioni relative all’indirizzo politico e agli impegni programmatici su cui il Governo del Presidente eletto ha ottenuto la fiducia“. Dies nimmt dem System weitere Flexibilität, was angesichts der multiplen und oft kaum vorherzusagenden Krisen, wie wir sie in den vergangenen Jahren erlebt haben, grob fahrlässig wirkt.

Da die Auflösung der Parlamentskammern sowie die mögliche Neubesetzung des Premierpostens nach einem Rücktritt eng und klar geregelt sind, verändert sich auch die Rolle des Republikspräsidenten. Es ist nicht mehr in seinem Ermessen, wem er am ehesten eine erfolgreiche Regierungsbildung betraut. Er vermag auch kaum mehr inhaltlich Einfluss nehmen (auf die Respektierung der internationalen Verpflichtungen, zum Beispiel). Genau das ist das Ziel der Reform: Den Gestaltungsspielraum der Entscheidungsträger zu minimieren und möglichst eng auf das Wählervotum zu begrenzen. Zu behaupten, die Reform berühre also nicht die Rolle des Staatsoberhauptes, ist somit nicht korrekt. Im Idealfall sorgen die neuen Regeln für eine Disziplinierung aller Beteiligten. Mit Blick auf die letzte Legislatur ist allerdings zu sagen, dass es häufig die Inkompetenz und Unfähigkeit des politischen Personals war, Regierungsarbeit zu leisten, die einen Eingriff des Republikspräsidenten und einen Rückgriff auf Technokrat:innen notwendig machte. Diese Möglichkeit, flexibel und stabilisierend zu reagieren, würde mit der jetzigen Reform genommen. Ob dies zu Italiens Besten ist, bleibt fraglich.

Und täglich grüßt das Murmeltier: Eine Verfassungsreform!

Giorgia Meloni gibt ein wenig überraschend den Startschuss für eine Reformierung des Regierungssystems. Neu ist das Vorhaben nicht.

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Giorgia Meloni hatte sie seit Jahren gefordert und im Wahlkampf angekündigt, und dennoch schien es so vieles zu geben, was wichtiger war als eine Verfassungsreform. Nun, nach etwas mehr als einem halben Jahr im Amt, will ihre Regierungsmehrheit ernst machen. Erste Gespräche mit der Opposition sind anberaumt, vorsichtige Gesprächsbereitschaft wird signalisiert. Eine Verfassungsreform. Mal wieder. 2016 ist die letzte gescheitert, und mit ihr krachend die vielversprechende Karriere des Matteo Renzi. Oder war es umgekehrt? Der Karriere von Silvio Berlusconi konnte seine gescheiterte Verfassungsreform von 2006 wenig anhaben, dem Ansehen der Verfassung hat sie allerdings umso mehr geschadet. Jetzt also ein neuer Anlauf und es ist noch offen, ob dieser eher der Regierung schaden wird oder der konstitutionellen Demokratie Italiens.

In der aktuellen Debatte fallen zwei Dinge auf: Erstens sind es dieselben Argumente wie vor 15, 20 Jahren, sowohl in den Zielen wie in den Begründungen. Zweitens haben diese Jahrzehnte der Schrauberei an den Grundlagen der politischen Ordnung dazu geführt, dass so einige fundamentale Prämissen verrutscht sind. Zu ersterem: Stabilere Regierungen und eine direkte Verbindung zwischen Wahlvolk und Regierung, darin besteht Melonis erklärtes Ziel der Reform. Entweder ein (Semi-)Präsidialsystemine oder eine Direktwahl des Premiers, einhergehend mit der Stärkung ihrer Kompetenzen. Parlamentarische Demokratie aus dieser Sicht? Verlangsamt lediglich die Prozesse und bietet zu viel Raum für Mauscheleien und Abtrünnige (= Sturz bestehender und Installation neuer, im schlimmsten Fall: technokratischer Regierungen). Damit will die Regierung Meloni endlich Schluss machen, so wie zahlreiche Regierungen vor ihr. Dass sich die Fraktionen der Regierungsparteien – oder ihrer Vorgängerversionen – an genau solchen Mauscheleien, Fraktionswechseln, Regierungsstürzen genauso beteiligten wie an der Einsetzung technokratischer Regierungen – geschenkt. Dass es andere Wege gäbe, die Regierungschefin zu stärken als ihre Direktwahl einzurichten, wird immerhin als mögliche Kompromissvariante akzeptiert, aber nicht tatsächlich verfolgt.

