Reform der Strafprozessordnung. Die erste große Hürde der Regierung Draghi

Erst verschoben, dann die nächtliche Abstimmung mit Vertrauensfrage. Die Justizreform spaltet die italienische Regierung.

Die Reformierung des Justizsystems ist ein elementarer Bestandteil des Wiederaufbauplans. La giustizia, Statue in Florenz (pixabay).

Also doch die Vertrauensfrage. Regierungschef Draghi nutzte das Instrument, mit dem sich zig Regierungen Italiens in den vergangenen Jahrzehnten am Leben erhalten haben, um ihr Programm halbwegs umsetzen zu können. Vielfach kritisiert, weil es parlamentarische Debatten unterbindet. Nun, am 2. und 3. August setzte auch Mario Draghi die Vertrauensfrage ein, um eine seiner wichtigsten Reformen durchzusetzen: Die Änderung der Strafprozessordnung.

Die Prozesse, egal ob zivil- oder strafrechtlich, dauern in Italien zu lange. Die durchschnittlichen Zeiten übersteigen die Mittelwerte anderer europäischer Länder bei weitem, was nicht zuletzt an einem enormen Rückstau liegt und an Personalmangel. Allerdings liegen die Fehler auch teils im System, das deshalb schon häufig reformiert werden sollte. Dies ist – der vermeintlichen Unreformierbarkeit des italienischen Staates zum Trotz – durchaus in den vergangenen Jahren geschehen. Um die derzeitige hitzige Diskussion zu verstehen, ist ein Blick zurück durchaus erhellend. Doch vorab bleibt zu konstatieren: Das Grundproblem – die lange Prozessdauer – wurde nie effektiv behoben.

Diese zu reduzieren ist nun das, was „Europa“ von Italien fordert. Grundlage für die miliardenschweren Hilfen des Wiederaufbaufonds sind die so genannten Strukturreformen in Verwaltung und Justiz. Die Ministerin Marta Cartabia, ehemalige Verfassungsrichterin, hat in den vergangenen drei Monaten also an einer Reform des Strafprozessrechts gearbeitet (und parallel an einer des Zivilprozesses, die demnächst im Senat eingebracht wird) mit dem Ziel, die italienischen Strafverfahren effizienter zu machen. Sie hat dafür Änderungen vorgesehen an der erst zum 1. Januar 2020 eingetretenen Justizreform ihres Vorgängers Bonafede.

Die Änderungen sind vielfältig, eine Stellungnahme des Obersten Rates der Richterschaft umfasst 158 Seiten. Im Kern geht es in der politischen Auseinandersetzung, an der sich auch die Richterschaft beteiligt, um nur einen Aspekt: Die Verjährung. Die Reform Bonafede hatte diese nach der 1. Instanz aufgehoben. War also erst einmal ein Urteil gefällt, konnte die Verjährung nicht mehr greifen, egal wie lange die Verfahren in der Berufung oder vor dem Kassationsgerichtshof dauern würden. Interessanterweise orientierte sich Bonafede am deutschen Modell und versuchte die Ministerin Cartabia noch bis zuletzt zu überzeugen, dass nicht die Einstellung des Prozesses das richtige Mittel sei, sondern die Verringerung der Strafe bei zu ausufernder Prozessdauer.

Denn die „niemals endenden“ Prozesse, welche die Reform Bonafede vermeintlich verursachte, sollen mit der Reform Cartabia ins Gegenteil gewendet werden: Nach zwei Jahren ist Schluss im Berufungsverfahren und nach einem Jahr im Verfahren vor dem Kassationsgericht. Unabhängig von der Komplexität der Sachlage und fast unabhängig vom Strafmaß: Lediglich Straftaten, auf die lebenslänglich steht, sollten von der so genannten „Unprozessierbarkeit“ (improcedibilità) ausgenommen sein.

Gegen diese Pläne lief die Fünf-Sterne-Bewegung Sturm. Sie waren diejenigen, die mit dem Slogan „Onestà“, Ehrlichkeit, in die Parlamente und Regierungen eingezogen waren, die sich stets dem Kampf gegen Mafia und Korruption verschrieben haben. Sie waren diejenigen, die die Verjährung in den Berufungsinstanzen abgeschafft hatten um zu verhindern, dass findige Anwälte die Verfahren politischer und wirtschaftlicher Kriminalität so sehr verlängern konnten, dass sie eingestellt werden mussten. Oder auch dass Prozesse eingestellt werden mussten, weil aufgrund der Überarbeitung der Gerichte keine Zeit mehr blieb.

