Das Rennen um den Quirinalspalast

Mario Draghi hat Ambitionen aufs Amt des Staatspräsidenten. Doch die Parteien sind zurückhaltend, die Risiken groß.

Militärgarde vor dem Quirinalspalast in Rom, Sitz des italienischen Staatspräsidenten.
Noch hat Sergio Mattarella hier seinen Amtsitz. Ab Februar 2022 wird die Militärgarde jedoch einen anderen Präsidenten bewachen.

Am 24. Januar wird in Italien das Amt des Staatspräsidenten neu gewählt. Amtsinhaber Sergio Mattarella hat keine Absicht, mit der Tradition nur einer Amtszeit zu brechen, auch wenn dies einige gern gesehen hätten, nicht zuletzt die Bürgerinnen und Bürger (die ihn kürzlich u.a. in der Mailander Scala mit dem Ruf „Bis! Bis!“ zu einer zweiten Amtszeit überreden wollten). Mit dem Ausscheiden Mattarellas fehlt ein entscheidender Pfeiler in dem empfindlichen institutionellen Gleichgewicht Italiens. Mattarella hatte entscheidenden Anteil daran, dass mit Mario Draghi ein Mann zum Ministerratspräsidenten gewählt wurde, der in einer ökonomisch gleichzeitig fragilen wie vielversprechenden Situation endlich ausreichend Autorität und Entschlusskraft mitbrachte, um aus politischer Zerstrittenheit und Orientierungslosigkeit wieder politische Führung zu machen.

Eben dieser Mario Draghi hatte wenige Tage vor Heiligabend in recht ausgelassen-weihnachtlicher Stimmung seine eigenen Ambitionen auf das höchste Amt im Staat kaum verholen durchblicken lassen. Der Mann, der Italien zum „Land des Jahres“ gemacht hat (The Economist), zog zur letzten Pressekonferenz in 2021 bereits eine Art Abschlussbilanz, und die Erfolge lassen sich sehen: Die Pandemie war bis Weihnachten erfolgreich in Schach gehalten, die Impfkampagne eine der erfolgreichsten weltweit, zudem wurde der nationalen Wiederaufbauplan rechtzeitig bei der EU eingereicht und die ersten Tranchen aus dem Recovery Fund bereits erhalten. Draghi suggerierte, seine Aufgabe sei erledigt und ein anderer könne übernehmen.

Doch obwohl Draghi schon zu den ersten zählte, die im fröhlichen Kandidatenraten für den Quirinalspalast genannt wurden, fiel die Reaktionen der Parteien, deren parlamentarische Vertreter den Präsidenten wählen müssen, eher verhalten aus. Ein Wechsel in das höchste Staatsamt würde einige Risiken bergen. Zuallererst die Frage, wer in in Palazzo Chigi ablösen sollte: Die heterogene Regierungsmehrheit zusammenzuhalten, die von Salvinis Lega bis über Contes 5-Sternen zum Partito democratico reicht, braucht nicht nur Geschick und starke Nerven, sondern wohl auch eine solch überbordende Autorität, wie sie Draghi von Anfang an mitbrachte. Vielleicht ein Grund für ihn, den Amtswechsel anzustreben: Er würde Italien weiterhin, zumindest teilweise, auf dem internationalen Parkett vertreten und könnte an zentralen Punkten Einfluss nehmen, ohne jedoch jeden Tag – machen wir es anschaulich – mit einem aufmüpfigen, weil um seine Zustimmungswerte bangenden Matteo Salvini/Giuseppe Conte/Matteo Renzi/… rangeln zu müssen. Doch während Mario Draghi vielleicht gut und gerne auf die Auseinandersetzung mit den Parteichefs verzichten kann, umgekehrt können diese auf den „Heilsbringer“ Draghi noch nicht verzichten.

Ungeklärte Machtverhältnisse

Keine Partei außer Fratelli d’Italia mit Parteichefin Giorgia Meloni scheinen sich aktuell ihrer Rolle und ihres Programms (und ihrer Wählerschaft) sicher zu sein. Alle anderen Parteien sind weiterhin im Selbstfindungs- oder, im Falle der Fünf-Sterne, Selbstzerstörungsprozess gefangen, was zahlreiche Ungewissheiten bezüglich neuer Koalitionen, Vergabe von Posten und programmatischen Standpunkten mit sich bringt. Das Mitte-Rechts-Lager generiert aus guten Umfragewerten bereits einen gewissen Gestaltungsanspruch, ist jedoch intern alles andere als konsolidiert -nicht zuletzt, weil es teils in der Opposition (FdI) und teils in der Regierung steht (Lega, Forza Italia) – und im Falle von Matteo Salvini irgendwo dazwischen.