Zu zweiterem: Meloni sagt, sie möchte eine möglichst breite Verständigung über die geplante Reform, aber so oder so habe sie das Mandat für eine solche Reform von den Italiener:innen erhalten. Hat sie das? Sie hat das Regierungsmandat erhalten, aber dezidiert eines, die grundlegenden Pfeiler des demokratischen Systems zu ändern? Bis zum „Sündenfall“ 2001/2002, als die damalige Mitte-Links-Regierung einzelne Verfassungsänderungen zur Kompetenzverteilung zwischen Regionen und Zentralstaat mit lediglich absoluter Mehrheit verabschiedete, galt in Italien eindeutig: Für eine Verfassungsreform wird eine Zweidrittelmehrheit benötigt. Dies war viele Jahrzehnte dem Umstand geschuldet, dass die vorgesehene „Notbremse“ für einen solchen Fall, das Verfassungsreferendum, nicht in Kraft gesetzt worden und damit nicht verfügbar war. Doch auch nach dessen Einrichtung hielt sich zumindest der Grundgedanke, dass eine signifikante Änderung der demokratischen Spielregeln das Einverständnis einer breiten Mehrheit bedürfe.

Davon ist nur noch in Ansätzen etwas zu spüren. Nachdem 2005/2006 die damalige Berlusconi-Regierung mit Verweis auf die linke Vorgängerregierung eine umfassende Reform des politischen Systems nur mit den Stimmen der Regierungsmehrheit durchs Parlament brachte, brach etwas weg im Verfassungsverständnis der politischen Elite. Eine Verfassungsreform war ein mögliches cavallo di battaglia, ein Profilierungsprojekt für das politische Lager. Auch Matteo Renzi zehn Jahre später, wählte nur anfangs den Ansatz einer lagerübergreifenden Reform. Als Allianzen zerbrachen und Widerstände aufkamen, zog er allein durch – und verlor. Dass beide Reformversuche an der Wählerschaft scheiterten, für die sie doch angeblich gemacht worden waren, wirkte kurzzeitig beruhigend auf die Lage. Benötigen wir wirklich solche tiefgreifenden Reformen? Und wenn ja, sollten sie dann nicht doch eher über eine Sonderkommission der Parlamentskammern ausgearbeitet werden, einer commissione bicamerale wie in den 1990er Jahren? Denn auch das war einmal common sense: Verfassungsreformen sind parlamentarische Initiativen, nicht Teil des (dezidiert politischen) Regierungsprogramms. Also bringt sie auch nicht die Regierung ein. Acqua passata.

Heute hat eine Meloni „das Mandat des Volkes“ für eine Verfassungsreform, heute fabuliert Matteo Salvini davon, dass – wenn die Opposition nicht will – eben das Volk sein Votum für die Reform geben wird. Ein bestätigendes Referendum existiert in Italien aber gar nicht. Es wurde darüber in den vergangenen Jahrzehnten schon öfter gestritten, denn nicht erst die Rechtspopulisten beschwören die direkte Verbindung zwischen Volk und Regierung(schef). Das öffentlich postulierte Demokratieverständnis dreht sich schon seit langem weg von der parlamentarischen Repräsentation hin zum vermeintlich unmittelbaren Ausdruck des Volkswillens durch die vermeintlich direkt bestellte Regierung. Und insbesondere deren Oberhaupt. Deshalb auch der dringende Wunsch nach einem direkt gewählten Staatschef oder eine direkt gewählten Premierministerin.

Die Frage, die sich dabei zum wiederholten Male stellt, lautet: Hilft eine solche Reform denn wirklich mehr als sie schadet? Erwächst Stabilität tatsächlich aus einer Direktwahl? Ist ein politisches System nicht nur immer so stark und stabil, wie es seine politischen Führungskräfte erlauben? Selbstverständlich hat ein französischer Präsident mehr Macht als ein italienischer Premier. In den letzten Jahren kann man beobachten, wie dies auch in Frankreich die Spaltung der Gesellschaft fördert und Umwälzungen im Parteiensystem nicht ausschließt. Das Vereinte Königreich, dieses andere glorreiche Beispiel vergangener Jahre für die Macht einer Regierungschefin, zeigt, dass der Verfall politischer Tugenden und Fähigkeit auch vor den traditionsreichsten Demokratien nicht Halt macht. Effektive Macht hängt an Autorität und Überzeugungskraft gegenüber den Beherrschten, an Disziplin und Loyalität der Parteien und Fraktionen gegenüber ihrer Führung.