Die Regierung Berlusconi hatte 2005 noch unter massivem Protest und Beanstandungen – auch aus Europa – die Verjährungsfristen, insbesondere für Wirtschafts- und Korruptionsdelikte gelockert. Man muss eine schlechtes Gedächtnis haben, um zu vergessen, dass es gerade in politischen Kreisen ein gewisses Interesse gab und gibt, bestimmte Prozesse ins Leere laufen zu lassen. Die Überzeugung, mit der Forza Italia für die Unprozessierbarkeit eintritt, weckt zumindest eher ungute Gefühle, selbst wenn ihr Großmeister Berlusconi inzwischen zu alt zu sein scheint, um neue strafrechtlich relevante Fakten zu schaffen. Nichtsdestoweniger, Veruntreuung von Geldern, Korruption, dies sind auch Themen, mit denen die Lega und Salvini, oder auch Matteo Renzi (Italia viva) zu tun haben – sie alle loben die Einstellung der Verfahren nach festen Zeiten in den höchsten Tönen. Dies sollte an sich schon Grund zu Misstrauen sein.

Dennoch, ein harter Schnitt also, zwei Jahre, ein Jahr. Zwar zeigten sich Ministerin Cartabia und auch Premier Draghi gesprächsbereit bezüglich Verfahren gegen die Mafia, aber die Empörung war bereits riesig und erneut stand (und steht) die Fünf-Sterne-Bewegung an einer Wegscheide: Würden sie an diesem Konflikt zerbrechen oder könnten sie gesichtswahrende Änderungen durchsetzen? Die Drohungen waren massiv: Unzählige Änderungsanträge, die den parlamentarischen Prozess zeitlich gesprengt hätten, Enthaltung der M5S bei der Abstimmung – nichts, was Geschlossenheit und Handlungsfähigkeit der Regierung demonstriert hätte.

Und Draghi stand unter enormen Zeitdruck: Zuerst müssen die Strukturreformen durchgehen, dann kann die eigentliche Arbeit an den Wiederaufbauplänen beginnen und hinter allem drückt der Bedarf an Finanzmitteln vonseiten der EU. Jede Verzögerung, jede ausufernde Debatte und Verhandlung bringt den eng getakteten Zeitplan ins Wanken, umso mehr als jede Infragestellung der von der Regierung ausgearbeiteten, im Ministerrat beschlossenen Reformen die Dauer der Regierung Draghi selbst unsicherer werden lässt.

Für Draghi wie für die Fünf-Sterne ist die Justizreform damit existenziell. Giuseppe Conte, der nun doch schon wieder fast sicherere künftige Vorsitzende des M5S, führte die Nachverhandlungen, versuchte die Reihen geschlossen zu halten und das Schlimmste – aus Sicht der Fünf-Sterne – zu verhindern: Mafia-Prozesse sind nun von dem strikten Zeitrahmen ausgenommen, auch solche, die mafiöse Aktivitäten begünstigen . Rückenwind erhielten sie vom Obersten Richterrat und der Nationalen Vereinigung der Richterschaft. Zu viele Prozesse würden sofort eingestellt werden müssen, auch wenn das Gesetz erst Anwendung findet auf Verfahren, die zum 1.1.2020 begonnen wurden. Zu sehr weichen die vorgeschlagenen Zeiten vom Mittelwert der Berufungsverfahren aus, wobei es in einigen, zumeist südlichen Regionen massive Ausreißer nach oben gibt.

Das heißt: Kaum ein Berufungsgericht könnte die verlangten Zeiten einhalten, es würden notwendigerweise unzählige Prozesse im Nichts enden. Das ist natürlich eine sehr effektive Methode, die Überlast abzubauen. Alle Prozesse, die neu dazu kommen, können dann vielleicht in zwei Jahren bearbeitet werden. Es wäre zu hoffen. Andernfalls erreicht Italien zwar die lang ersehnte, von Europa geforderte kürzere Prozessdauer. Zugleich würde es aber einige Rechtsstaatsprinzipien untergraben, etwa die Verpflichtung zur Strafverfolgung, oder auch – im Sinne der Beschuldigten – die Feststellung der Sachverhalte, die ja womöglich einen Freispruch beinhalten könnten.

