Die Wahl des italienischen Staatspräsidenten 2022: institutionelle Konsequenzen I

Diese Wahl wird nicht ohne Folgen bleiben. In Italien wird nun die Direktwahl des Staatsoberhaupts und eine Reform des Wahlrechts diskutiert – mal wieder.

Der Palazzo Montecitorio, Sitz der italienischen Abgeordnetenkammer
Das Parlament im Zentrum der institutionellen Architektur Italiens, die wieder einmal auf dem Prüfstand steht.
Foto: Vlad Lesnov (Wikipedia) CC BY 3.0

Nach der Wiederwahl Sergio Mattarellas ins Amt des Staatspräsidenten sind sich die Kommentator:innen aus Politik und Medien zumindest in einem einig: So wie es ist, kann es nicht bleiben. Das desaströse Schauspiel einer zelebrierten Nicht-Wahl, in der sieben Wahlgänge lang die leeren Zettel und Enthaltungen dominierten und das auf Druck von unten, von den Mitgliedern der Wahlversammlung, sowie dem Einschalten des Premiers Draghi beendet wurde, ließ allen deutlich vor Augen treten, dass die aktuelle politische Führung Italiens es nicht kann. Sie kann keine Regierung bilden (2021) und sie kann keinen Präsidenten wählen (2022). Also muss etwas getan werden, und was läge näher, an den institutionellen Stellschrauben zu drehen.

Hätte man doch das Volk direkt wählen lassen, es wäre viel schneller zu einem Ergebnis gekommen. Manch einer (Renzi) verstieg sich sogar zu der Aussage, dies sei das letzte Mal gewesen, dass auf diese Weise das Staatsoberhaupt gewählt würde. Folgen wir also dem französischen oder amerikanischen Vorbild, nehmen wir den unfähigen Parteien die Entscheidung aus der Hand und legen sie in die Hände des Souveräns.

Die Vision eines semipräsidiellen Systems geisterte schon vor der Wahl durch die Medien, ins Spiel gebracht vom Lega-Minister Giorgetti, der sich gut vorstellen konnte, dass Mario Draghi die Regierungsgeschäfte auch vom Quirinalspalast weiterführen würde. Ein semipresidenzialismo di fatto in diesem Fall, ohne Reform und einfach durch die Kraft der Autorität – und die Schwäche der anderen. Die Post-Faschist:innen von Fratelli d’Italia haben die Direktwahl und die Umwandlung in ein Präsidialsystem noch immer in ihrem Parteiprogramm, eine Forderung, die schon die Vorgängerpartei Alleanza Nazionale in die Verfassungsreformen der 1990er Jahre einbrachte.

Direktwahl des Präsidenten als Lösung des Problems? Zweifel sind angebracht

Die Idee ist also keineswegs neu, ebensowenig wie ihre Begründung. Schon immer wurde als Grund für eine präsidiale Regierungsform die Schwäche des zersplitterten Parteiensystems, die schwierige Koalitionsbildung und geringe Verlässlichkeit der Fraktionen im Parlament, tatsächlich mit ihrer Regierung zu stimmen, herangeführt . Oft wurde als Beruhigung für diejenigen, welche die faschistische Vergangenheit Italiens durchaus als Mahnung verstehen und den „starken Mann“ mehr fürchten als herbeisehnen, dass in einem semipräsidiellen System der Präsident nur dann eine starke, dominante Rolle spielen würde, wenn das Parlament dazu nicht in der Lage wäre. Als ob nicht genau diese Situation in beunruhigender Regelmäßigkeit auftreten würde in Italien. Tatsächlich hat das Staatsoberhaupt in den vergangenen Jahrzehnten immer stärker diese Rolle eingenommen hat, welche die Befürworter:innen des Semipräsidentialismus skizziert hatten: Eine Ausfallbürgschaft gegen die Kapriolen des Parlaments. Nur, dass der Präsident nach wie vor keine Gesetze erlassen kann.

Sich in die Weisheit des Volkes retten zu wollen angesichts der offensichtlichen Unfähigkeit des politischen Spitzenpersonals, verlässliche Verhandlungen zu führen und Kompromisse zu schmieden, mag ein naheliegender Gedanke sein. Zumal die Unterstützung für ein Mattarella in der Bevölkerung sehr hoch gewesen war und weiter ist (und in lautstarken Publikumsäußerungen von der Mailänder Scala bis zum Festival di Sanremo zum Ausdruck gebracht wurde). Allerdings ist dies dieselbe Wählerschaft, die den Straßen-Populismus eines Matteo Salvini befeuerte, der nun auch zur Präsidentenwahl – erfolglos – den starken Mann markierte. Es ist dasselbe Wahlvolk, dass nun Giorgia Meloni hohe Zustimmungswerte einfahren lässt, weil sie mit markigen Sprüchen erst einmal gegen alles ist, aber für Patrioten und Italy first, was in Kombination mit einem Präsidialsystem nicht wirklich nach einem zukunftsfähigen Konzept klingt.

