Die Stärke der Rechten

Melonis Regierung ist stabil wie kaum eine vor ihr. Hat Italien jetzt also endlich die Regierung, die es wollte?

In Italien hat es in der Summe mehr rechte als linke Regierungen geben, weshalb es also nicht verwundern dürfte, das eine rechte Regierung deutlich fester im Sattel sitzt als manche linke oder gemischte vor ihr. Nur dass diese hier das Präfix „ultra-“ verdient hat und noch sicherer durch die Legislatur zu navigieren scheint als ihre rechten Vorgänger. Damit drängt sich erneut die Frage auf, die schon zur Wahl im September 2022 allerorten alarmierte: Ist Italien jetzt ein ultrarechtes Land geworden? Hat es einen tiefgreifenden politischen, ideologischen Wandel gegeben? Bleibt Italien jetzt rechts? Die ersten beiden Fragen würde ich klar verneinen, die dritte hat jedoch einiges Potenzial, mit Ja beantwortet werden zu können. Das wirkt paradox? Ist es aber nicht. Machtwille, Oppositionsschwäche und politische Resignation sind die Kombination, aus der Melonis Erfolg resultiert.

Faktor 1: Machtwille und Moderation

Der erste Grund für Melonis erfolgreiches Regieren ist an dieser Stelle schon mehrfach zur Sprache gekommen und soll daher nur kurz angerissen werden: Ihr gelingt es seit Amtsantritt, sowohl den faschistoiden Parteikollegen als auch den rechtspopulistischen Koalitionspartnern der Lega genau so viel Raum zu geben, dass sie den harten Kern der Wählerschaft bei der Stange halten und sich ausreichend profilieren können, damit sie nicht rebellieren. Denn zugleich gibt sich Meloni insbesondere auf internationaler Ebene moderat, gesprächsbereit, verlässlich. Keine radikalen wirtschafts- und finanzpolitischen Manöver und Bündnistreue im Falle des Ukraine-Krieges. Innerkoalitionär hält sie sich solange aus Polemiken und Streitereien raus, bis es nicht mehr geht, dann stellt sie sich zumeist vor ihre Kollegen und sagt intern: Basta. Machterhalt steht ganz vorn, deshalb geht Loyalität vor eigener Profilierung

Faktor 2: Die Opposition

Von dieser Eigenschaft könnten sich insbesondere die Kleinpartei-Anführer Carlo Calenda und Matteo Renzi etwas abschauen. Aber wenn es auf die ankäme, dann wäre die Situation schon eine ganz andere und Melonis Rechts-Koalition hätte ernsthafte Konkurrenz. Hat sie aber nicht. Und das liegt nicht an den profilierungssüchtigen Politikern der selbsterkorenen „Mitte“, sondern am Partito Democratico und dem Movimento 5 Stelle.

Für einen kurzen Moment nach der Regionalwahl in Sardinien im Februar sah es so aus, als könnte sich der Zusammenschluss von PD und M5S zum Kern des campo largo – dem Zusammenschluss aller Oppositionsparteien – tatsächlich zu einer Wahlalternative entwickeln. Dort gewann mit Alessandra Todde eine lokal und regional gut gelittene, pragmatische Kandidatin der Fünf-Sterne – allerdings im Endergebnis doch deutlich knapper als am Wahlabend vorausgesehen. Meloni hatte mit ihrem Kandidaten ein paar strategische Fehler begangen, aber die große Krise der Regierungskoalition, die manche da schon herbeireden wollten, folgte daraus nicht. Auch hier wirkte die Geschlossenheit nach außen, bei aller Kritik, die es intern gegeben haben wird. Vor allem aber konnte das Mitte-Links-Bündnis einen Monat später in den Abbruzzen den Erfolg nicht wiederholen und unterlag klar dem Kandidaten der Rechten. Parallel begannen die öffentlich ausgetragenen Streitigkeiten um die Kandidatensuche zur Regionalwahl in der Basilicata und für den Oberbürgermeisterkandidaten in Bari. Dort, in Bari, zeigt sich nun die geringe Haltbarkeit des Bündnisses: Der Kommune droht Zwangsverwaltung wegen mafiöser Verstrickungen. Es wurden Anklagen gegen 130 Personen erlassen, während sich der Fall auf die Regionalregierung ausbreitet: Im Zentrum der politischen Diskussion steht nun der Kauf von Wählerstimmen, derentwegen die Beigeordnete der Region für Transport & Verkehr, Anita Maurodinoia, inzwischen zurückgetreten ist.

Für Giuseppe Conte, dem Vorsitzenden des M5S, tut es wenig zur Sache, dass seine Bewegung selbst Mitglied der Regionalregierung war, und die Angeklagten eigentlich aus dem Mitte-Rechts-Spektrum kommen und erst später zur linken Regierungsmehrheit übergewechselt sind. Wenn es um Stimmenkauf, um politische Korruption geht, dann ist der Kern der Fünf-Sterne-Bewegung getroffen. Nicht umsonst war ihr Slogan jahrelang onestà, Rechtschaffenheit. Eine Partei, die sich nicht klar von mafiösen Verstrickungen und gekauften Wählerstimmen distanzieren kann, ist kein Partner. Hier bedarf es klarer Kante, und so sind die Fünf-Sterne-Mitglieder der regionalen giunta mittlerweile von ihren Ämtern zurückgetreten – und fordern eine ähnlich klare Haltung unwirsch vom PD. Hier geht Profilierung definitiv vor Loyalität. In Bezug auf den Machtwillen fällt das Urteil weniger eindeutig aus: M5S hat viel zu verlieren, wenn sich die Bewegung nicht klar distanziert. Und gegebenenfalls etwas zu gewinnen, sollte der Makel der Korruption am PD haften bleiben. Nicht zu unrecht müssen sie sich daher den Vorwurf gefallen lassen, letztlich doch die Stimmen vom potenziellen Koalitionspartner klauen zu wollen anstatt vom Mitte-Rechts-Lager. Tatsächlich sind PD und M5S in inhaltlichen Fragen oft weit auseinander, etwa in der Haltung zur EU und zur Migration, doch die Gräben wirken auch deshalb so tief, weil sie anders als Melonis Regierungsbündnis die Sticheleien untereinander schlecht aushalten und vertiefen statt sie zu kitten. Angesichts eines solchen Skandals wie in Apulien halten die dünnen Bänder des Bündnisses dann umso weniger.