Dass Draghi die Vertrauensfrage stellt, um seine ungemein breite parlamentarische Mehrheit stabil zu halten, ist darüber hinaus politisch vielsagend. Anders als viele Vorgängerregierungen benötigt er die Vertrauensfrage nicht, um eine hauchdünne Mehrheit zu retten. Einzig Fratelli d’Italia sind wirklich nennenswerte Oppositionspartei, ansonsten stimmen alle mit der Regierung. Aber wenn die Fünf-Sterne als mit Abstand größte Fraktion in der Abgeordnetenkammer stark abweichen von der Regierungsempfehlung, dann hätte dies natürlich Konsequenzen für die zukünftige Regierungsarbeit.

Die Koalition, die keine ist, sondern ein Zusammenschluss aus nationalem Notstand heraus, würde noch instabiler, die Streitigkeiten noch mehr, das Recht auszuscheren würden auch andere für sich in Anspruch nehmen wollen. Das alles muss Draghi unterbinden, will er das Projekt, für das er an die Spitze der Regierung geholt wurde, in der knappen Zeit, die ihm bleibt, auch umsetzen. Deshalb die Vertrauensfrage, um die fragilen Fünf-Sterne zu disziplinieren. Für diese mag das letztlich einen weiteren Verlust an Kohäsion bedeuten, weil zu viele Kröten geschluckt werden.

Was es für Italiens Demokratie bedeutet, wenn Zeitdruck und Projektplanung von fachlichen Expert:innen die Gesetzgebung bestimmen, bleibt abzuwarten. Wie zu Beginn von Draghis Amtszeit steht noch aus, ob diese Phase die heilsame Reformierung des italienischen Staates und die Grundsteinlegung für eine bessere politische Zukunft ist – oder ob das regierende Expertentum nicht am Ende nur die andere Seite der populistischen Social-Media-Medaille ist, mit den selben verheerenden Effekten auf die repräsentative parlamentarische Demokratie.

5-Sterne: zurück in die Zukunft?

5-Sterne-Gründer Beppe Grillo serviert Giuseppe Conte ab.
Update: Ein Schlichtungsversuch gegen die Spaltung

Giuseppe Conte mit Ursula von der Leyen als er noch Ministerpräsident Italiens war. Mit 5-Sterne Gründer Beppe Grillo konnte er sich auf keine Reformierung der Bewegung einigen.

Die Reaktion ließ auf sich warten – und dann kam sie heftig. Auf den Vorschlag des ehemaligen Ministerpräsidenten Giuseppe Conte, wie die 5-Sterne-Bewegung strukturell reformiert werden könnte, kam von Beppe Grillo zunächst keine Antwort. Einige deuteten das als gutes Zeichen, andere waren skeptischer: Conte hatte Grillo ein Ultimatum gestellt und dessen Rolle als Garant der Bewegung klar und eng eingrenzen wollen, schwer vorstellbar, dass dies beim exzentrischen Ex-Komiker keine Abwehrreflexe hervorrufen sollte.

Gestern Abend dann schrieb Grillo auf seinem Blog und fällte ein vernichtendes Urteil über den ehemaligen Ministerpräsidenten: keine politische Vision, keine Managerqualitäten, kurzum nicht die geeignete Person für einen politischen Neuanfang. Im Zentrum seiner Kritik steht, neben Conte als Person, die vermeintliche Neuausrichtung der 5-Sterne auf eine Person, den neu zu schaffenden Vorsitzenden. Grillo führt den orginiär horizontalen Charakter der Bewegung ins Feld, der sich nicht mit der Delegation von Entscheidungen auf Einzelpersonen vertrage. „Ein Entwurf, und weg damit“ lautet der Titel seines Blog-Beitrags, womit er den von Conte erarbeitete Vorlage zur Strukturreform buchstäblich in den Papierkorb warf.

Horizontale Basisdemokratie statt leadership. Grillo akzeptiert nur sich selbst als Anführer.

Laut Grillo soll also die gemeinschaftliche Debatte und Entscheidung gestärkt werden, eine gemeinsame Neuausrichtung durch die Beteiligung aller gefunden werden. Es ist ein Zurück zu den Wurzeln, bei dem die breite, aber diffuse Mitgestaltung „aller“ im Vordergrund steht, ohne jedoch das Problem zu beheben, das die 5-Sterne seither mit sich tragen: Entscheiden wirklich alle, oder wird vielmehr nur ratifiziert, was eine nicht legitimierte Führungsspitze bereits entschieden hat? Das Horizontale der Bewegung ist zugleich das Atomisierte, die Beteiligung aller ermöglicht augenscheinlich basisdemokratische Entscheidungen. Tatsächlich eröffnet sie undefinierten Spielraum für die – undefinierte – Führungsschicht der Bewegung, insbesondere für den „Garanten“ Beppe Grillo.