Beides gab es in Italien über einen zu langen Zeitraum nicht. Mit der Ausnahme der Staatspräsidenten, die bei aller Kritik über die mögliche Ausdehnung ihrer Kompetenzen in den vergangenen Jahren immer wieder die fragile Stabilität des politischen Systems garantierten. Hinterzimmerpolitik, beschimpfen es die einen. Selbstschutz des Staates vor einer allzu oft unfähigen politischen Führung, könnte man es auch nennen. Und just dann, wenn die Staatspräsidenten wieder zu großer Form aufliefen, wirkte der Gedanke an ein Präsidialsystem besonders charmant. Zuletzt diskutierten Medien und Politik diese Frage, als im Raum stand, dass Mario Draghi ins Amt des Staatsoberhauptes wechseln könne. Für einen wie Draghi wäre ein solches Amt doch wie gemacht, welches Wohl überkame die italienische Nation mit einem mächtigen Presidente della Repubblica wie ihm?! Nur sind nun nicht viele der politischen Exponenten aus einem solchen Holz geschnitzt. Nicht viele haben ein solch tiefes Institutionenverständnis wie Amtsinhaber Sergio Mattarella, frei von egozentrischen Eskapaden. Eine Direktwahl des Staatsoberhauptes würde andere Kandidat:innen hervorbringen als die indirekte, durch hohe Mehrheiten regulierte Wahl mittels parlamentarischer Vollversammlung. Es wäre ein politischer Wettbewerb und die Parteichefs würden antreten: Salvini, Meloni, Schlein, Calenda. Oder früher: Renzi, Berlusconi. Vorstellbar? Natürlich. Wünschenswert? Da sind Zweifel angebracht. Die Wankelmütigkeit, die fehlende Qualität, der Egozentrismus würde kaum weichen, die Intrigen zwischen Parteien und innerhalb der Fraktionen ebensowenig. Was fehlen würde, wäre der externe Ausgleich, die hintergründige Steuerung und Beratung durch den Staatspräsidenten. Ein Sturz oder eine Abwahl des neuen Regierungsoberhaupts wäre schwieriger – dies könnte zu Anpassungen führen, in der Auswahl der Kandidat:innen, in der politischen Taktik, vielleicht zu mehr Ruhe in Gesetzgebungsvorhaben. So, wie es das positive Beispiel der Bürgermeister:innen und Regionalpräsidenten auf lokaler und regionaler Ebene vormachen. Das erhoffen sich die Befürworter:innen, die es ernst meinen mit dem Wohl der italienischen Demokratie. Allerdings: Italien ist kein ausgeprägter Förderalstaat, die Befugnisse von Regionalpräsident:innen sind nicht allzu groß. Einen heterogenen Staat wie Italien zu führen, ist noch einmal eine andere Liga. Insofern hat die Sorge der Gegner eines Präsidialsystems etwas für sich: eine stärkere Spaltung der Gesellschaft, eine weitere Stärkung der Mehrheitslogik ohne Rücksicht auf Minderheitenmeinungen (und womöglich sogar -rechte, blickt man auf die heutige Regierung). Die Unruhe würde sich verlagern, aber nicht verschwinden. Es wäre eine starke Regierung des einen Teils der Gesellschaft gegen die andere. Wohin das führen kann, sieht man an der dritten, „alten“ Demokratie dieser Welt, den USA.

Eine Woche voller Unsäglichkeiten

Schaden an einer Demokratie entsteht nicht nur durch bewusste Umstrukturierung. Auch Unvermögen, fehlende politische Kultur und ideologisch motivierte Entscheidungen tragen dazu bei. Davon zeigt die Regierung Meloni derzeit leider genug.

Putinfreund Berlusconi mutiert zum Risikofaktor der Regierung

Die vergangenen Tage waren reich an Verlautbarungen aus der italienischen Regierung, die ungläubiges Kopfschütteln hervorriefen. Wobei, so ungläubig war es wohl nicht mal, denn alles kam wenig überraschend. Am wenigsten überraschend waren wohl die Äußerungen Berlusconis, mit denen er den ukrainischen Präsidenten Selenskyi diffamierte und zum wiederholten Male zeigte, dass er seinem alten Freund Putin nähersteht als der westlichen Allianz – und auch den Fakten des Ukrainekrieges. Immerhin blieb es diesmal nicht bei einem beschämten Kopfschütteln der europäischen Parteifreunde: Manfred Weber sagte ein Treffen der EVP in Neapel aufgrund von Berlusconis Äußerungen ab. Dabei hatte er noch im Herbst enthusiastisch Wahlkampf für den 86-Jährigen gemacht. Außenminister Antonio Tajani (FI) ist gleichwohl nur wenig zu bedauern, wenn er jetzt gegenüber der EU, der NATO, den USA und den eigenen Koalitionspartnern beschwichtigen darf. Er hat es nie an Loyalität zu Berlusconi fehlen lassen – das ist nun die Folge. Dass Forza Italia sich nicht von ihrer Überfigur emanzipieren kann, liegt am Wesen dieser Partei.