Für den Partito democratico ist es eine desaströse Lage: Auch im eigenen Wählerfeld gehören Korruption und politischer Betrug wohl zu den schlimmsten Vergehen (anders als in Teilen der rechten Wählerschaft, die schließlich jahrzehntelang problemlos Silvio Berlusconi wählte). Zudem mangelt es der Partei nach wie vor an inhaltlichem Profil, sie ist nach wie vor zwischen verschiedenen Strömungen hin und her gerissen. Da war es unabdingbar, sich wenigstens wieder als Alternative mit realistischer Machtoption präsentieren zu können – und das geht in der aktuellen Lage nur über den Movimento 5 Stelle. Verliert der PD nun kurz- bis mittelfristig diese Option, sehen selbst die eigenen Anhänger kaum noch eine Perspektive. Die Unterstützer des Mitte-Links-Lagers sind also nicht zwingend alle nach rechts gerutscht, sie sehen nur womöglich keine aussichtsreichen und/oder glaubwürdigen Kandidat:innen. Dieses Proble ist speziell für den PD nicht neu. Schon bei einigen vergangenen Wahlen häuften sich (Selbst-)Berichte, wonach „man wieder PD wählte“, einfach nur, weil man es immer getan hatte, nicht weil man überzeugt gewesen wäre oder sich etwas davon versprach. Somit verfallen die Wählerinnen und Wähler zunehmend in Agonie – und gehen gar nicht mehr zur Wahl.

Faktor 3: Abstinenz

Was kostet eine Wählerstimme? Die oben genannten Skandale lassen den Blick nicht nur auf die Politiker:innen richten, die sich mit Geld einen Sitz im Kommunal- oder Regionalrat sicherten (nicht nur in Apulien, auch im Piemont und auf Sizilien laufen Ermittlungen). Was ist den Wählerinnen ihre Stimme wert? 50 Euro, wie es scheint. Oder eine bezahlte Rechnung. Heizung, Strom, ist schließlich alles teurer geworden. Klassisch natürlich auch der angebotene Arbeits- oder Ausbildungsplatz. Wie Goffredo Buccini im Corriere della Sera vom 8. April zurecht feststellt, sagt der Tauschwert einer Wählerstimme viel über den Stellenwert der Demokratie aus. Beziehungsweise über den empfundenen Wert des eigenen Votums: Wenn ich breitwillig die inzwischen berühmt gewordene bombola di gas, die Gasflasche fürs Haus, gegen mein höchstes demokratisches Recht, frei zu wählen, eintausche, dann muss ich überzeugt sein, dass mir die Gasflasche mehr bringt als die Wahl.

Das ist eine traurige Feststellung. Und doch eine, die ins Bild passt. Denn immerhin bekommt die Person eine Gasflasche, oder eine bezahlte Rechnung. All diejenigen, die weder in Sardinien noch in den Abruzzen ihre Stimme gar nicht erst abgegeben haben, erhalten gar nichts. Ist damit nicht schlau, wer sich wenigstens fünzig Euro in die Hand drücken lässt? 47,81 Prozent erhielt die „Partei der Nichtwählenden“ in den Abbruzzen, 47,7 Prozent in Sardinien. Zur nationalen Parlamentswahl im September 2022 waren es zwar nur 36,09 Prozent, aber immerhin hielt es mehr als ein Drittel für verzichtbar, seine Stimme abzugeben. Jedes Mal wird dies erschrocken vermerkt – und dann konzentriert man sich auf die Reaktionen und Streitereien der Parteien, obwohl diese im Vergleich viel weniger Zuspruch erhielten: Die stärkste Kraft Fratelli d’Italia erhielt in den Abruzzen gerade mal 24,1 Prozent der abgegebenen Stimmen. Es werden alle Politiker:innen angehört, was sie zum Wahlergebnis sagen, dabei wäre es interessant zu hören, was die Einwohnerinnen der Kommunen zu sagen haben, in denen fast 80 Prozent der Wahlberechtigten zuhause blieben.

Wahrscheinlich sagen sie: Es macht keinen Unterschied. Ich versuche, über die Runden zu kommen, meine Sorgen sind die Rechnungen, die Arbeit, die Kinder oder auch die fehlende Arbeit der Kinder, liegt die Jugendlichenarbeitslosigkeit in der Region doch laut Eurostat bei mehr als 19,5 (2021). Die Auffassung, dass sich ohnehin nichts ändert, mag nicht gerechtfertigt sein. Gleichwohl nähren Politiker:innen verschiedener Parteien immer wieder das Narrativ, dass es den anderen Parteien nur um Ämter und Zugriff auf Pfründe ginge. Solche Nachrichten wie die aus Apulien verstärken dieses Bild, ebenso die kontinuierlichen Streitereien und Vorwürfe untereinander. Vom PNRR, dem milliardenschweren Wiederaufbauprogramm der EU, von dem Italien besonders stark profitiert, ist seit längerem nur in Randnotizen zu hören. Zur Erinnerung: Die Konzeption dieses Plans brachte immerhin die Regierung Conte II zu Fall. Gibt es ein Programm, eine Vision? Wohin soll sich das Land entwickeln? So richtig mag man das weder für das rechte noch für das linke

Wahrscheinlich sagen sie: Es macht keinen Unterschied. Ich versuche, über die Runden zu kommen, meine Sorgen sind die Rechnungen, die Arbeit, die Kinder oder auch die fehlende Arbeit der Kinder, liegt die Jugendlichenarbeitslosigkeit in der Region doch laut Eurostat bei mehr als 19,5 (2021). Die Auffassung, dass sich ohnehin nichts ändert, mag nicht gerechtfertigt sein. Gleichwohl nähren Politiker:innen verschiedener Parteien immer wieder das Narrativ, dass es den anderen Parteien nur um Ämter und Zugriff auf Pfründe ginge. Solche Nachrichten wie die aus Apulien verstärken dieses Bild, ebenso die kontinuierlichen Streitereien und Vorwürfe untereinander. Vom PNRR, dem milliardenschweren Wiederaufbauprogramm der EU, von dem Italien besonders stark profitiert, ist seit längerem nur in Randnotizen zu hören. Zur Erinnerung: Die Konzeption dieses Plans brachte immerhin die Regierung Conte II zu Fall. Gibt es ein Programm, eine Vision? Wohin soll sich das Land entwickeln? So richtig kann man das weder für das rechte noch für das linke Lager sagen. Es gab viele sehr unterschiedliche Regierungen in den letzten Jahren, was sie bewirkt haben ist für die Bürger:innen wahrscheinlich nicht einmal so klar festzustellen. Nun also eine ultrarechte Regierung, mal sehen, so schlecht läuft es ja nicht.