Überhaupt ist fraglich, ob die zehn Monate der Regierung Draghi etwas substanziell an der fehlenden politischen Stabilität verändert haben, die vor seinem Amtsantritt zur weitgehenden politischen Handlungsunfähigkeit Italiens führte. Vielleicht wirkt es gerade deshalb attraktiv, mit Mario Draghi in ein halbpräsidiales System überzuschwenken, wie es derzeite immer wieder suggeriert wird: Ein Regierungssystem, in dem der Staatspräsident stark die Regierungsbildung beeinflusst und weit über den eigentlich notariellen bis garantistischen Zuschnitt seines Amtes die politischen Geschäfte überwacht und beeinflusst. So ein semipräsidiales System – ein bisschen nach Vorbild Frankreichs, ein bisschen angepasst auf die starke parlamentarische Tradition Italiens – ist seit Jahrzehnten der Traum insbesondere der politischen Rechten. Entsprechende Entwürfe zur Verfassungsreform nahmen jedoch nie konkrete Gestalt an, gleichwohl geistert die Idee weiter umher und wird in regelmäßigen Abständen hervorgeholt.

Mario Draghi selbst scheint ähnliches vorzuschweben, wenn er die Wahl zum Staatspräsdenten (die ihn zu eben diesem machen soll) in der vorweihnachtlichen Pressekonferenz direkt mit dem Bestand der Regierung der nationalen Einheit verbindet. Recht unmissverständlich ließ er durchblicken, dass eine Präsidentenwahl mit anderen Mehrheiten – und einem anderen erfolgreichen Kandidaten – als mit der derzeitigen Regierungsmehrheit zugleich das Ende der jetzigen Regierungskonstellation bedeuten würde. Was ihm vorschwebt, ist die Übergabe des Ministerratspräsidentenamts an eine/n der derzeitigen Minister/innen, die in seinem Sinne, mit der selben Mehrheit und im Grunde dem selben Programm fortführt, was Draghi vom Quirinalspalast aus zu kontrollieren und führen gedenkt. Damit würde der „Großvater der Institutionen“, wie er sich bezeichnete, nicht nur den Garanten der Verfassung, sondern auch der nationalen Einheitsregierung geben, die Pandemiebekämpfung und Wiederaufbau bis zum regulären Ende der Legislatur im Februar 2023 fortführt.

Doch was, wenn es schief geht? Silvio Berlusconi spekuliert ganz offen auf seine persönlichen Chancen ab dem vierten Wahlgang, wenn keine qualifizierte Mehrheit mehr notwendig ist. Wie viele Kandidaten – Mario Draghi inklusive- wären bis dahin verbrannt? Staatspräsidentenwahlen können in Italien durchaus politische Dramen und für manchen leader das Ende bedeuten (wie 2013 für Luigi Bersani, PD). Es ist eine geheime Abstimmung, und bei geheimen Abstimmungen ist die Furcht vor den so genannten franchi tiratori gemeinhin groß. Wer geht von der Stange, wer hält sich nicht an getroffene Absprachen? Im Herbst 2021 führte die Abstimmung über das Zan-Gesetz, das die Diskriminierung der LGBTQ-Comunity unterbinden sollte, allen in Italien vor Augen, wie mit Nebenabsprachen und geheimer Abstimmung (Regierungs-)Koalitionen durchbrochen und neue Allianzen geschmiedet werden können. Das Vorhaben scheiterte krachend durch eine geschickte Taktik des Mitte-Rechts-Lagers, das allerdings auch – vermutlich – Renzis Italia viva und Teile des PD und anderer auf seine Seite brachte. Und dabei ging es in letzter Konsequenz gar nicht um die Rechte von Homosexuellen und Queer-Personen, sondern um eine Probe für die Präsidentenwahl.

Unerwünschte Neuwahlen

Scheitert also Mario Draghis Kandidatur – oder auch die Wahl eines anderen Kandidaten oder eine Kandidatin, die offiziell von der derzeitigen Regierungsmehrheit getragen wird, dann endet wohl das Kapitel Draghi. Dies löst wiederum die Sorge vor Neuwahlen aus, weil ein Wahlkampf mitten in der wieder stark anziehenden Pandemie, wie zuletzt in Deutschland leider zu sehen war, für die Bekämpfung derselben eher schädlich ist. Zum anderen wegen der unklaren Machtverhältnisse und geringen Vorbereitung der Parteien auf Wahlkampf und Übernahme von Regierungsverantwortung. Zuletzt, weil eine Diskontinuität der Regierung auch eine Diskontinuität in der Umsetzung der Reformen mit sich bringen würde, eine andere politische Ausrichtung, vielleicht aber auch eine verschluderte Umsetzung, weil manche Dinge dem Interesse der eigenen Wählerklientel doch nicht so gut schmecken. Oder einfach, weil wie so oft Umfragewerte und Postengeschacher wichtiger sind als die Erstellung von Gesetzestexten, die auch in der Realität funktionieren – gern auch langfristig. Ein Manko, dass in Italien mit seinen zigtausend Gesetzen oft übersehen wird, aber für die Umsetzung all der groß gedachten Reformen leider entscheidend.