Ein weiteres Zeichen, dass an alte Zeiten angeknüpft werden soll, ist, dass die nun bevorstehende Abstimmung zur Besetzung des Direktoriums – ein Gremium, dessen Einrichtung schon vor längerer Zeit beschlossen, aber nicht umgesetzt wurde – über die Plattform Rousseau erfolgen soll. Von dieser Plattform und deren Betreiber Davide Casaleggio hatten sich die 5-Sterne, unter Federführung von Giuseppe Conte, erst kürzlich getrennt. Diese Plattform steht wie kaum ein anderes Merkmal für die demokratische Ambivalenz der 5-Sterne: maximal gleichberechtigte Beteiligung aller an den zentralen Entscheidungen bei gleichzeitiger größter Intransparenz der Daten der Eingeschriebenen, über die allein der Associazione Rousseau und damit Casaleggio junior verfügte, sonst aber niemand im Movimento.

Giuseppe Conte wollte dagegen innere Strukturen und Entscheidungsprozesse aufbauen, die für mehr Verlässlichkeit und auch nachvollziehbar demokratische Legitimation sorgen. Er hätte damit die 5-Sterne den anderen Parteien, überhaupt der Organisationsform Partei angenähert, zu einer repräsentativ organisierten Partei. Damit wären die 5-Sterne zu einem strukturierteren Player in der nationalen Politik geworden, hätte gegebenenfalls den Mechanismus gebremst, dass die Bewegung unter dem Druck der politischen Prozesse und Systemzwänge immer weiter zerfaserte und zerfiel. Zugleich wäre es eine Abkehr von allem gewesen, wofür die Bewegung einst stand.

Gleichzeitig hat Grillos Argument etwas für sich, dass mit der Einrichtung eines Vorsitzenden und der Fokussierung auf Conte zwar ein Wahlerfolg wahrscheinlicher geworden wäre, das langfristige Überleben der 5-Sterne jedoch längst nicht gesichert gewesen wäre. Auch hier wäre die Personalisierung stark gewesen, wäre Wohl und Wehe von der einen populären Figur abhängig gewesen. Sich dem Beispiel der anderen Parteien anzunähern, heißt in Italien – und nicht nur dort – vor allem das leadership-Modell zu wählen. Es gibt einen leader, der oder die die Programmatik bestimmt, ohne die nichts geht in der Partei und die den direkten Draht via social media zum (Wahl-)Volk sucht. Interne Parteigremien sind loyal besetzt und fungieren eher als Abstimmungsmaschinerie denn als innerparteiliche Willens- und Meinungsbildungsorgane. Der Bestand und Erfolg dieser Parteien hängt so sehr von der Führungsperson ab, dass nicht selten mit deren sinkendem Stern – und das kann in einer populistisch geprägten Politik recht schnell gehen – die Existenz der ganzen Organisation auf dem Spiel steht. Abspaltungen, Umbenennungen, Neugründungen sind die Folge.

Dies kann und sollte im demokratisch-repräsentativen Sinne nicht das Ziel sein. Grillos Weg der Wiederbelebung des horizontalen Ansatzes verspricht jedoch nicht der demokratischere zu sein. Denn letztlich war die Auseinandersetzung um das neue Statut des Movimento 5 Stelle nicht zuletzt ein Machtkampf zwischen dem Gründer und dem ehemaligen Ministerpräsidenten. Letzterer wollte kein „halber Chef“ sein, ersterer wollte seine Position als Letztentscheider nicht hergeben. Die Personalisierung politischer Entscheidungen ist in Italien allgegenwärtig.

