Stabil instabil

Italien steckt plötzlich mitten in einer Regierungskrise, die es in sich hat. Und das, weil… ja, warum eigentlich?

Grund 1: Die 5-Sterne-Bewegung

Giuseppe Conte

Der Auslöser in diesem Fall ist die Identitäts- und Führungskrise der Fünf-Sterne-Bewegung (M5S). Giuseppe Conte hat seine Rolle als politischer Führer nach Ende seiner Zeit als Regierungschef nie wirklich gefunden. Er sollte sich profilieren, der Bewegung eine neue, aber klare Linie geben und sich gegen innerparteiliche Kritiker und Konkurrenten durchsetzen. Nun, nichts davon ist ihm gelungen. In den sozialen Medien kursieren Witze, dass niemand so richtig weiß, wie es eigentlich dazu kommen konnte, dass er ernsthaft zwei Regierungen vorstand. Nicht erst in der jetzigen Phase wirkt Conte planlos, hin und hergerissen zwischen den verschiedenen Seelen des Movimento, zwischen der gouvernementalen und der ideologischen Linie. Es scheint sich nun deutlich zu bewahrheiten, was Matteo Renzi beim Sturz der Conte II-Regierung ihm um Vorwurf machte: Der Mann hat keinen Plan. Und keinen politischen Instinkt. Beziehungsweise fehlt ihm die Fähigkeit, Allianzen zu schmieden, Konkurrenten ins Boot zu holen, Pakte oder zumindest Kompromisse zu schließen. Wenn diese Fähigkeiten fehlen, ist es schwierig, eine zerrissene Partei wenigstens vorübergehend in ruhigere Fahrwasser zu bekommen.

Die Identitätskrise der 5-Sterne

Der Austritt des Außenministers und ehemaligen politischen Anführers Luigi di Maio und einer nennenswerten Anzahl an Abgeordneten und Senator:innen hatte sich lange angekündigt. Di Maio war in er bemerkenswerten persönlichen Weiterentwicklung immer mehr zu einem Abbild des unideologischen, pragmantischen Politikers geworden – nach Ansicht vieler Beobachter zu einem würdigen Nachfolger der Christdemokraten, die jahrzehntelang die Regierung stellten und die politischen Interessen austarierten. Nach Ansicht eines Teils seiner eigenen Partei war er damit beim „Marsch durch die Institutionen“ zum „A… der Institutionen“ geworden und hatte quasi Hochverrat an den Idealen der Bewegung genommen. Klebt an seinem Sessel. Erfüllt nicht den Wählerwillen. Macht sich gemein mit den politisch-ökonomischen Eliten, die man früher gemeinsam bekämpfte.

Nur wenn die einen in der Realpolitik ankommen und die anderen an ihren Idealen festhalten, wo führt das dann hin? Solche Häutungsprozesse machen wohl alle neuen politischen Kräfte durch, wenn sie länger Bestand haben. Nur leider hatten die 5-Sterne keine Führungsebene, die die Mitglieder und Anhänger:innen durch diesen Prozess geführt hätte. Der „Garant“ Beppe Grillo wurde immer wieder gerufen, um sein Placet zu geben oder eine Richtung zu weisen. Aber das waren kurze Intermezzi, teils widersprüchlich, teils kontraproduktiv. Einmal trat er als Joker auf, um die 5-Sterne von einer Koalition mit dem PD zu überzeugen – die sie vormals bekämpft hatten. Dann stellte er den – damals schon faktisch als künftigen Präsidenten feststehenden – Conte bloß, indem er ihm öffentlich wenig schmeichelhafte Kompetenzen – nämlich keine – attestierte. Nach der Abspaltung der „dimaiani“ kam er kurzerhand doch nicht nach Rom zum Krisengipfel. Gute Führung sieht anders aus. Giuseppe Conte sollte die Lücke füllen, aber: s.o. Luigi Di Maio hat, aller innerlichen Reifung zum Trotz, nie die Autorität und das Format einer wirklichen Führungskraft angenommen. Als er in dieser Position war, war der politische Kompass der Fünf-Sterne noch recht klar, und Di Maio ein Ausführender des Willens der Bewegung. Aber zu diesem Zeitpunkt galt noch unbestritten: uno vale l’altro, jeder ist ersetzbar.

Inzwischen weiß niemand mehr so recht, wofür die grillini stehen, und genau deshalb suchen sie Halt in ihren Wurzeln, rufen Diba – Alessandro Di Battista – der sich nie die Hände an einem politischen Amt schmutzig gemacht hat. Ein verzweifeltes Zurück-zu-den-Wurzeln der glorreichen Vaffa-Days verträgt sich aber schlecht mit Regierungsverantwortung.