Natürlich sind auch unter den Nichtwählenden welche, die auf die EU wettern, die Sympathien für Putin hegen und die etwas gegen Migrant:innen haben. Wahrscheinlich aber überwiegt der herablassende Rassismus deutlich den hasserfüllten Rassismus. Den Filippino im Haushalt und den Araber auf der Baustelle sieht man nicht als gleichwertig an: doch lieber die machen diese Arbeit als man selbst, vor allem, wenn man auf den Baustellen doch nur stirbt, wie unlängst in Florenz. Was nicht heißt, dass man sie aus dem Land haben möchte, nur, wenn es so weit kommen sollte… einige würden sich finden, die dagegen protestieren, die Solidarität zeigen, andere nicht. Resignation, was die Repräsentation der eigenen Interessen angeht, resultiert in Gleichgültigkeit, wenn es an grundlegende Werte des politischen Systems geht: Grundrechtssicherung, Medienfreiheit, Rechtsstaatlichkeit.

Wenn die wichtigsten Posten der RAI mit Getreuen der Regierung besetzt werden, diskutieren das die Medien. Vielleicht wird es für die Gesellschaft relevant, wenn die Sanremo-Ikone Amadeus nun der RAI seinen Rücken kehrt. Er war nun wirklich mehrheitsfähig, mit Rekordeinschaltquoten jedes Jahr aufs Neue, mit eine keineswegs rechtskonservativen Programm. Aber vielleicht schalten sie nur einfach um, wechseln mit ihm den Sender. Diese Resignation aber ist es, die es der aktuellen Regierung ermöglicht, punktuell ihre ideologisch-kulturellen Marker zu setzen. Die Dominanz der Medien ist ein Aspekt, Fragen der Abtreibung, der Rechte gleichgeschlechtlicher Paare etwa ein anderer. Auf diese Weise können sie das Land in eine erzkonservative Richtung wandeln, mit kleinen Maßnahmen im rechtlichen Rahmen, aber auch im Diskurs. Den Diskurs kann die Opposition zwar weiter mitgestalten – wenn sie aber keine wirkliche Gestaltungsoption hat, wird dies aber schwierig bleiben.

So kann Italien (ultra-)rechts werden und bleiben, ohne dass es dazu eine aktive Bewegung gegeben hätte. Nur eine kluge Anführerin, die die Situation für sich zu nutzen weiß.

Die neue Normalität des Postfaschistischen

Etwas mehr als 100 Tage ist Melonis Regierung im Amt und an den Zwischenbilanzen fällt auf: Es geht um politische Inhalte.

Giorgia Meloni schüttelt Ursula von der Leyen leicht verkrampft die Hand.
Sieht noch nicht nach echter Freundlichkeit aus: Giorgia Meloni und Ursula Von der Leyen. European Union 2022

Giorgia Melonis Regierung der besonderen Attribute – die erste Frau als Premier, die rechteste Regierung aller Zeiten, die erstaunlich schnell gebildete Regierung, die erste klassisch „gewählte“ Regierung seit langem – hat ihre Phase der Luna di miele, der Flitterwochen hinter sich gelassen. Das gab natürlich Anlass für allerlei Bilanzen, bei denen erstaunlich wenig darüber gesprochen wurde, dass hier eine postfaschistische Partei an die Macht gekommen ist, die sich in einer ideologisch-historischen Linie mit dem Movimento Sociale Italiano sieht, der Nachfolgepartei der Faschist:innen.

Die europäischen Nachbarstaaten, insbesondere Deutschland, hatten Italien vor und nach der Wahl äußerst kritisch beäugt – Melonis politische Herkunft und das Personal ihrer plötzlich so erfolgreichen Partei hatten dort weit mehr Sorge ausgelöst als in Italien selbst. Die italienische Sichtweise scheint sich durchzsetzen: Zwar gibt es einiges zu kritisieren an der neuen Regierung, doch die Fundamentalkritik blieb und bleibt aus. Auf europäischer Ebene hat man sich längst wieder anderen Themen zugewandt. Die linke und linksliberale Presse in Italien stürzten sich zwar auf die teils dilettantisch wirkenden Haushaltsverhandlungen, die (halbe) Abschaffung des Bürgergelds, die sinnfreie Debatte, ab welchem Betrag Kartenzahlung ermöglicht werden muss oder nicht. Sie stoßen sich zurecht an Äußerungen des Justizministers Nordio, der harsche Kritik an der Verwendung richterlicher Abhörmethoden äußerte, ohne auf deren Relevanz bei Anti-Mafia-Ermittlungen einzugehen. Deutlich wurde der Umgang mit den NGO-Schiffen kritisiert, welche die neue Regierung – wenig überraschend – gezielt kriminalisiert. Ein wenig Schadenfreude war dabei, als sich Meloni bei Tankstellenstreiks kürzlich erstmals mit Protest gegen ihre Politik konfrontiert sah und dem Bruch eines Wahlkampfversprechens aus früheren Tagen überführt. Roberto Calderoli wurde für seinen Vorschlag einer differenzierten Autonomie der Regionen von allen möglichen Seiten scharf unter Beschuss genommen.

Doch einen Satz hört man häufig, in Kommentaren zur Regierung Meloni: Man kann ihr wohl kaum zum Vorwurf machen, dass eine rechte Regierung die Politik einer rechten Regierung macht. Man kann also nicht einverstanden sein mit ihren Maßnahmen, sie falsch und schlecht für Italiens Entwicklung halten, dagegen protestieren, und allzu fragwürdige Regelungen versuchen zu verhindern. Dabei handelt es sich aber schlicht um die Essenz der politischen und demokratischen Auseinandersetzung. Hier wird um Politik gestritten – nicht um die Fundamente der rechtsstaatlichen Demokratie und auch nicht um Ideologie.

Das ist erst einmal eine gute Nachricht. Vielleicht haben jene Skeptiker:innen Recht, die sagen, dass Meloni sich nur handzahm gibt, solange sie weiß, andernfalls die ganze EU gegen sich zu haben. Sobald sich dort die (Mehrheits-) Verhältnisse änderten, wäre sie zu viel radikaleren Schritten bereit. Vernunft also nur aus politischem Überlebenswillen heraus. Aber aus Europa kommt zur Zeit kein rechts-autokratischer oder -populistischer Rückenwind. Tschechien hat gerade erst proeuropäisch (und anti-russisch) gewählt. Der Krieg in der Ukraine und die Energiekrise stärken den europäischen Zusammenhalt. Gleichzeitig schreckt das politische wie wirtschaftliche Desaster, das zur Zeit in Großbritannien zu beobachten ist, wohl selbst die größten EU-Kritiker:innen ab. Sollte das absehbar so bleiben, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sich Giorgia Meloni und ihre Regierung dauerhaft an die Strukturen und Logiken der EU anpassen, anstatt das ganze Gefüge mit ihren Freunden im Geiste radikal umzukrempeln.