Melonis Minderwertigkeitskomplex gegenüber den europäischen Partnern gefährdet Beziehungen zur EU

Wie weit der Bruch mit den europäischen Partnern reicht, wird noch zu sehen sein. Die Versuche zu kitten und die Solidarität mit der Ukraine keinem Zweifel zu unterstellen, werden umso schwerer fallen, als auch Giorgia Meloni sich zu einigen befremdlichen Äußerungen hinreißen ließ. Hintergrund war das Treffen zwischen Emmanuel Macron, Olaf Scholz und Wolodimir Selenskyi [https://www.zdf.de/nachrichten/politik/meloni-selenskyi-macron-ukraine-krieg-russland-100.html]. Ungefragt (!) ließ sie verlautbaren, sie halte die Organisation dieses Besuchs für unangemessen. Sie war nicht eingeladen, wurde nicht vorab einbezogen – und schmollte deshalb. Sollte es tatsächlich ein diplomatischer Faux-Pas der beiden europäischen Partnerländer gewesen sein – erst Melonis beleidigter Kommentar ließ Italiens Schwäche offenbar werden. Wenn man nicht bei den Großen am Tisch sitzen darf, ändert sich die Situation nicht dadurch, dass man den anderen Vorwürfe macht und sich öffentlich echauffiert. Dann bleibt man erst recht am Katzentisch. Wer Macron dazu nötig, sich wegen eines Treffens mit dem ukrainischen Präsidenten zu rechtfertigen, wird bei der nächsten Gelegenheit sicher nicht mit Wohlwollen empfangen. So etwas sollte man intern regeln.

Es stand schon vor ihrer Wahl zur Regierungschefin zu befürchten, dass Meloni eine schwierige Auffassung davon hat, wie Italiens Gewicht im europäischen Kontext am besten zur Geltung kommen sollte. Sie war damit angetreten, dass sich Italien nicht mehr unterbuttern lassen würde, wie es das vermeintlich über Jahre getan habe. Sie wollte, dass das Land selbstbewusst seine Interessen vertritt, seinem Status als drittgrößte Volkswirtschaft entsprechend. Diese latent aggressive Betonung der eigenen Stärke und Selbstbehauptung wirkte besonders fragwürdig vor dem Hintergrund, dass Mario Draghi währenddessen Italien wie von selbst in eine Führungsrolle innerhalb Europas brachte. Ohne jegliche great-again-Rhetorik. Stärke und Autorität entstehen durch tatsächliches Selbstbewusstsein, nicht durch einen verkappten Minderwertigkeitskomplex, die ganze Zeit zu kurz gekommen zu sein. Genau diesen trägt Giorgia Meloni aber mit sich herum, und während sie anfänglich versuchte, sich möglichst entspannt und souverän auf dem europäischen und internationalen Parkett zu bewegen, ist der Ton nun gereizter. Auf diese Art bringt sich die italienische Regierung allerdings selbst in die Isolation. Das kann gefährlich werden: Unbeachtet und unverstanden am Rand zu stehen, könnte sie dazu bringen, wieder stärker gegen die EU zu polemisieren, Kompromisse scheitern zu lassen, kurzum den Konflikt erneut zu schüren. Was dann passieren könnte, ist vor allem für Italien selbst ein großes Risiko. Es ist abhängig vom Wohlwollen der EU-Kommission hinsichtlich der finanziellen Unterstützung aus dem EU-Wiederaufbaufonds. Ohne diese und andere Mittel, bekommt Italien sehr schnell ein Problem, ebenso wie jede Missstimmung zwischen dem Land und Europa die Finanzmärkte unruhig werden lässt – und damit die Zinsen steigen.

Wegen Sanremo: Die RAI Ziel von Attacken aus der Regierungsfraktion

Auch innenpolitisch war die letzte Woche geprägt von befremdlichen, besorgniserregenden Äußerungen. Wie aus anderen Ländern mit rechtspopulistischen Regierungen bekannt, finden sich Stellschrauben zur Errichtung einer autokratische(re)n Herrschaft insbesondere in der Justiz und den Medien. Zur Justiz an anderer Stelle mehr, lässt doch die Debatte zum größten Unterhaltungsformat des Landes, das Festival von Sanremo, genug aufhorchen: Zahlreiche Mitglieder der Regierungsmehrheit nahmen dessen Ausstrahlung zum Anlass, den Austausch der Führungsriege der staatlichen Rundfunkanstalt RAI zu fordern. Just in dem Jahr, in dem das Festival die höchsten Einschaltquoten überhaupt verzeichnete, und Moderator Amadeus zum eigentlichen Herrscher des Landes gekürt wurde, folgerte die neue politische Führung aus einigen Provokationen und Diskussionen – zu sexualisiert, zu homophil, zu feministisch, zu hohl, zu extravagant, zu politisch – dass sofortiger Handlungsspielraum bestünde. (Dabei war für die meisten, einschließlich Salvini, wahrscheinlich Roberto Begninis Deklamation des Verfassungsartikels 21 über die Meinungs- und Pressefreiheit am unerträglichsten.)