Update: Parlamentarier:innen der 5-Sterne machen einen Vorstoß zur Schlichtung

Der Konflikt zwischen den machtvollen Streithähnen Beppo Grillo und Giuseppe Conte musste erst öffentlich eskalieren, ehe einige andere große Namen – unter anderen Luigi di Maio und Vito Crimi – aus Fraktionen, Ministerien und Parteigremien geschlossen intervenierten. Angesichts der Zuspitzung der persönlichen Auseinandersetzung stand die Spaltung der Bewegung zu befürchten – und in Italien kennt man nur zu gut das Schicksal der Klein- und Kleinstparteien, die sich mit prominenten Anführer:innen von der „Mutter“ abgespalten haben. Für sie endet es meist in der Bedeutungslosigkeit, doch auch die Hauptorganisation wird geschwächt.

Die Parlamentarier:innen der 5-Sterne hätten nur ihre Kolleg:innen vom PD oder Forza Italia fragen müssen, sofern ihnen die eigene Abspaltung im Zuge der Regierungsbildung Draghi nicht schon genügte. Also ging es darum, die Egomanen zu bändigen und ihnen nicht nur vor Augen zu führen, was auf dem Spiel steht, sondern auch, dass die 5-Sterne eben keine Ein-Mann-Bewegung sind, in der einer mal eben allein entscheidet. Nun ist die Wahl des Direktivkommitees erst einmal ausgesetzt, ebenso die Frage, ob dieses nun auf der Plattform Roussea (wo die Daten der 5-Sterne-Mitglieder nicht mehr liegen) oder auf einer anderen Plattform stattfindet (was nach Statut nicht möglich ist).

Stattdessen soll sich ein siebenköpfiges, informelles Gremium aus Repräsentant:innen aller institutioneller Ebenen der 5-Sterne Contes Entwurf für ein reformiertes Statut anschauen und Änderungen verhandeln. Mit diesem Schritt ist sehr wahrscheinlich geworden, dass es letztlich doch noch eine Einigung geben wird. Der Schaden ist aber bereits entstanden. Wie Beppe Grillo und Giuseppe Conte nach der öffentlichen Schlammschlacht noch ein überzeugendes Führungsduo bilden sollen, bleibt mehr als fraglich.

Vom Tisch scheint jedenfalls ein Alleingang Contes, der mit der Gründung einer eigenen Wahlliste oder Partei liebäugelte. Es waren nicht viele bereit ihm zu folgen – womit ihm das Schicksal einer darbenden Kleinstpartei von vornherein erspart blieb. Wie viel politisches Gewicht er noch haben kann, nach dieser öffentlichen Demontage, die erneut seine politische Vision in Frage stellte, bleibt fraglich. Contes letzte Regierung war schon an offenkundiger Ideenlosigkeit und fehlender Programmatik gescheitert, die Matteo Renzi damals genüsslich sezierte. Grillos Vorwürfe klangen nun ähnlich. Und auch wenn es sich in beiden Fällen um vornehmlich Machtgerangel, denn um inhaltliche Auseinandersetzung handelte, die Chancen, dass Giuseppe Conte bei der nächsten Wahl das linke Lager anführen wird, sind nicht gerade gestiegen.

Mario Draghi Ministerpräsident: alles gut in Italien?

Mit dem Ex-BZE-Chef an der Regierungsspitze lassen sich einige, aber längst nicht alle Probleme Italiens lösen.

Mario Draghi, Aufnahme von 2011
Mario Draghi, ehemaliger Chef der Europäischen Zentralbank, jetzt designierter italienischer Ministerpräsident. Foto: European Union, 2011

In Europas Hauptstädten und in Brüssel ist man erleichtert bis begeistert, dass so ein erfahrener kompetenter Mann wie Mario Draghi die Regierungsführung in Italien übernehmen soll. Die Finanzmärkte ebenso, was sich unter anderem in einem Rekordtief der Risikoaufschläge für italienische Staatsanleihen, dem spread, zeigt. In Italien selbst hört man nur lobende Stimmen über die außerordentlichen Fähigkeiten des ehemaligen nationalen wie europäischen Notenbankenchefs. Hat Staatspräsident Sergio Mattarella also die richtige Antwort auf die politische Krise aus dem Hut gezaubert?

Sicher, das hat er. Doch in der Euphorie darüber, dass Draghi den Auftrag – unter Vorbehalt – angenommen hat, eine neue Regierung zu bilden, darf nicht untergehen, dass dieser Schritt erst nötig wurde, weil sich eine politische Krise entfaltet hatte, die selbst in Italien ihresgleichen sucht. Die Unfähigkeit zur Problemlösung, die die politischen Akteure dabei offenbarten, wird Mario Draghis Regierungsbildung und -politik weiter beeinflussen.