Meloni ist besessen und beseelt davon, für ihre „große Nation“ Italien das Beste zu tun und das Land zu – vermeintlich alter – Stärke zurückzuführen. Dafür braucht sie stabilen Rückhalt in der Wählerschaft und im außen- wie wirtschaftspolitischen Kontext, das hat sie schnell verstanden und entsprechend schon im Wahlkampf Taktik und Rhetorik geändert. Sie weiß auch, dass sie nicht zu stark werden darf, weil das andernfalls heftige Reaktionen ihrer politischen Partner hervorrufen könnte. Dass sie nicht zu radikal sein darf, weil sie sonst die Straße gegen sich aufwiegelt. Vielleicht ist Melonis moderate Politik also nur Kalkül. Wenn das verzweigte Netz aus innen- wie außenpolitischen Gegengewichten sie jedoch weiter dazu zwingt, macht es am Ende kaum einen Unterschied. Hauptsache, Italiens Demokratie bleibt stabil.

Wer wird Italiens neuer Staatspräsident? (5)

Lauter weiße Zettel. In den ersten zwei Wahlgängen gab es keine ernsthaften Kandidaten, denn die Tauschgeschäfte sind noch nicht abgeschlossen.

Plakat: Cercasi candidato/candidata per la carica del presidente della repubblica italiana

Wenn es wenigstens ein Jahrmarkt der Eitelkeiten wäre, es hätte etwas unterhaltsames. Stattdessen wirkt die Situation rund um die Wahl des neuen Staatsoberhaupts in Italien eher wie ein Tauschmarkt, ein An- und Verkauf von Stimmen und Interessen. Noch dazu ein recht verzweifelter. Es werden geboten Eigenschaften der Kandidatin gegen Posten in der – möglichen – neuen Regierung, temporäre Allianzen gegen zukünftige Unterstützung bei Gesetzesvorhaben wie einer Wahlreform – gibst du mir das, geb ich dir das. Aber erst schau ich noch mal, was die anderen im Angebot haben.

„Di alto profilo“ sollen die Anwärter:innen auf das Amt sein, von hoher Qualität und Profilstärke, den höchsten Ansprüchen genügen. Denn schließlich soll er oder sie die Verfassung schützen und institutionelle Kontinuität gewährleisten. Neutral sein, eine Vertreterin der ganzen Nation, weise und am Wohl des Landes orientiert, gerade in Zeiten politischer Krisen.

Dafür, dass ein so hoher Anspruch besteht, werden die möglichen Kandidat:innen von denen, die sie wählen, geradezu verscherbelt. Ein bisschen mehr Einfluss hier, um besser in den nächsten Wahlkampf zu starten (das Innenministerium an Matteo Salvini). Ein bisschen mehr Nachsicht dort, sonst zerschlägt die Präsidentenwahl den Rest von Einigkeit, der in der Partei noch übrig ist (Conte, Fünf-Sterne). Irgendjemand, mit dem man mal einen richtigen Erfolg landen könnte – warum also nicht der, der schon einmal ein Erfolg war (Enrico Letta, PD, für Draghi oder Mattarella).

Die Wahl zum höchsten Amt im Staat – das zudem über die vergangenen Jahre immer wichtiger und einflussreicher geworden ist, in dem Maße, wie sich die parteipolitische Führung selbst im Weg stand – und die Parteien kandidieren NIEMANDEN in den ersten beiden Runden. Bloß keinen Fehler machen, bloß nicht zu früh aus der Deckung, wer weiß, wem das schadet. Wenn nur leere Zettel abgegeben werden, ist die Zahl der so genannten franchi tiratori, derjenigen, die aus dem Fraktionskonsens ausscheiden, erwartungsgemäß gering. Außerdem findet sich ja vielleicht noch ein Trumpf während der Verhandlungen und Gespräche im Hintergrund. Also lieber nichts riskieren.

Doch es hat etwas beschämendes, dass sich weder ein Lager noch eine Partei findet, jemanden zu kandidieren, auch wenn sie wissen, dass in den ersten drei Wahlgängen wohl keine Mehrheit zustande kommt. Es ist mutlos und taktisch, beides Eigenschaften, die sich nicht gut mit einem derart wichtigen Wahlvorgang (vgl. oben, Eigenschaften des Präsidenten der Republik) vereinbaren lassen. Ja, es ist möglich, dass eine Kandidatin aus den ersten Runden später nicht gewählt wird oder zurück zieht. Aber auch in diesem Wissen kann man oder frau erhobenen Hauptes eine Wahl antreten. Und dazu müssten die führenden Parteien ein paar Personen doch auch überzeugen können.

Doch diese sind ganz offenbar viel zu sehr damit beschäftigt, entweder aussichtsreiche Kandidat:innen und sich selbst nicht „zu verbrennen“ oder schlicht genug für sich rausholen zu können. Selbst wenn es am Ende doch noch Mario Draghi wird, weil sich Lega gegen Forza Italia doch noch dafür öffnet und Grillo mit Di Maio innerhalb der Fünf-Sterne, wie teuer wird diese Wahl erkauft sein, welche Zugeständnisse wird Draghi, werden die jeweiligen politischen Gegner gemacht haben müssen? Das spricht nicht gerade dafür, dass die nächste Regierung die wichtigen Reformen und die Umsetzung des nationalen Wiederaufbauplans an der Zukunft des Landes ausrichtet, sondern zu einem starken Anteil am Überleben der Parteien .

Wer wird Italiens neuer Staatspräsident? (4)

Alle Aufmerksamkeit liegt auf Berlusconi, dabei ist es unwahrscheinlich, dass er es wird.

Plakat: Cercasi candidato/candidata per la carica del presidente della repubblica italiana

Es fällt allen, die sich zur Zeit mit der Wahl zum Präsidenten oder der Präsidentin der Republik auseinandersetzen, natürlich schwer, nicht Silvio Berlusconi in den Blick zu nehmen. All die Gerichtsverfahren, die Verurteilung wegen Steuerhinterziehung, die Skandale um die Partys in seiner Villa, die per Parlamentsbeschluss geadelte Behauptung, die minderjährige „Escort“-Dame Ruby Rubacuore sei die Nichte des damaligen ägyptischen Präsidenten Mubarak… es gibt viel, worüber man mindestens den Kopf schütteln kann.

Dass er als Staatsoberhaupt den Vorsitz des Obersten Richterrates inne hätte, dass ein Portrait im Büro einer jeden Staatsanwältin und jedes Richters zu hängen hätte – ausgerechnet von Silvio Berlusconi, dessen politische Agenda jahrelang darin Bestand, Gesetze und Justizapparat zu seinen Gunsten zu gestalten. Dennoch: Dass Berlusconi tatsächlich Präsident wird, ist eher unwahrscheinlich, denn nicht einmal seine engen Verbündeten und die Koalitionäre des Mitte-Rechts-Lager sind wirklich von der Idee überzeugt.