Für viele amtierende Parlamentarierinnen und Parlamentarier sind Neuwahlen aber aus einem ganz anderen Grund derzeit unerwünscht: Noch die damalige Regierung Conte I aus Fünf-Sternen und Lega hatte eine Verfasssungsreform zur Reduktion der Parlamentssitze eingebracht, die mit dem Volksentscheid im September 2020 in Kraft trat. Zur nächsten Wahl reduziert sich die Anzahl der „Sessel“ (poltroni) damit gewaltig, und gerade bei Parteien mit derzeit mäßigen Umfragewerten – zu denen ironischerweise insbesondere die Fünf-Sterne zählen, die diese Reform unbedingt wollten- wird ein Großteil der Abgeordneten und Senatorinnen nicht wiedereinziehen. Vorgezogene Neuwahlen bedeuten eine verkürzte Legislatur und für sie geringere Bezugsdauer von Abgeordnetendiäten und geringe Pensionsansprüche. Das kann doch niemand ernsthaft wollen…

Unerledigte Aufgaben, ungewisse Zukunft

Unabhängig von Eigeninteressen und taktischen Zügen, sich selbst oder die eigene Partei bzw. Koalition durch die Präsidentenwahl in die politische pole position zu schieben, stehen Italiens Parlamentarier:innen vor einem Dilemma: Vielleicht wäre Mario Draghi der richtige Mann für den Quirinalspalast und ganz sicher wäre es ein Affront, ihn nicht zu wählen. Auf der anderen Seite ist eine Selbstkandidatur für das höchste Amt im Staat auch nicht gerade würdig für einen „nonno delle istituzioni“ und Draghi ist er in jedem Fall der richtige Mann, derzeit, für das Amt des Ministerratspräsidenten. Denn die Aufgaben sind mitnichten erledigt: In den wenigen Wochen über Weihnachten hat sich die pandemische Lage radikal geändert: Omikron lässt die Zahlen ungebremst nach oben schießen, schärfere Maßnahmen wie eine allgemeine Impfplicht für über 50-jährige wurden soeben beschlossen. Und vor allem der PNRR, der nationale Plan für Wiederaufbau und Resilienz, bleibt weiterhin ein enormes Unterfangen. Er ist eingereicht und bewilligt, das ja. Aber in der Umsetzung hakt es schon jetzt, in erster Linie bei der Einstellung all der Personen, die auf nationaler wie regionaler bis lokaler Ebene die Maßnahmen begleiten und die Finanzmittel verwalten sollen. Italiens Verwaltung kann, insbesondere in den besonders vom PNRR geförderten südlichen Regionen, mit dem bestehenden Personal die Mittelverwendung nicht realisieren (La questione meridionale, La Repubblica). Ohne Mittelverwendung keine Modernisierung. Ohne Modernisierung kein Wiederaufbau und keine Stärkung des Landes gegen neue Krisen.

Auch die begleitenden notwendigen Reformen in Justiz, Verwaltung und Finanzen stehen noch aus. Vieles ist angeschoben worden, wie etwa die Delegierungsgesetze, die der Regierung den Auftrag zur Reformierung der Straf- und Zivilprozessordnung gegeben haben. Diese gilt es nun mit einzelnen Maßnahmenpaketen auszuarbeiten, hier sind bislang nur große Linien entschieden worden. Der italienische Haushalt sieht Steuererleichterungen in nennenswertem Umfang vor – eine Steuerreform ist das noch nicht. Und die Verabschiedung dieser Gesetze zeigt, dass auch ein Mario Draghi hier alle Register ziehen musste, um Mehrheiten für die Vorhaben zu sichern. Das Haushaltsgesetz kurz vor knapp vor der Weihnachtspause wurde ebenso mit Vertrauensfrage belegt wie die Strafprozessordnungsreform.

Für die schwierigen Gewässer der italienischen Reformpolitik in Krisenzeiten hat sich Mario Draghi bislang als ein sehr guter Kapitän erwiesen (wenngleich eindeutig wirtschaftsliberal). Und solange die Parteien in Italien weiterhin nicht mehr sind als schwankende Abbilder von Umfragewerten und persönlichen Interessen, droht sein Abgang das Land erneut in politische Handlungsunfähigkeit zu führen. Das sollten die Mitglieder der parlamentarischen Versammlung am 24. Januar unbedingt bedenken.