Herausforderung I: politische Einheit

Mario Draghi braucht eine parlamentarische Mehrheit in beiden Kammern. Giuseppe Conte hatte keine Mehrheit mehr hinter sich vereinen können, und die beiden größten ihn unterstützenden Parteien PD und M5S waren nicht in der Lage, eine Alternative zu Conte zu entwickeln und dafür die nötige Unterstützung zu bekommen. Die aktuell laufenden Gespräche zeigen bereits, dass es auch für Mario Draghi nicht einfach wird: Die Fünf-Sterne haben Bauchschmerzen, schließlich repräsentierte er als EZB-Chef aus ihrer Sicht genau diejenigen Institutionen, die Italiens nationale Selbstbestimmung beschnitten und politische Reformen gegen den Willen der italienischen Bevölkerung „diktierten“. Das Draghi mit seinem „Whatever it takes“ vor allem Italien die Haut gerettet hat, wird in den orthodoxen Kreisen der Fünf-Sterne nur ungern anerkannt. Ähnlich sieht es Giorgia Meloni von Fratelli d’Italia, die sogleich ankündigte, Draghi im Parlament nicht unterstützen zu wollen. Soweit zu verschmerzen, denn es ließe sich ohnehin sehr schwer eine Regierung vorstellen, in der der pro-europäische Partito Democratico mit den nationalistisch-sovranistischen Fratelli d’Italia zusammenarbeitet.

Dies führt zur stärksten Kraft im Mitte-Rechts-Lager, der Lega. Zwar dämmert es Lega-Chef Matteo Salvini, dass sich mit anti-europäischen, trumpistischen Tönen inzwischen weniger Zustimmung erreichen lässt als noch vor drei Jahren (s. Recovery Plan). Doch Salvinis Lega ist auf Abgrenzung, auf Dauerwahlkampf, auf Parolen statt Verhandlungen ausgerichtet. Da passt eine Regierung des nationalen Konsens‘ zur Überwindung der Krise nicht ins Konzept. Zumal es Draghis Regierung zuallererst um die Bekämpfung der Pandemie und ihrer Folgen gehen wird – und die Mitte-Rechts-Opposition hat bislang noch nicht glaubhaft machen können, warum sie der bessere Krisenmanager wäre, wo sie doch Covid-19 lange Zeit vor allem verharmlost hatten und sich weigerten, Schutzmaßnahmen mitzutragen. Doch das größte Problem für die künftige, ja für alle künftigen Regierungen liegt tiefer:

Herausforderung II: Fehlendes politisches Führungspersonal

Die Opposition kann an dieser Stelle gleich ausgeklammert werden, denn Verantwortungsbewusstsein und Eignung zum Krisenmanagement hat sie in den vergangenen Jahren nicht an den Tag gelegt, auch die Lega in Regierungsverantwortung nicht. Da ging es um Profilierung und Härte gegen den Gegner (Migrant:innen, EU, die Linke…). Unwahrscheinlich, dass mit Salvini Premier es überhaupt die europäische Hilfe gegeben hätte, um deren Abruf es jetzt maßgeblich geht.

Dass Giuseppe Conte in den letzten Monaten überhaupt zu der Führungsfigur aufsteigen konnte, spricht Bände über den Zustand der politischen Elite. Keine Frage, er war und ist sehr beliebt; das Krisenmanagement im letzten Frühjahr gelang ihm trotz aller Probleme recht gut. Er verhandelte in Brüssel die EU-Hilfe, ein großes politisches Verdienst, nicht zuletzt weil die Euroskepsis der Italiener:innen danach stark sank. Der späte Widerstand gegen Salvini im Herbst 2019 war so notwendig wie ermutigend. Und zunächst schien es sogar, als könne er sich gegen den zweiten sich selbst überschätzenden Matteo – Renzi – behaupten. Doch dort, wo es wirklich schwierig wurde, wo politische Führung und Durchsetzungsstärke nötig war, konnte Conte nicht liefern. Vom Wiederaufbauplan, mit dem die EU-Gelder eingesetzt werden sollten, bis zur Handhabung der Krise, in der er kein klares politisches Programm für eine Regierung „Conte ter“ bieten konnte.