Stunde der Wahrheit für Italiens Parteien

Dagegen ist das, was gerade im Hintergrund der Verhandlungen passiert, für das politische Schicksal Italiens viel wichtiger und schwerwiegender: Die Parteien und insbesondere ihre Spitzen sind nun, erstmalig seit Mario Draghi die Regierungsführung übernommen hat, aufgefordert, selbst eine tragfähige Lösung zu erarbeiten. Sie müssen unter Beweis stellen, dass sie eine lagerübergreifende Kandidatin oder einen Kandidaten finden können und gewährleisten, dass die eigenen Leute diese dann auch tatsächlich wählen.

In der letzten Regierungskrise, als Matteo Renzi der Conte II-Regierung das Vertrauen entzog, gelang es diesem nicht, eine neue parlamentarische Mehrheit zu bilden. Zuvor war es ihm und seinen Mitstreiter:innen in der Koalition nicht gelungen, ein Programm für die kommenden Jahre zu entwickeln, wie das viele Geld aus dem Recovery Fund der EU sinnvoll und nachhaltig auszugeben wäre. Planlosigkeit, Ideenlosigkeit, fehlendes Geschick, persönliche Interessen, mangelnde Fähigkeit zum Kompromiss und Konsens. Und das nicht etwa in einer Situation, in der der Gesellschaft Sozialkürzungen, Steuererhöhungen oder andere schwierige Reformen zuzumuten gewesen wären, sondern in der es Geld und Zukunftsaussichten zu verteilen gab.

Nicht zu Unrecht beklagt der ehemalige Verfassungsrichter Sabino Cassese in der Sendung Piazzapulita gestern, dass den italienischen Parteien die Fähigkeit zur Kohäsion fehle – und führte Deutschland als Gegenbeispiel an, wo unterschiedliche und gegenläufige Interessen durchaus in gemeinsamen Vorhaben und stabilen Koalitionen münden würden (Sendung vom 20.01.22). Zur Zeit steht vor allem fest, wer wen nicht wählen will: Cinque Stelle wehrt sich sowohl gegen Draghi als auch Berlusconi, der PD steuert auf eine zweite Amtszeit Mattarellas, wäre aber für Draghi offen, das Mitte-Rechts-Lager, in Erwartung einer klaren Aussage Berlusconis, ob er nun antritt oder nicht, bringen ein paar Namen ins Spiel, die jedoch wohl alle nichts bedeuten.

Viele Wahlgänge sind eher die Regel als die Ausnahme

Zur Erinnerung: Am Montag findet der erste Wahlgang statt. Nun ist es nicht so, dass üblicherweise das Staatsoberhaupt im ersten Wahlgang gewählt würde, im Gegenteil. Carlo D’Azeglio Ciampi und Francesco Cossiga genügte ein Urnengang, die meisten weiteren benötigten zumindest vier, fünf und schließlich gibt es die Fälle, in denen mehrere Tage und bis zu 23 Wahlgänge vonnöten waren, ehe ein Kandidat – bisher waren es stets Männer – die notwendigen Stimmen erhielt.

Schon werden Vergleiche angebracht zu den schwierigsten Wahlen, wie etwa jener 1992 von Oscar Luigi Scalfaro, zu dessen Wahl es 16 Wahlgänge und zwölf Tage benötigte. Damals steckte Italien allerdings in der größten Parteienkrise seit Beginn der Republik, das lässt sich kaum mit der Pandemielage von heute vergleichen. Allerdings sind die institutionellen Verflechtungen ein Problem: Je nachdem, wie die Wahl ausfällt, muss der Regierungschef ausgewechselt werden und je nachdem, ob hier eine mehrheitliche, d.h. quasi zwingend parteiübergreifende Lösung gefunden werden kann, stehen Neuwahlen an oder nicht. Das erhöht die Zahl der jeweiligen Interessen im Spiel, das erschwert die Entscheidungsfindung, weil mit zu vielen Variablen gleichzeitig gerechnet werden muss.

Gleichwohl kann der Schaden enorm sein, je nachdem, wessen Kandidat:innen in den einzelnen Wahlgängen durchfallen – für die betreffenden Personen selbst, aber auch für diejenigen, die sie aufgestellt haben. Gelingt es den Führungsspitzen der Parteien nicht oder nur schwer und auf den letzten Drücker, eine Einigung herbeizuführen, steht es um die zukünftige Regierungsfähigkeit Italiens eher schlecht. Natürlich könnte dennoch ein Regierung Draghi (oder eine ähnlich unpolitisch-technokratische Person) die Geschäfte bis ins Frühjahr 2023 fortführen, sodass kurzfristig nicht die große Krise droht. Doch wenn es heute keine Kompromissfähigkeit, Führungsstärke und Einigkeit – insbesondere innerhalb der Parteien – gibt, warum sollte dies Anfang nächsten Jahres anders sein?

Die nächste Woche wird entscheidend für die mittelfristige Zukunft des „Land des Jahres“.

Wer wird Italiens neuer Staatspräsident? (3)

Gerade geht nichts mehr. Die Kandidatensuche für Italiens Präsidenten erreicht – vorerst – einen toten Punkt

Plakat: Cercasi candidato/candidata per la carica del presidente della repubblica italiana

Das Mitte-Rechts-Lager hat Silvio Berlusconi ausgewählt, der nun eifrig Stimmen aus dem anderen Lager zu finden sucht. Doch glücklich ist mit dieser Kandidatur eigentlich niemand. Berlusconi ist wohl der am wenigsten wählbare Kandidat für weite Teile der Wahlversammlung. Sollte er scheitern, scheitern allerdings auch Matteo Salvini und Giorgia Meloni und disqualifizeren sich damit als zukünftiges politisches Führungspersonal, das spätestens mit den nächsten Wahlen im Frühjahr 2023 gebraucht wird.

Wenn Berlusconi aber gewählt würde, stünde Italien – mal wieder – in einem sehr schlechten Licht, ein failed state unter moralisch-kulturellen und politischen Gesichtspunkten. Gerade aktuell laufen wieder Prozesse wegen Falschaussagen derjenigen, die rings um Berlusconis Bunga-Bunga-Partys die jungen Frauen organisiert haben. Lange her, so scheint es, doch plötzlich wieder sehr präsent.

Der also nicht, lui no, aber wer dann? Im Augenblick kann sich niemand richtig aus der Deckung wagen, jeder neue Name wäre potenziell sofort verbrannt. Also halten sich alle bedeckt, das einzige, was zu sehen ist, ist Matteo Salvini, der sich vorsichtig aus der möglicherweise tödlichen Umarmung mit Berlusconi zu befreien versucht.