Grund 2: Eine Regierung nationaler Einheit gestützt auf Populisten

Eine Expertenregierung, die politisch angewiesen ist auf die Unterstützung populistischer Parteien von rechts bis eher links. Das kann eigentlich nicht gut gehen. Und doch hatten alle die Hoffnung, dass Mario Draghi es zumindest für die Zeit von zwei Jahren hinbekommt, dass der Schrecken der Pandemie mit ihren vielen Toten und dem Einbruch der Wirtschaft lang genug wirkt, um alle zur Vernunft zu bringen. Doch schon früh fingen die ersten an zu wackeln, mit den Füßen zu scharren, weil sie zu viele Dinge, die sie versprechen wollten, nicht versprechen konnten, weil Mario Draghi eben pragmatisch-ernste Politik macht und keine umfragengesteuerten Social-Media-Kampagnen. Als konservativer Banker, sollte man meinen, hätte das Mitte-Rechts-Lager die geringeren Probleme mit seinen politischen Maßnahmen. Aber ein Matteo Salvini hat noch nie eine seriöse konservative Politik betrieben[1], sondern lieber den Sheriff gespielt. Deshalb war er auch der erste, der gegen die Regierung schoss, weil seine Umfragwerte sanken und Giorgia Meloni in der Opposition die besseren Karten zu haben schien. Deshalb war es zunächst die Lega, die an der Geschlossenheit der Regierung wackelte. Immer und immer wieder. Bis Mario Draghi schon zur Präsidentenwahl im Januar genug zu haben schien und lieber in den Quirinalspalast wechseln wollte. Daraus wurde bekanntlich nichts, aber die Mätzchen und Spielchen, um irgendwie in der Wählergunst zu steigen, waren ihm offensichtlich zuwider.

Matteo Salvini konnte sich die letzten Tage zurücklehnen und einfach beobachten, wie andere die unbeliebte Rolle desjenigen übernahmen, der die Regierung stürzt. Schließlich ist das immer ein Vabanque-Spiel, wer weiß, ob es einem die Wähler:innen wirklich danken. Aber das Problem der Populisten ist eben: Entweder, sie kriegen ihre lautstark proklamierten Forderungen durchgesetzt – oder sie müssen in die Opposition. Kompromiss ist keine Option. Eine Regierung der nationalen Einheit zu bilden, ist hingegen der Inbegriff der Kompromissfindung. Je näher das reguläre Ende der Legislatur im März 2023 rückte, desto unruhiger wurden also die Beteiligten, desto dringender die Profilierungssucht.  Nur hat der Regierungschef dafür wenig Verständnis.

Grund 3: Ein Premier mit Prinzipien – und wenig Verständnis für taktische Spiele

Mario Draghi meint es ernst. Er hatte mehr als einmal deutlich gesagt, zu welchen Bedingungen er bereit sei, diese Regierung zu führen. Diese wurden offenkundig überhört – oder seine Reaktion einkalkuliert, was jedoch insofern irritiert, als im Falle von Neuwahlen die 5-Sterne-Bewegung am stärksten verlieren würde. Aber zurück zu Draghi: Er war als Heilsbringer empfangen worden, als einer, der aus einer anderen Sphäre kommt und Italien retten, auf den rechten Weg zurückführen sollte. In gewisser Weise hat er diese Erwartung erfüllt. Mario Draghi hat Italien Reputation und Ansehen auf internationaler Ebene zurückgebracht, in international schwierigen Zeiten. Er hat sich als kompetenter Krisenmanager erwiesen, und dabei nicht einmal als der neoliberale Schrecken, als den ihn manche politischen Gegner in seiner Zentralbankchefrolle darstellten.

Allerdings hat auch Draghi recht bald erfahren müssen, dass es eine Kärrnerarbeit ist, in Italien Politik zu machen. Schwierig genug, Justizreformen auf den Weg zu bringen, die Teil des Wiederaufbauplans sind, Draghis Kerngeschäft also. Schwierig genug, Coronamaßnahmen zu erlassen, wenn ein Teil der Regierung nicht weiß, ob sie zu den Impfskeptikern gehören oder nicht. Aber dann: die Konzessionen für die Strandbäder, die Reform des Katasters, die Abschaffung des Superbonus 110, mit dem Häuser auf Staatskosten energetisch saniert werden sollten – oder ganz ohne Beteiligung des Premiers der so genannte ddl Zan, der sich gegen die Diskriminierung der LGBTQ-Comunity richtete und in einem offenen Kampf der in der Regierung vereinten politischen Lager endete. Zuletzt der Gesetzesentwurf für Unterstützungen der Bürger:innen in der aktuellen Energiekrise, aber da ging es schon gar nicht mehr um Inhalte. Alles Dinge, bei denen ein außenstehender meint, man müsse da recht geräuschlos zu Kompromissen finden. Nein, wenn Umfragewerte sinken, die Machtbasis in der eigenen Partei schwindet oder ganz real Kommunalwahlen verloren gehen, dann sitzt das Wams näher als die Hose, dann steht nicht mal das Interesse der eigenen Klientel – die Strandbadbetriebserlaubnisse mal außen vor – oder dasjenige der Partei, sondern sehr häufig einfach das ganz individuelle Interesse der in Schwierigkeiten geratenen Person ganz oben.