Seit Sommer schon kursiert der Name Draghis in den italienischen Medien, wenige Wochen vor der Krise wurde in den Polit-Talkrunden mitleidsvoll über Contes Befinden und seine Zukunftsaussichten gesprochen. Tenor: Hier arbeitet einer ehrlich, aber eben an seiner Leistungsgrenze. Niemand wollte Conte etwas Böses, aber man sah deutlich die Grenzen seiner Kompetenz. Bitter ist, dass in so einer Situation keine einzige politische Kraft, nicht einmal der Partito Democratico, in der Lage war, personelle und politische Alternativen zu anzubieten. Der PD, allen voran Parteivorsitzender Nicola Zingaretti, wollten eine dritte Conte-Regierung, hielten sich an seiner Popularität fest, spekulierten auf ein doch noch mögliches, wenn auch unwahrscheinliches Zusammenwachsen mit – zumindest einigen – linken Kräften des M5S, um die Linke zu neuer Stärke zu führen. Conte war jedoch nicht stark genug, die Fünf-Sterne zu planlos, zu zerfranst und unentschlossen. Stattdessen Renzi.

Matteo Renzi, über den nur noch strittig ist, ob sein egozentrisches Verhalten und seine fehlgeschlagene Taktik – es heißt, er wollte Macron nacheifern und den PD wie die Sozialisten in Frankreich durch den Aufbau einer eigenen Bewegung zerschlagen – nicht doch noch eine Sache zugutezuhalten wäre. Nämlich dass er letztlich Mario Draghi in die Regierungsverantwortung gebracht hat. Viel mehr ist zu dieser in Europa immer noch grob überschätzten Personalie nicht mehr zu sagen.

Und mit genau diesen politischen Führern – nicht zu vergessen der grauen Eminenz Silvio Berlusconi – muss nun Mario Draghi eine Regierung, eine Parlamentsmehrheit schmieden.

Herausforderung III: Die Experten-Regierung

Noch ist nicht ganz klar, inwieweit Draghis Regierung den Charakter einer Experten-Regierung haben wird. Nach den Erfahrungen der Regierung Monti (2011-2013) spricht sich die überwiegende Mehrheit der Politiker:innen für eine politische, d.h. mit Parteivertreter:innen besetzte Regierung aus. Allerdings, dazu müssten sich sehr heterogene Parteien und -flügel auf eine gemeinsame Besetzung einigen (s. Herausforderung I), die zudem die qualitativen Anforderungen, die Mario Draghi sicher haben wird, erfüllen (s. Herausforderung II).

Bereits zweimal gab es eine Expertenregierung, die ebenfalls aufgrund europapolitischer Erfordernisse eingesetzt wurden: Die Regierung Ciampi Anfang der 1990er Jahre, als es darum ging, dass Italien die Maastricht-Kriterien erfüllen musste, und eben 2011, als die politische Klasse sich nicht durchringen konnte, die einschneidenden Sozial- und Fiskalreformen durchzuführen, die wegen der Finanzkrise erforderlich schienen. Man kann leider nicht behaupten, dass die den Technokraten nachfolgenden Phasen eine Verbesserung der politischen Situation, eine Verbesserung der Politik und ihrer Akteure mit sich brachten. Eher ist das Gegenteil der Fall.

Zudem wünschen sich Bevölkerung wie Journalist:innen häufig eine kompetente, starke Persönlichkeit abseits der parteipolitischen Interessen, die endlich wieder Ordnung ins Land bringt. Die de facto Absetzung Berlusconis, die Montis Regierung voranging, wurde geradezu gefeiert. Allein, die Freude währt oft nur kurz. Früher oder später setzen parteipolitische Taktierereien ein, früher oder später wird es Wahlen und damit Wahlkampf geben müssen, die nicht gewonnen werden, wenn man gemeinsam mit dem politischen Gegner konsensual am Besten für das eigene Land arbeitet. Zumal, wenn das Beste nicht immer das Angenehmste ist. Die Regierung Monti mag das Notwendige, vielleicht auch das Richtige getan haben – am Ende sorgte sie mit für den Aufstieg der Fünf-Sterne und auch die Lega labte sich lange an dem Anti-Europäismus, der in den Monti-Jahren entstand.