Mario Draghi derweil ist zum Nichtstun verurteilt. Als jemand, der selbst gern den Posten einnehmen möchte, kann er die eigentlich einflussreiche Karte des amtierenden Ministerpräsiden nicht ausspielen, sondern muss darauf setzen, dass sich die Chef:innen der großen Parteien ins Benehmen setzen.

Vor Mitte bis Ende dieser Woche sind also eher keine neuen Wendungen zu erwarten und selbst das könnte noch zu früh sein. So werden die Italiener:innen vorerst wieder damit leben müssen, dass die ganze Welt den Kopf über sie schüttelt.

Wer wird Italiens neuer Staatspräsident? (1)

Ende Januar wählt Italien ein neues Staatsoberhaupt.

Derzeit gibt es fast täglich neue Verlautbarungen, vielsagendes Schweigen und taktische Bewegungen. In loser Folge erscheinen hier in den kommenden Tagen kurze Meldungen zum (Nicht-) Stand der Dinge.
Plakat: Cercasi candidato/candidata per la carica del presidente della repubblica italiana

Neuerdings scheint jeder, der Interesse am höchsten Amt der Republik hat, einfach eine Pressekonferenz geben zu können, die eigentlich einem anderen Thema gewidmet ist, dann aber zwischen den Zeilen durchblicken zu lassen, Präsident werden zu wollen.

So hat es der amtierende Ministerratspräsident Mario Draghi vor Weihnachten gemacht, und vor wenigen Tagen Silvio Berlusconi. Man sollte eigentlich meinen, dieses Amt wäre würde- und bedeutungsvoll genug, um Kandidaten erstens von Dritten benennen zu lassen und zweitens mit einer sicheren Wählerschaft in der Parlamentsversammlung im Hintergrund. Auf ein solches Vorgehen drängen Vertreter:innen des linken Lagers zunehmend verzweifelt, derweil werden Mitte-Rechts schon mal ein paar Pflöcke eingehauen.

LUI NO – bloß nicht Berlusconi

Silvio Berlusconi will also Präsident der Republik werden. Dazu versammelt er heute (14. Januar 2021) die Spitzen von Forza Italia, Lega und Fratelli d’Italia in seiner Villa in Rom. Silvio Berlusconi. Im Ernst? Im Ernst. Schon vor Wochen brachte er sich ins Spiel, einige wollten es ihm ausreden, andere gaben sich angetan, aber unverbindlich. Zuletzt wurde das Vorhaben zunehmend konkreter, vor allem nachdem sich insbesondere die Lega äußerst zurückhaltend bezüglich einer Wahl Mario Draghis gezeigt hatte.

Das wiederum sorgte quasi für Panikattacken auf der linken Seite des politischen Spektrums. L’Espresso, das linksliberale Politmagazin, titelte vergangene Woche: LUI NO – nicht er, oder vielmehr: DER nicht. Enrico Letta, Vorsitzender des Partito democratico, unterstrich neben vielen anderen, der oder die neue Präsidentin müsse einen, nicht spalten, und alle Italienerinnen und Italiener vertreten. Das ist wohl das letzte, was man von Silvio Berlusconi behaupten kann. Niemand hat mehr polarisiert in den vergangenen Jahrzehnten, und niemand hat wohl größeren Anteil am Niedergang der politischen Kultur, dem Umgreifen des Populismus und der Banalisierung der politsichen Debatte. Denn Berlusconi war ja nicht nur Partei- und mehrmaliger Regierungschef, sondern war und ist Medienmogul, ökonomisches Schwergewicht und vor allem: Ein begnateter Vertreter seiner eigenen Interessen.

Und wie will er dieses Mal die Abgeordneten der Parlamentsversammlung hinter sich kriegen? Ganz einfach, indem er sein Interesse – die Krönung seiner Karriere durch das höchste Amt – mit dem Interesse der Wählenden – keine vorzeitigen Neuwahlen – verknüpft. Also sagt er: Wenn Draghi nicht mehr Ministerpräsident ist, dass scheidet Forza Italia aus der Regierung aus. Heißt nichts anderes als: Wenn ihr Draghi wählt – und nicht mich – dann gibt es vorzeitige Neuwahlen und ein Großteil von euch ist seinen Platz im Parlament und einen Teil der Pensionsansprüche los. Wollt ihr das? Nein? Dann wählt mich.

Und da kann dann ein Enrico Letta noch so ungläubig kundtun, dass es sehr schädlich wäre, hätte Berlusconi dies wirklich so gesagt (in einem Interview in der Sendung Metropolis) – der Ball ist im Feld und die anderen werden ihn spielen.

Mattarella zum Zweiten?

Und was macht Mario Draghi? Verbietet den Journalist:innen bei der ersten Pressekonferenz des Jahres, überhaupt Fragen nach seiner politischen Zukunft zu stellen. Seine Selbstkandidatur war scheinbar nur mäßig erfolgreich und wird zusehends geschwächt durch die pandemische Lage, die dringend eine funktionierende und stabile Regierung braucht, also am besten Draghi selbst am Ruder im Palazzo Chigi.

Weil aber bislang sonst noch niemand mehrheitsfähiges im Gespräch ist – oder sich auch nur andeutet, wer abseits der Berlusconi-Variante diese Mehrheit organisieren könnte – kommt nun doch noch die Option eines Mattarella-bis auf den Tisch. Der amtierende Präsident der Republik, Sergio Mattarella, hatte vehement zu verstehen gegeben, dass er dazu nicht zur Verfügung steht. Aber wenn sie ihn nun doch wählen sollten? Um die Regierung zu sichern? Um Berlusconi zu verhindern? Um die eigene Unfähigkeit zum Kompromiss und zu vernünftigen Entscheidungen zu verschleiern?

Es bleibt spannend. Erster Wahlgang: 24. Januar.

Das Rennen um den Quirinalspalast

Mario Draghi hat Ambitionen aufs Amt des Staatspräsidenten. Doch die Parteien sind zurückhaltend, die Risiken groß.

Militärgarde vor dem Quirinalspalast in Rom, Sitz des italienischen Staatspräsidenten.
Noch hat Sergio Mattarella hier seinen Amtsitz. Ab Februar 2022 wird die Militärgarde jedoch einen anderen Präsidenten bewachen.