In den vergangenen Jahren wurden immer wieder Personen oder Parteien in Führungsverantwortung gebracht, mit denen sich eine gewisse Euphorie verband, dass nun alles besser werde. Dies gilt für die Technokraten Mario Monti und Mario Draghi genauso wie für Matteo Renzi und die Fünf-Sterne-Bewegung. Sie alle – bis auf Draghi bislang – stürzten innerhalb kürzerer Zeit wieder ab und verloren die Gunst der Wählerschaft so schnell, wie sie sie gewonnen hatten. Denn sie alle mussten Kompromisse eingehen, unangenehme Entscheidungen treffen, ihre Ideen in langwierigen Prozessen umsetzen – genug, damit „das Volk“ sie fallen ließ. Vom Heilsbringer zum Buhmann sind die Wege in Italien häufig kurz. Das muss nicht per se gegen eine Direktwahl sprechen. Niemand bereut etwa die Einführung der direkten Wahl zum Regionalspräsidenten oder zur Bürgermeisterin. Auf nationaler Ebene bekommt eine solche Wahl jedoch noch einmal ein anderes Gewicht, und die angeführten Beispiele zeigen, dass die Wählerschaft nicht immer weiser handelt als ihre Repräsentant:innen.

Weiterhin hätte die direkte Legitimation des Volkes notwendigerweise eine Veränderung des Amtes zur Folge. Das Staatsoberhaupt würde auf einer Ebene mit dem Parlament stehen und seine Legitimation direkt, nicht von ebendiesem Parlament abgeleitet erhalten. Dies ist demokratietheoretisch unproblematisch, doch es verändert das Verhältnis zwischen den beiden Organen. Bislang war in Italien stets das Parlament der höchste Ausdruck des Volkswillens, bei einer Direktwahl zöge der oder die Präsident:in der Republik gleich. Ihr Amt würde dadurch politischer, denn den Handlungen und Entscheidungen läge nun auch ein Mandat des Volkes zugrunde. Bislang sind es die grandi elettori, die Abgeordneten und Senatorinnen sowie Vertreter:innen der Regionen, 1009 Repräsentant:innen, die notwendigerweise die Vielfalt (und leider auch Fragmentierung) der politischen Landschaft abbilden, die zugleich aber gezwungen sind, eine breite Mehrheit zu finden. Genau was jetzt nicht gelang, war und ist noch die Grundlage des Präsidentenamtes: überparteilich, lagerübergreifend gewählt zu sein, um einen Verfassungsauftrag auszuüben: nämlich neutral den Erhalt und das Funktionieren der bestehenden institutionellen Ordnung zu gewährleisten.

Bei einer Direktwahl durch die Wahlberechtigten wäre ebenfalls mindestens die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen zu erreichen, soll das Staatsoberhaupt doch weiterhin die ganze Nation vertreten. Gleichwohl wäre damit eine Wahlkampagne verbunden, ein Werben um Stimmen, ein Ein- und Auftreten in einer bestimmten Sache. Das zieht die einen an, und schreckt die anderen ab. Der jetzige Charakter der Präsidentenwahl, der davon geprägt ist, dass Personen nominiert werden und deren Namen dann auf die weißen Zettel geschrieben werden, der also ein dezidiert passiver ist, würde gezwungenermaßen verloren gehen. Damit verliert sich auch der unpolitische Charakter, und bei allem Streben nach Überparteilichkeit ein Stück weit voraussichtlich auch die konstitutionell vorgesehene Neutralität, die Tradition des Notars.

Damit stellt sich zuletzt die Frage, wer die Kandidat:innen für das Amt des Staatsoberhaupts bei einer Direktwahl benennen soll. Es werden letztlich wohl wieder überwiegend die Parteien sein, die diese Aufgabe übernehmen. Dieselben Parteien, die in den vergangenen Tagen keine Kadidatin und keinen Kandidaten präsentieren konnten und sich teilweise über den Verlauf der Verhandlungen selbst zerlegten. Selbstverständlich besteht auch die Chance einer Bewerbung aus der Bevölkerung heraus, aber es wird ohne die Parteien kaum gehen. Übertragen wir die diesjährige Wahl in ein Direktwahlszenario, so hätte wahrscheinlich das Mitte-Rechts-Lager den oder die gewünschte „Patriot:in“ aufgestellt, auch wenn diese gewiss keine Akzeptanz im anderen Lager gefunden hätte. Mitte-Links hätte sich vielleicht gemeinsam mit dem Zentrum doch auf Mario Draghi einigen können, und falls nicht – wegen des Widerstands der 5-Sterne – einen anderen, aber schwächeren, unbekannteren Kandidaten aufgestellt. Vielleicht hätte es parallel eine Bürgerinitiative für ein Mattarella-Bis gegeben. Dann wäre unter Umständen das gleiche Ergebnis herausgekommen. Oder aber, etwa bei einem knappen Vorsprung von Mitte-Rechts, wäre ein dezidiert politischer, nicht neutraler Kandidat durchgekommen. Oder es wäre doch Mario Draghi geworden, was eine Umbildung der Regierung nach sich gezogen hätte, bei der Lega und FI angesichts ihrer Niederlage bei der Präsidentschaftswahl vielleicht Konsequenzen gezogen hätten.

Dies ist alles Spekulation, aber es zeigt, dass die Direktwahl des Staatsoberhaupts – trotz und gerade wegen des Verfalls des Parteiensystems nicht allein die Probleme löst. Vor allem, solange das Hauptproblem – die politische Kultur der Parteien und ihrer Führung – nicht gelöst ist.