Die Richter*innen des deutschen Bundesverfassungsgerichts stellen die Praxis des Staatsanleihenkaufs der EZB in Frage, die für Italien überlebenswichtig ist.
Ein „problematisches“, ja gar „tödliches“ Urteil, , heißt es in den italienischen Medien, die hoffen, die Bundesregierung möge ein wenig gesunden Menschenverstand (buon senso) in die „unglückselige Entscheidungen“ des Bundesverfassungsgerichts bringen. Angesichts der bodenlosen, langanhaltenden Pandemie-Krise will das BVerfG nur begrenzte und verhältnismäßige Mittel einsetzen (Carlo Bastasin, Repubblica)?!
Natürlich, die Karlsruher Richter*innen urteilen nicht über Anleihenkäufe in der Corona-Krise. Aber ihr Urteil hat selbstverständlich konkrete Auswirkungen auf das Vorgehen der Europäischen Zentralbank in den nächsten Monaten und Jahren. Und in diesen kommenden Monaten ist es für kaum ein Land wie Italien entscheidend, dass die EZB an ihrem Anleihenkaufprogramm festhält, mit dem es seit der Finanzkrise die Stabilität des Euro, vor allem aber diejenigen Staaten stützt, die andernfalls noch weit höhere Risikoaufschläge für ihre Staatsanleihen zahlen müssten – bis dahin, dass sie unbezahlbar würden. Mario Draghis whatever it takes sichert Italien, das derzeit eine weit schlimmere Wirtschaftskrise erlebt als vor zehn Jahren, weiterhin das finanzpolitische Überleben. Ein Stopp des Staatsanleihenkaufs auch nur in diesem enormen Umfang, wie er derzeit praktiziert wird, hätte für Italien schwerwiegende Konsequenzen. Jetzt – in Corona-Zeiten – erst recht.
Im Zentrum der nun heiß geführten Diskussion steht – neben dem Konflikt zwischen BVerfG und EuGH, der sich seit langem anbahnte und ein anderes Kapitel ist – die Unabhängigkeit der europäischen Zentralbank. Diese würde, so die Ansicht der deutschen Kritiker*innen und auch des BVerfG, dadurch in Frage gestellt, dass die EZB letztlich verschuldeten Staaten ihr wirtschaftliches Überleben ermögliche – und ein Runterfahren des Anleihekaufs den wirtschaftlichen Kollaps dieser Länder bedeute. Dies aus diesem Grund nicht zu tun, ist aber eine (wirtschafts-)politische Entscheidung, keine finanzpolitische zur Stabilisierung der Inflation zum Beispiel.
Die andere Seite der Kritiker*innen meint vielmehr, die Unabhängigkeit der EZB würde erst durch die von Karlsruhe eingeforderte Kontrolle des Anleihekaufprogramms verletzt: Wenn Berlin Frankfurt jetzt auf die Finger guckt, dann hat es sich mit der Eigenständigkeit der europäischen Zentralbänker ja wohl erledigt. Die Bundesbank deshalb als Mittelsmann dazwischenzuschieben, um eine direkte Einflussnahme zu unterbinden, könnte für die nationale Zentralbank noch eine recht unangenehme Rolle werden.
Beide Sichtweisen und auch die Kritik des BVerfG an der europäischen Zentralbank, sie mache Wirtschaftspolitik, weisen jedoch auf dieselben Leerstellen der europäischen Finanz- und Wirtschaftspolitik: Ja, selbstverständlich – möchte man ausrufen – vergemeinschaftet die EZB Schulden und Risiken durch die Hintertür. Selbstverständlich greift sie in einem überdimensionierten Maße in die Finanzpolitik ein, mit signifikanten Folgen für die Wirtschaft im Euroraum – positiven (kein Zusammenbruch) wie negativen (verlorene Ersparnisse, Überleben nicht überlebensfähiger Unternehmen usw.). Doch warum tut sie das? Weil es bislang der beste und einzige Mechanismus ist.
Es gibt keine gemeinsame Finanzpolitik in Europa, es gibt kein europäisches Programm, das in diesem Umfang helfen kann, wie es die EZB tut. Der Stabilitätsfonds ist eine Möglichkeit, jedoch mit begrenzteren Mitteln und – vor Corona – dem Stigma des Souveränitätsverlustes. Das sind natürlich zwei Seiten einer Medaille: Wer gemeinsame Finanzpolitik will, muss Souveräntiät abgeben. Über den ESM gab aber bislang nur die Nehmerseite Souveränität ab und musste ihren Bürger*innen erklären, warum sie überall kürzen und sparen (im Gesundheitssystem zum Beispiel). Um aus dem politischen Dilemma des „wie erkläre ich das meinen Wähler*innen zuhause“, das Nord- wie Südländer umtreibt, hinauszukommen, schoben die EU-Mitgliedstaaten der Zentralbank zu viel Verantwortung zu.
Es ist richtig – sie hat kein politisches Mandat. Aber sie ist vor Jahren als Feuerwehr eingesprungen, um im Interesse aller Euro-Länder ebendiesen zu retten. In den folgenden Jahren ist zu wenig passiert, es wurde kaum eine adäquate Möglichkeit gefunden, der EZB diese Feuerlöscherrolle wieder abzunehmen. Dafür wird sie nun vom Bundesverfassungsgericht gerügt. Die richtige Reaktion der europäischen Regierungen wäre es nun, die Dringlichkeit des Problems zur umfassenden Reformierung der Euro-Zone zu nutzen. Wahrscheinlicher ist leider, dass sie sich – ihre vorurteilsbeladene und zur Zeit teils existenziell geängstige Bürgerschaft im Hintergrund – gegenseitig vorwerfen werden, egoistisch und nationalistisch zu handeln.