Entsprechend hoch dann die Geräuschkulisse zu parallel zu den Kabinettssitzungen. Mario Draghi hat nie einen Hehl daraus gemacht, wie sehr ihn das nervt. Auch in den letzten Tagen war die Ungeduld mit Giuseppe Conte spürbar, bei allem Verständnis für dessen Zwänge und inhaltliche Erwägungen. Aber irgendwann muss man sich halt auch einfach hinsetzen und eine Lösung ausarbeiten. Bloß dass es darum in den vielen politischen Krisen ja gerade nicht geht, sondern um die bewusste Herbeiführung eines Bruchs. Aber solche Spielchen spielt man nicht mit Mario Draghi. Er ist gedanklich stets mindestens genauso viel in der Welt der globalen Verflechtungen wie in der italienischen Innenpolitik. Und aus dieser Perspektive der globalen Ereignisse, aber auch der globalen Verantwortung erscheinen die Probleme eines Giuseppe Conte doch eher klein. Und dessen Zwang sie aufzubauschen doch mehr als ärgerlich.

Ob es Staatspräsident Mattarella gelingen wird, Mario Draghi zu einer Fortführung der Regierungsarbeit zu bewegen, ist derzeit mehr als fraglich. Denn vor allem wird es keine Garantie geben, dass das Verhandeln und Dazwischenschießen, das Stellen von Ultimaten und das Getöne gegenüber der Wählerschaft nicht in wenigen Wochen wieder losgehen, wenn die Wahlen näher rücken. Warum es also nicht jetzt schon beenden und die Parteien für das in die Verantwortung nehmen, was sie da veranstalten?

Kein Heil, durch niemanden

Es war sicher kein Fehler, Mario Draghi das Amt des Premierministers anzuvertrauen. Aber es war auch nicht die Lösung. Selbst wenn er noch für ein „bis“ weitermachen sollte, die Legislatur zu Ende bringt, letztlich muss sich Italien dem stellen, was Realität ist: Es hat eine unzureichende politische Klasse. Eine wahrscheinliche Mitte-Rechts-Regierung wäre nicht mehr die Katastrophe, die sie vor ein paar Monaten gewesen wäre, denn sowohl Russophilie wie auch EU-Feindlichkeit machen sich gerade nicht mehr wirklich bezahlt. Doch Stabilität würde auch sie nicht bringen, so sehr wie sich die beteiligten Parteien Lega, FdI und FI seit der Präsidentschaftswahl und den Kommunalwahlen zerfleischt, versöhnt, beharkt haben. Wenigstens würde nicht mehr ganz Europa am Selbstfindungsprozess der Fünf-Sterne beteiligt sein – dann nicht mehr. Zur Zeit tragen wir die Risiken einer Euro-Krise gerade mit, weil Conte eine schwache Führungsfigur ist. Apropos: Auch die EU müsste sich der Realität stellen, dass sie nicht dauerhaft die hoch verschuldeten Italiener durchziehen kann, sondern dass sie eine wirkliche Euro-Reform brauchen. Zur Zeit ist es, wie als würde man einen Schüler mit schlechten Leistungen trotzdem jedes Jahr durchkommen lassen, nur damit niemand merkt, dass die Unterrichtsmethoden vielleicht nicht ganz adäquat sind.

Italien steht nach wie vor vor einem enormen Berg an nötigen Reformen und Modernisierungen. Letzteres hat es gemein mit vielen europäischen Ländern. Die Energiekrise und ihre noch unabsehbaren Folgen machen es nicht besser. Auch das hat Italien gemein mit seinen Nachbarn. Über den eklatanten Wassermangel im Norden spricht gerade in politischen Zusammenhängen kaum einer, aber auch er ist eine enorme Belastung für Wirtschaft, Natur und Gesellschaft. Mit dem vorhandenen dysfunktionalen Politikbetrieb – explizit nicht: politischen System! – wird sich das nicht zum besseren wenden. Es brechen keine gute Zeiten an in Italien. Aber unausweichliche.


[1] Zugegeben, auch Silvio Berlusconis Forza Italia schmückt sich erst seit kurzem damit.