Schon zuvor war über eine Neubesetzung der Hauptgeschäftsführung debattiert worden. Carlo Fuertes war von Mario Draghi eingesetzt worden und wäre regulär noch bis 2024 im Amt. Ein vorzeitiger Austausch wäre schon kritisch genug, tatsächlich eine Fernsehshow hierfür zum Anlass zu nehmen, nur weil einige Inhalte nicht dem Kulturverständnis der Regierung entsprechen, wiegt deutlich schwerer. Sollte es dazu kommen, während zugleich die Leitung der Hauptnachrichtensendungen ausgetauscht wird, ist nicht nur mit einer inhaltlich-programmatischen Neuausrichtung zu rechnen, sondern auch vorauseilender Gehorsam zu fürchten. Wenn nach jeder unliebsamen Übertragung Köpfe rollen – dann schränkt das die Presse- und Meinungsfreiheit wesentlich stärker ein als ein schlicht konservativer Programmdirektor.

Und dann waren ja noch Regionalwahlen im Lazio und der Lombardei. Niemand ging hin. Die Regierungskoalition hat klar gewonnen. Das Land verändert sich, und die meisten nehmen es hin.

Die neue Normalität des Postfaschistischen

Etwas mehr als 100 Tage ist Melonis Regierung im Amt und an den Zwischenbilanzen fällt auf: Es geht um politische Inhalte.

Giorgia Meloni schüttelt Ursula von der Leyen leicht verkrampft die Hand.
Sieht noch nicht nach echter Freundlichkeit aus: Giorgia Meloni und Ursula Von der Leyen. European Union 2022

Giorgia Melonis Regierung der besonderen Attribute – die erste Frau als Premier, die rechteste Regierung aller Zeiten, die erstaunlich schnell gebildete Regierung, die erste klassisch „gewählte“ Regierung seit langem – hat ihre Phase der Luna di miele, der Flitterwochen hinter sich gelassen. Das gab natürlich Anlass für allerlei Bilanzen, bei denen erstaunlich wenig darüber gesprochen wurde, dass hier eine postfaschistische Partei an die Macht gekommen ist, die sich in einer ideologisch-historischen Linie mit dem Movimento Sociale Italiano sieht, der Nachfolgepartei der Faschist:innen.

Die europäischen Nachbarstaaten, insbesondere Deutschland, hatten Italien vor und nach der Wahl äußerst kritisch beäugt – Melonis politische Herkunft und das Personal ihrer plötzlich so erfolgreichen Partei hatten dort weit mehr Sorge ausgelöst als in Italien selbst. Die italienische Sichtweise scheint sich durchzsetzen: Zwar gibt es einiges zu kritisieren an der neuen Regierung, doch die Fundamentalkritik blieb und bleibt aus. Auf europäischer Ebene hat man sich längst wieder anderen Themen zugewandt. Die linke und linksliberale Presse in Italien stürzten sich zwar auf die teils dilettantisch wirkenden Haushaltsverhandlungen, die (halbe) Abschaffung des Bürgergelds, die sinnfreie Debatte, ab welchem Betrag Kartenzahlung ermöglicht werden muss oder nicht. Sie stoßen sich zurecht an Äußerungen des Justizministers Nordio, der harsche Kritik an der Verwendung richterlicher Abhörmethoden äußerte, ohne auf deren Relevanz bei Anti-Mafia-Ermittlungen einzugehen. Deutlich wurde der Umgang mit den NGO-Schiffen kritisiert, welche die neue Regierung – wenig überraschend – gezielt kriminalisiert. Ein wenig Schadenfreude war dabei, als sich Meloni bei Tankstellenstreiks kürzlich erstmals mit Protest gegen ihre Politik konfrontiert sah und dem Bruch eines Wahlkampfversprechens aus früheren Tagen überführt. Roberto Calderoli wurde für seinen Vorschlag einer differenzierten Autonomie der Regionen von allen möglichen Seiten scharf unter Beschuss genommen.