Italien, so finden die die Kritiker*innen aus Deutschland, solle doch einfach endlich unter den Rettungsschirm, den EMS. Das sehen inzwischen nicht wenige italienische Politiker*innen auch so, zumal die Bedingungen für die Nutzung wegen Corona deutlich abgeschwächt wurden. Doch selbst wenn sie das tun, bleibt der Staatsanleihenkauf für Italien äußerst relevant. Die 35 Miliarden sollen vor allem dem gebeutelten Gesundheitssystem zugute kommen, sind Sonderausgaben für Covid 19. Dass Covid 19 aber auch die Wirtschaft schrumpfen lässt, Sozialausgaben steigen, Steuereinnahmen verschwinden – auch das wird durch Staatsschulden irgendwie ausgeglichen werden müssen. Und derzeit liegt Italiens Rating-Einordnung kurz vor miserabel.
Natürlich, die ewige Argumentation der Deutschen, die in den vergangenen Wochen so häufig wieder zu hören war, als es um Coronabonds ging, dass da halt die „Hausaufgaben“ nicht gemacht wurden. Hättet ihr vorher euern Staatshaushalt in Ordnung gebracht und nicht erst 2018/19 Steuer- und Sozialgeschenke verteilt, ihr stündet nicht so schlecht da. Selbst schuld, zieht euch an euren eigenen Haaren wieder aus dem Schlamassel. Nur: Wie soll das jetzt gehen? Der Lockdown in Italien war – im Gegensatz zu Deutschland – tatsächlich einer. Menschen waren gezwungen, über Wochen in ihren Häusern zu bleiben. Alle nicht lebensnotwendige Produktion wurde eingestellt. Der Tourismus, von dem das ganze Land lebt, wird noch auf Monate, Jahre beeinträchtigt sein.
So sehr es auch in Italien Stimmen gibt, die für Verständnis dafür werben, dass die Nordländer – neben Deutschland etwa die Niederlande und Österreich – eben sich ihr eigenes solides Wirtschaften nicht durch Versäumnisse der anderen kaputt machen wollen: Solidarität ist eine Haltung der Starken gegenüber den Schwachen, und nicht umgekehrt. Wenn von europäischer Solidarität gesprochen wird, dann hat nicht Italien Deutschland etwas zu geben, sondern andersherum. Ein Land mit wirtschaftlichen Problemen, das die Pandemie so viel stärker getroffen hat als das ohnehin schon gut dastehende Deutschland – wer soll da mit wem solidarisch sein, wenn nicht Deutschland mit Italien?
Es wurde über die gesamte Corona-Zeit Gesten und Aussagen vermisst, die diese Haltung deutlich gemacht hätten. Es gab eher das Gegenteil. Anfangs Überheblichkeit, was die da unten eigentlich schon wieder nicht auf die Reihe kriegen mit Corona und zu so lächerlichen Maßnahmen greifen wie Schulschließungen – nur um zwei Wochen später dieselben Maßnahmen zu ergreifen. Dann kam von Europa – repräsentiert von einer deutschen Kommissionspräsidentin – erst einmal wenig an Unterstützung. Kein Zugeständnis in Sachen EMS und weiteren Hilfen, das sich die betroffenen Länder nicht mit harten Verhandlungen erstritten hätten. Solidarität und Unterstützung sieht anders aus.
In diese Stimmung fällt nun das Urteil des Bundesverfassungsgericht. Erneut ein deutscher Akteur, der meint, einer europäischen Einrichtung vorschreiben zu können wie es zu handeln hat, zum Nachteil Italiens. Eine verkürzte Sichtweise, natürlich. Gleichwohl ist es nicht nur die Aussage des Urteils über die Zweifelhaftigkeit des Anleiheprogramms, das Italien irritiert. Es ist auch die Haltung des BVerfG zum Europäischen Gerichtshof, diese offene Konkurrenz, das Absprechen einer qualitativ ausreichenden Rechtsprechung. Das BVerfG begehrt auf, doch mit welchem Zweck, mit welchen Folgen? Die italienische Corte costituzionale hat sich gegenüber der europäischen Rechtsprechung stets dezent zurückgehalten. Es gehört zu den Fundamentalprinzipien von Italiens Verfassung, dass sich die Rechtsordnung des Landes in das internationale Recht einfügt. Dies gilt umso mehr für die Europäische Union.
Seit einigen Jahren nun mehren sich allerdings die Zweifel, ob Italien die Mitgliedschaft in der EU noch zum Vorteil gereicht. Diejenigen, die das nicht so sehen, werden lauter und zahlreicher. Es irritiert daher auch die EU-Befürworter in Italien umso mehr, dass ausgerechnet Deutschland, das mit der EU so gut fährt, dem der Euroraum ebenso wie Schengen definitiv nützen, warum also ausgerechnet in diesem Deutschland das Verfassungsgericht den Aufstand probt – gegen die EZB und den EuGH.