Am 24. Januar wird in Italien das Amt des Staatspräsidenten neu gewählt. Amtsinhaber Sergio Mattarella hat keine Absicht, mit der Tradition nur einer Amtszeit zu brechen, auch wenn dies einige gern gesehen hätten, nicht zuletzt die Bürgerinnen und Bürger (die ihn kürzlich u.a. in der Mailander Scala mit dem Ruf „Bis! Bis!“ zu einer zweiten Amtszeit überreden wollten). Mit dem Ausscheiden Mattarellas fehlt ein entscheidender Pfeiler in dem empfindlichen institutionellen Gleichgewicht Italiens. Mattarella hatte entscheidenden Anteil daran, dass mit Mario Draghi ein Mann zum Ministerratspräsidenten gewählt wurde, der in einer ökonomisch gleichzeitig fragilen wie vielversprechenden Situation endlich ausreichend Autorität und Entschlusskraft mitbrachte, um aus politischer Zerstrittenheit und Orientierungslosigkeit wieder politische Führung zu machen.

Eben dieser Mario Draghi hatte wenige Tage vor Heiligabend in recht ausgelassen-weihnachtlicher Stimmung seine eigenen Ambitionen auf das höchste Amt im Staat kaum verholen durchblicken lassen. Der Mann, der Italien zum „Land des Jahres“ gemacht hat (The Economist), zog zur letzten Pressekonferenz in 2021 bereits eine Art Abschlussbilanz, und die Erfolge lassen sich sehen: Die Pandemie war bis Weihnachten erfolgreich in Schach gehalten, die Impfkampagne eine der erfolgreichsten weltweit, zudem wurde der nationalen Wiederaufbauplan rechtzeitig bei der EU eingereicht und die ersten Tranchen aus dem Recovery Fund bereits erhalten. Draghi suggerierte, seine Aufgabe sei erledigt und ein anderer könne übernehmen.

Doch obwohl Draghi schon zu den ersten zählte, die im fröhlichen Kandidatenraten für den Quirinalspalast genannt wurden, fiel die Reaktionen der Parteien, deren parlamentarische Vertreter den Präsidenten wählen müssen, eher verhalten aus. Ein Wechsel in das höchste Staatsamt würde einige Risiken bergen. Zuallererst die Frage, wer in in Palazzo Chigi ablösen sollte: Die heterogene Regierungsmehrheit zusammenzuhalten, die von Salvinis Lega bis über Contes 5-Sternen zum Partito democratico reicht, braucht nicht nur Geschick und starke Nerven, sondern wohl auch eine solch überbordende Autorität, wie sie Draghi von Anfang an mitbrachte. Vielleicht ein Grund für ihn, den Amtswechsel anzustreben: Er würde Italien weiterhin, zumindest teilweise, auf dem internationalen Parkett vertreten und könnte an zentralen Punkten Einfluss nehmen, ohne jedoch jeden Tag – machen wir es anschaulich – mit einem aufmüpfigen, weil um seine Zustimmungswerte bangenden Matteo Salvini/Giuseppe Conte/Matteo Renzi/… rangeln zu müssen. Doch während Mario Draghi vielleicht gut und gerne auf die Auseinandersetzung mit den Parteichefs verzichten kann, umgekehrt können diese auf den „Heilsbringer“ Draghi noch nicht verzichten.

Ungeklärte Machtverhältnisse

Keine Partei außer Fratelli d’Italia mit Parteichefin Giorgia Meloni scheinen sich aktuell ihrer Rolle und ihres Programms (und ihrer Wählerschaft) sicher zu sein. Alle anderen Parteien sind weiterhin im Selbstfindungs- oder, im Falle der Fünf-Sterne, Selbstzerstörungsprozess gefangen, was zahlreiche Ungewissheiten bezüglich neuer Koalitionen, Vergabe von Posten und programmatischen Standpunkten mit sich bringt. Das Mitte-Rechts-Lager generiert aus guten Umfragewerten bereits einen gewissen Gestaltungsanspruch, ist jedoch intern alles andere als konsolidiert -nicht zuletzt, weil es teils in der Opposition (FdI) und teils in der Regierung steht (Lega, Forza Italia) – und im Falle von Matteo Salvini irgendwo dazwischen.

Überhaupt ist fraglich, ob die zehn Monate der Regierung Draghi etwas substanziell an der fehlenden politischen Stabilität verändert haben, die vor seinem Amtsantritt zur weitgehenden politischen Handlungsunfähigkeit Italiens führte. Vielleicht wirkt es gerade deshalb attraktiv, mit Mario Draghi in ein halbpräsidiales System überzuschwenken, wie es derzeite immer wieder suggeriert wird: Ein Regierungssystem, in dem der Staatspräsident stark die Regierungsbildung beeinflusst und weit über den eigentlich notariellen bis garantistischen Zuschnitt seines Amtes die politischen Geschäfte überwacht und beeinflusst. So ein semipräsidiales System – ein bisschen nach Vorbild Frankreichs, ein bisschen angepasst auf die starke parlamentarische Tradition Italiens – ist seit Jahrzehnten der Traum insbesondere der politischen Rechten. Entsprechende Entwürfe zur Verfassungsreform nahmen jedoch nie konkrete Gestalt an, gleichwohl geistert die Idee weiter umher und wird in regelmäßigen Abständen hervorgeholt.

Mario Draghi selbst scheint ähnliches vorzuschweben, wenn er die Wahl zum Staatspräsdenten (die ihn zu eben diesem machen soll) in der vorweihnachtlichen Pressekonferenz direkt mit dem Bestand der Regierung der nationalen Einheit verbindet. Recht unmissverständlich ließ er durchblicken, dass eine Präsidentenwahl mit anderen Mehrheiten – und einem anderen erfolgreichen Kandidaten – als mit der derzeitigen Regierungsmehrheit zugleich das Ende der jetzigen Regierungskonstellation bedeuten würde. Was ihm vorschwebt, ist die Übergabe des Ministerratspräsidentenamts an eine/n der derzeitigen Minister/innen, die in seinem Sinne, mit der selben Mehrheit und im Grunde dem selben Programm fortführt, was Draghi vom Quirinalspalast aus zu kontrollieren und führen gedenkt. Damit würde der „Großvater der Institutionen“, wie er sich bezeichnete, nicht nur den Garanten der Verfassung, sondern auch der nationalen Einheitsregierung geben, die Pandemiebekämpfung und Wiederaufbau bis zum regulären Ende der Legislatur im Februar 2023 fortführt.