Doch einen Satz hört man häufig, in Kommentaren zur Regierung Meloni: Man kann ihr wohl kaum zum Vorwurf machen, dass eine rechte Regierung die Politik einer rechten Regierung macht. Man kann also nicht einverstanden sein mit ihren Maßnahmen, sie falsch und schlecht für Italiens Entwicklung halten, dagegen protestieren, und allzu fragwürdige Regelungen versuchen zu verhindern. Dabei handelt es sich aber schlicht um die Essenz der politischen und demokratischen Auseinandersetzung. Hier wird um Politik gestritten – nicht um die Fundamente der rechtsstaatlichen Demokratie und auch nicht um Ideologie.

Das ist erst einmal eine gute Nachricht. Vielleicht haben jene Skeptiker:innen Recht, die sagen, dass Meloni sich nur handzahm gibt, solange sie weiß, andernfalls die ganze EU gegen sich zu haben. Sobald sich dort die (Mehrheits-) Verhältnisse änderten, wäre sie zu viel radikaleren Schritten bereit. Vernunft also nur aus politischem Überlebenswillen heraus. Aber aus Europa kommt zur Zeit kein rechts-autokratischer oder -populistischer Rückenwind. Tschechien hat gerade erst proeuropäisch (und anti-russisch) gewählt. Der Krieg in der Ukraine und die Energiekrise stärken den europäischen Zusammenhalt. Gleichzeitig schreckt das politische wie wirtschaftliche Desaster, das zur Zeit in Großbritannien zu beobachten ist, wohl selbst die größten EU-Kritiker:innen ab. Sollte das absehbar so bleiben, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sich Giorgia Meloni und ihre Regierung dauerhaft an die Strukturen und Logiken der EU anpassen, anstatt das ganze Gefüge mit ihren Freunden im Geiste radikal umzukrempeln.

Meloni ist besessen und beseelt davon, für ihre „große Nation“ Italien das Beste zu tun und das Land zu – vermeintlich alter – Stärke zurückzuführen. Dafür braucht sie stabilen Rückhalt in der Wählerschaft und im außen- wie wirtschaftspolitischen Kontext, das hat sie schnell verstanden und entsprechend schon im Wahlkampf Taktik und Rhetorik geändert. Sie weiß auch, dass sie nicht zu stark werden darf, weil das andernfalls heftige Reaktionen ihrer politischen Partner hervorrufen könnte. Dass sie nicht zu radikal sein darf, weil sie sonst die Straße gegen sich aufwiegelt. Vielleicht ist Melonis moderate Politik also nur Kalkül. Wenn das verzweigte Netz aus innen- wie außenpolitischen Gegengewichten sie jedoch weiter dazu zwingt, macht es am Ende kaum einen Unterschied. Hauptsache, Italiens Demokratie bleibt stabil.

Eindeutiger Sieg, fragwürdiges Wahlsystem

Der Erfolg der Rechts-Koalition in Italien fiel deutlich aus und gibt Giorgia Meloni ein klares Mandat zu regieren. Dennoch sorgt das geltende Wahlsystem für Verzerrungen und Unklarheiten, die es dringend zu beheben gälte.

Grafik der Sitzverteilung in der Abgeordnetenkammer Italiens. Centrodestra mit 237 Sitzen, die Lega erhält davon 67. Zur Mehrheit reichen 201 Stimmen.

Keine Frage, die Parteien des rechten Spektrums Fratelli d’Italia, Lega, Forza Italia und Noi moderati handelten vor der ad hoc angesetzten Wahl schnell und klug, schmiedeten vorab eine Koalition und nutzten damit die Eigenheiten des italienischen Wahlsystems [LINK] zu ihren Gunsten: Sie teilten die Direktwahlkreise untereinander auf, anstatt dort jeweils in Konkurrenz zueinander anzutreten. 147 von 400 Sitzen werden in der Abgeordnetenkammer nach dem Prinzip first past the post vergeben, d.h. eine Stimme mehr genügt zum Sieg. 74 von 200 sind es im Senat. Ein strategischer Vorteil gegenüber dem linken Lager, dem es nicht gelang, eine entsprechende Einheit zu bilden und in dem daher – überwiegend – jede:r für sich antrat.

Mehr Sitze (und mehr Macht) für die Lega als das Gesamtergebnis hergibt – wie geht das?

Was für die Rechts-Koalition insgesamt von Vorteil war, hat für den eindeutigen Wahlsieger Fratelli d’Italia allerdings auch Nachteile. Im Vorfeld der Regierungsbildung musste Giorgia Meloni trotz des klaren Votums von 26 Prozent der Gesamtstimmen für FdI mit ihren Partnern und Konkurrenten Silvio Berlusconi und Matteo Salvini harte Kämpfe um die Besetzung von Ministerposten führen – obwohl diese mit lediglich 8.7 und 8.1 Prozent (Abgeordnetenkammer) deutlich abgeschlagen waren. Diese nominelle Schwächung, die aus dem Gesamtstimmenanteil hervorgeht, spiegelt sich nämlich nicht eindeutig in der Sitzverteilung wieder. Anders als im deutschen Wahlsystem werden die Direktmandate nicht mit dem proportionalen Gesamtergebnis einer Partei verrechnet, sondern sie kommen noch hinzu.