Doch was, wenn es schief geht? Silvio Berlusconi spekuliert ganz offen auf seine persönlichen Chancen ab dem vierten Wahlgang, wenn keine qualifizierte Mehrheit mehr notwendig ist. Wie viele Kandidaten – Mario Draghi inklusive- wären bis dahin verbrannt? Staatspräsidentenwahlen können in Italien durchaus politische Dramen und für manchen leader das Ende bedeuten (wie 2013 für Luigi Bersani, PD). Es ist eine geheime Abstimmung, und bei geheimen Abstimmungen ist die Furcht vor den so genannten franchi tiratori gemeinhin groß. Wer geht von der Stange, wer hält sich nicht an getroffene Absprachen? Im Herbst 2021 führte die Abstimmung über das Zan-Gesetz, das die Diskriminierung der LGBTQ-Comunity unterbinden sollte, allen in Italien vor Augen, wie mit Nebenabsprachen und geheimer Abstimmung (Regierungs-)Koalitionen durchbrochen und neue Allianzen geschmiedet werden können. Das Vorhaben scheiterte krachend durch eine geschickte Taktik des Mitte-Rechts-Lagers, das allerdings auch – vermutlich – Renzis Italia viva und Teile des PD und anderer auf seine Seite brachte. Und dabei ging es in letzter Konsequenz gar nicht um die Rechte von Homosexuellen und Queer-Personen, sondern um eine Probe für die Präsidentenwahl.

Unerwünschte Neuwahlen

Scheitert also Mario Draghis Kandidatur – oder auch die Wahl eines anderen Kandidaten oder eine Kandidatin, die offiziell von der derzeitigen Regierungsmehrheit getragen wird, dann endet wohl das Kapitel Draghi. Dies löst wiederum die Sorge vor Neuwahlen aus, weil ein Wahlkampf mitten in der wieder stark anziehenden Pandemie, wie zuletzt in Deutschland leider zu sehen war, für die Bekämpfung derselben eher schädlich ist. Zum anderen wegen der unklaren Machtverhältnisse und geringen Vorbereitung der Parteien auf Wahlkampf und Übernahme von Regierungsverantwortung. Zuletzt, weil eine Diskontinuität der Regierung auch eine Diskontinuität in der Umsetzung der Reformen mit sich bringen würde, eine andere politische Ausrichtung, vielleicht aber auch eine verschluderte Umsetzung, weil manche Dinge dem Interesse der eigenen Wählerklientel doch nicht so gut schmecken. Oder einfach, weil wie so oft Umfragewerte und Postengeschacher wichtiger sind als die Erstellung von Gesetzestexten, die auch in der Realität funktionieren – gern auch langfristig. Ein Manko, dass in Italien mit seinen zigtausend Gesetzen oft übersehen wird, aber für die Umsetzung all der groß gedachten Reformen leider entscheidend.

Für viele amtierende Parlamentarierinnen und Parlamentarier sind Neuwahlen aber aus einem ganz anderen Grund derzeit unerwünscht: Noch die damalige Regierung Conte I aus Fünf-Sternen und Lega hatte eine Verfasssungsreform zur Reduktion der Parlamentssitze eingebracht, die mit dem Volksentscheid im September 2020 in Kraft trat. Zur nächsten Wahl reduziert sich die Anzahl der „Sessel“ (poltroni) damit gewaltig, und gerade bei Parteien mit derzeit mäßigen Umfragewerten – zu denen ironischerweise insbesondere die Fünf-Sterne zählen, die diese Reform unbedingt wollten- wird ein Großteil der Abgeordneten und Senatorinnen nicht wiedereinziehen. Vorgezogene Neuwahlen bedeuten eine verkürzte Legislatur und für sie geringere Bezugsdauer von Abgeordnetendiäten und geringe Pensionsansprüche. Das kann doch niemand ernsthaft wollen…

Unerledigte Aufgaben, ungewisse Zukunft

Unabhängig von Eigeninteressen und taktischen Zügen, sich selbst oder die eigene Partei bzw. Koalition durch die Präsidentenwahl in die politische pole position zu schieben, stehen Italiens Parlamentarier:innen vor einem Dilemma: Vielleicht wäre Mario Draghi der richtige Mann für den Quirinalspalast und ganz sicher wäre es ein Affront, ihn nicht zu wählen. Auf der anderen Seite ist eine Selbstkandidatur für das höchste Amt im Staat auch nicht gerade würdig für einen „nonno delle istituzioni“ und Draghi ist er in jedem Fall der richtige Mann, derzeit, für das Amt des Ministerratspräsidenten. Denn die Aufgaben sind mitnichten erledigt: In den wenigen Wochen über Weihnachten hat sich die pandemische Lage radikal geändert: Omikron lässt die Zahlen ungebremst nach oben schießen, schärfere Maßnahmen wie eine allgemeine Impfplicht für über 50-jährige wurden soeben beschlossen. Und vor allem der PNRR, der nationale Plan für Wiederaufbau und Resilienz, bleibt weiterhin ein enormes Unterfangen. Er ist eingereicht und bewilligt, das ja. Aber in der Umsetzung hakt es schon jetzt, in erster Linie bei der Einstellung all der Personen, die auf nationaler wie regionaler bis lokaler Ebene die Maßnahmen begleiten und die Finanzmittel verwalten sollen. Italiens Verwaltung kann, insbesondere in den besonders vom PNRR geförderten südlichen Regionen, mit dem bestehenden Personal die Mittelverwendung nicht realisieren (La questione meridionale, La Repubblica). Ohne Mittelverwendung keine Modernisierung. Ohne Modernisierung kein Wiederaufbau und keine Stärkung des Landes gegen neue Krisen.

Auch die begleitenden notwendigen Reformen in Justiz, Verwaltung und Finanzen stehen noch aus. Vieles ist angeschoben worden, wie etwa die Delegierungsgesetze, die der Regierung den Auftrag zur Reformierung der Straf- und Zivilprozessordnung gegeben haben. Diese gilt es nun mit einzelnen Maßnahmenpaketen auszuarbeiten, hier sind bislang nur große Linien entschieden worden. Der italienische Haushalt sieht Steuererleichterungen in nennenswertem Umfang vor – eine Steuerreform ist das noch nicht. Und die Verabschiedung dieser Gesetze zeigt, dass auch ein Mario Draghi hier alle Register ziehen musste, um Mehrheiten für die Vorhaben zu sichern. Das Haushaltsgesetz kurz vor knapp vor der Weihnachtspause wurde ebenso mit Vertrauensfrage belegt wie die Strafprozessordnungsreform.

Für die schwierigen Gewässer der italienischen Reformpolitik in Krisenzeiten hat sich Mario Draghi bislang als ein sehr guter Kapitän erwiesen (wenngleich eindeutig wirtschaftsliberal). Und solange die Parteien in Italien weiterhin nicht mehr sind als schwankende Abbilder von Umfragewerten und persönlichen Interessen, droht sein Abgang das Land erneut in politische Handlungsunfähigkeit zu führen. Das sollten die Mitglieder der parlamentarischen Versammlung am 24. Januar unbedingt bedenken.