Wäre mit einem reinen Verhältniswahlrecht gewählt worden, so hätte die Lega beispielsweise lediglich 35 Sitze in der Abgeordnetenkammer erhalten, Forza Italia nur 32. Tatsächlich verfügen sie nun über 67 beziehungsweise 44 Sitze. Der Abstand zu Fratelli d’Italia mit 118 Sitzen fällt damit gerade im Falle der Lega wesentlich kleiner aus, als es bei einem rein proportionalen System der Fall gewesen wäre. Denn in dem Moment, wo die Rechts-Koalition die Direktwahlkreise untereinander aufteilte, musste sie sich auf Umfrage- und Erfahrungswerte stützen – und Giorgia Meloni selbstverständlich mit dem Machtbewusstsein zwei politischer Alphatiere kalkulieren. Zweier Alphatiere, die in ihrem stabilen Selbstbewusstsein und im Wissen um ihre früheren Erfolge durchaus nicht davon ausgegangen sind, die Führungsposition innerhalb der Koalition so eindeutig an „die Neue“ zu verlieren. Auch Meloni selbst wird kaum in dieser Dimension damit gerechnet haben, zudem war sie seit Auflösung der Parlamentskammern auf allen Ebenen darauf bedacht, möglichst viel Stabilität und Vertrauen in ihre zukünftige Regierung zu bekommen. Ihre tatsächliche Macht und Stärke konnte sie erst zuletzt ausspielen, als das Resultat fest stand und auf inhaltlicher Ebene plötzlich sie Italiens Verankerung im europäischen und atlantischen Verbund garantieren musste, gegenüber dem russophilen Irrlichtern Berlusconis und einiger Lega-Vertreter. Im Regierungsalltag wird sie gleichwohl auf die Geschlossenheit der Koalition angewiesen sein, in beiden Kammern. Einen Vorgeschmack auf kritische Abstimmungen gab es bereits bei der Wahl des Senatspräsidenten Ignazio La Russo, als Forza Italia nicht wie geplant abstimmte und La Russo nur mit Stimmen aus der Opposition ins Amt kam.

Für das politische System Italiens heißt dies zunächst, dass die wahrscheinlich wichtigste Opposition wie so häufig aus der Regierungsmehrheit selbst kommen wird – mit allen Risiken für die Stabilität und Dauer der Regierung Meloni. Allerdings hat das geltende Wahlsystem dafür gesorgt, dass ohne Neuwahl wohl kaum eine alternative Mehrheit zustande kommen wird. Allein das wird den Zusammenhalt der Koalition stärken, da die Anreize zum Aussteigen eher gering bzw. mit hohen Kosten verbunden sind (Neuwahlen). Demgegenüber wäre bei einem reinen Verhältniswahlrecht keine absolute Mehrheit für das rechte Lager zustandegekommen (43,8 Prozent, Camera, 44 Prozent Senato) und Italien hätte keinen klaren Wahlsieger gehabt. Welche negativen Auswirkungen große, lagerübergreifende Koalitionen für die Stabilität der Regierungen und damit für das politische Vorankommen des Landes haben, haben die die letzten beiden Legislaturperioden mehr als deutlich gezeigt.

Kandidaten-Flippern und fehlerhafte Wahlergebnisse. Das Wahlsystem leidet unter handwerklichen Fehlern

Nichtsdestoweniger bleibt das aktuelle Wahlgesetz reformbedürftig. So ist zum Beispiel wenig verständlich, weshalb das Votum für Direktkandidat:innen nicht unabhängig vom Kreuzchen für eine Parteiliste gemacht werden kann. Das würde nicht verhindern, dass Koalitionen sich vorab bei den Direktwahlkreise absprechen. Aber es gäbe der Wählerschaft mehr Wahlfreiheit – warum sollte nicht jemand eine Kandidatin des Terzo Polo wählen, in der Liste aber Fratelli d’Italia? Oder umgekehrt? Ein weiteres Ärgernis sind die mehrfachen Kandidaturen und das komplexe Auszählverfahren. Da Kandidat:innen in mehreren Direkt- und Listenwahlkreisen (uninominali e plurinominali) antreten können, entscheidet sich erst nach der Wahl, über welche der Positionen sie ins Parlament einziehen und wer dann an welcher Stelle für sie in den nicht genutzten Wahlkreisen nachrückt. Hinzu kommt der so genannten „Flipper-Effekte“, der durch den Abgleich der im Wahlkreis erreichten Quoten (und verbleibenden „höchsten Reste“, die nicht in einen vollständigen Sitz umgemünzt werden konnten) mit dem nationalen Ergebnis. Mit der Anpassung ans nationale Ergebnis wird einer Partei ihn ihrem schwächsten Wahlkreis ein Sitz genommen, den sie durch das regionale Ergebnis zu viel hatte, und einer anderen Partei zugeschlagen. Diese Verteilung erfolgt jedoch nur innerhalb der Stimmbezirke, insgesamt verliert die Partei keinen Sitz, weshalb es zu besagten Effekten in anderen Regionen kommt. Emanuele Bracco beschrieb das Phänomen für den Corriere della Sera so anschaulich, dass ich ihn hier – entnommen einem Artikel des Messaggero – schlicht zitieren möchte:

«Se 15.000 leghisti milanesi cambiassero idea e votassero Fratelli d’Italia, Fratelli d’Italia otterrebbe un seggio in più a Cagliari togliendolo a Forza Italia (i cui voti sono rimasti invariati). Forza Italia guadagnerebbe però un seggio in Basilicata, togliendolo alla Lega.» […] Con l’effetto paradossale […] che della serie di aggiustamenti dell’effetto flipper finisca vittima anche «un povero forzista sardo, che ha dovuto lasciare il suo posto a un collega lucano senza che i voti del suo partito siano cambiati né in Sardegna, né in Basilicata»

Il Messaggero, 26.08. 2022

Ein Sitz mehr für FdI in Cagliari, einen weniger dort für FI, dafür einen mehr in der Basilicata, wo die Lega einen Sitz verliert. Und ein Lukaner gewinnt den Sitz eines Sarden, ohne dass sich bei denen irgendwas getan hätte. Ähnlich verlief es mit Umberto Bossi, dem legendären früheren Parteichef der Lega Nord, passiert, der zunächst nicht wiedergewählt schien, schließlich aber doch noch ins Parlament einzog. Das Innenministerium, il Viminale, veröffentlichte vorläufige Ergebnislisten, die später mehrfach korrigiert werden mussten. Auch, weil den Verantwortlichen der Fehler unterlaufen war, die Partei +Europa bei der Stimmverteilung innerhalb der Koalition zu berücksichtigen, auch wenn diese unter der Drei-Prozent-Hürde gelegen hatte. Denn da sie in Koalition mit dem PD angetreten waren, mussten sie dennoch berücksichtigt werden – in Koalitionen liegt die Hürde bei nur einem Prozent.

Blockierte Listen ohne Präferenzstimmen und dennoch Unklarheit, wer eigentlich über welche Liste einzieht

Die Schwierigkeiten in der korrekten Sitzverteilung schaffen Unsicherheiten und Unklarheiten, nicht nur bei den betroffenen Parlamentsmitgliedern. Und das obwohl den Italiener:innen nicht einmal eines ihrer liebsten Wahlinstrumente zur Verfügung steht: die Präferenz. Damit können sie innerhalb einer Parteiliste einen Kandidaten oder eine Kandidatin bevorzugen, der oder die dann bei ausreichend erhaltenen Präferenzen innerhalb der Liste aufsteigt (in Deutschland gibt es das in ähnlicher Form des Kumulierens – wenn mehrere Präferenzstimmen zur Verfügung stehen – auf kommunaler Ebene). Dies wird als wichtiges demokratisches Instrument gegen die Macht der Parteispitzen gesehen, welche die Listen bestimmen. Denn in Italien hat zumeist der Parteichef oder die Chefin das Sagen darüber, wer auf die guten Listenplätze kommt – ein Grund, weshalb etwa Matteo Renzi lange nach dem Ende seiner Erfolgsphase noch zahlreiche Gefolgsleute in der Fraktion des PD hatte und weshalb Matteo Salvini trotz wachsender interner Kritik auf ausreichend Loyalität in der heutigen Lega-Fraktion setzen kann: Es sind „seine“ Leute, die dort sitzen.

Diese Präferenzabgabe gibt es nicht mehr, und trotzdem – oder auch: zudem – ist nicht ganz klar, wer wie über welche Liste nun ins Parlament gekommen ist. Das ist ein Manko und sollte eine Korrektur sein, die auch ohne gänzlich neues Wahlgesetz von der neuen Regierung behoben werden kann und sollte. Denn wenn die Wählerschaft nicht mehr versteht, welchen Effekt ihr Votum eigentlich hat, so schadet dies dem Vertrauen in das demokratische System.