Die Ehrungen, die Mario Draghi jetzt von allen Seiten zuteil werden, werden kaum länger anhalten als bis zu dem Punkt, an dem eine Partei die Chance erblickt, sich erfolgreich zu profilieren und bei den nächsten anstehenden Wahlen zu punkten – oder diese gar herbeizuführen. Im Grunde ist bei einer Experten-Regierung das Ende schon mitgedacht. Ein Ende, das im schlimmsten Fall ein Scheitern sein wird – nicht, weil Draghi die Umsetzung bestimmter Vorhaben nicht gelingen wird. Sondern weil die Parteien die Zeit nicht nutzen, zu mehr Profil, mehr Kompetenz und mehr Kompromissbereitschaft bei weniger Individualinteresse zu gelangen. Weil der politische Niedergang Italiens nur unterbrochen, nicht behoben wird.

Renzis unangemessener Machtpoker

Matteo Renzi läutet eine Regierungskrise ein, während das Land mit Pandemie und Wirtschaftskrise kämpft

Nun ist sie also da, die Regierungskrise. Conte II neigt sich seinem Ende zu. Dies hatte sich seit Wochen, wenn nicht Monaten immer wieder angedeutet. Die treibende Kraft dahinter war immer wieder und bis zuletzt Matteo Renzi, der frühere Premierminister und Vorsitzende der Splitterpartei Italia Viva.

Als ob es noch eines Beweises bedurfte, dass es Matteo Renzi bei Politik vor allem um ihn selbst geht, hat seine Partei durch die Enthaltung bei der Abstimmung zum italienischen Recovery Plan – dem Weg, wie Italien mit EU-Geldern aus der pandemiebedingten Krise kommen solle – sich enthalten und daraufhin den Rücktritt der Ministerinnen von Italia Viva angekündigt. In den vergangenen Wochen hatten Renzi und Iv immer wieder Verbesserungen am Recovery Plan eingefordert, wie das Geld auszugeben sei, wie die Strukturen hinter dem Programm aufgebaut werden sollten und ob nicht zusätzlich der EMS genutzt werden sollte, um das Gesundheitssystem zu stärken.

Alle diese Einwände, so der Tenor auch heute in Medien und Bevölkerung, waren wichtig und teils richtig. Gleichwohl scheint niemand ernsthaft zu glauben, Renzi ginge es um Inhalte. Kein Entgegenkommen genügte, am Ende schien Conte die Forderungen nicht mal mehr ganz ernst zu nehmen, da es stets so schien, als könne er sie ohnehin nicht in ausreichendem Maße erfüllen. Ex-Ministerpräsident Romano Prodi äußerte am Vorabend im italienischen Fernsehsender la7, Renzi sei es die ganze Zeit nicht ums verhandeln gegangen, sondern um den Bruch mit der Regierung.

Renzi selbst gibt sich gleichwohl staatstragend, will trotz dem Ausscheiden aus der Regierung alle notwendigen Maßnahmen und Gesetze zur Pandemiebekämpfung und ihrer Begleiterscheinungen mittragen. Das passt ihm gut, kann er dann doch den häufig vorgebrachten Einwand begegnen, ihm ginge es immer nur darum, seine Posten, le poltrone, zu behalten.

Doch seine Worte überzeugen nicht. Zu sehr erinnert er an sich selbst fünf Jahre zuvor, als er im Dezember 2016 seine Verfassungsreform dem italienischen Volk zur Abstimmung stellte. Sie sollte das Land modernisieren und aus der politischen Krise führen, eine historische Reform zum Wohle aller Italiener:innen. Doch schon damals erschien der gute Wille für das Volk nur Fassade, die inhaltliche Auseinandersetzung trat fast komplett hinter der personellen Zurschaustellung zurück: Es war Renzis Reform, seine historische Tat, und allein wegen des historischen Werts, sie überhaupt zustande gebracht zu haben, sollten die Wähler:innen ihr zustimmen. Allein, diese Logik der Personalisierung verfing nicht, höchstens mündete sie ins Gegenteil: Die Reform wurde abgelehnt, weil es Renzi war, der sie in Überschätzung seiner Kräfte durchgeboxt hatte, ohne auf breiteren politischen Rückhalt zu setzen.

Im vergangenen Jahr dann schmiedete Renzi mit seinen Kolleg:innen des PD eine Koalition mit den Fünf-Sternen, nur um kurz darauf sich abzuspalten und seine eigene Partei zu gründen, die sich fortan wie die erste Oppositionspartei, insbesondere gegenüber den Fünf-Sternen verhielt. Italia viva ist die jüngste unter unzähligen Ein-Mann-Parteien, die das Parteiensystem Italiens in den letzten Jahrzehnten hervorgebracht hat, und von denen keine jemals besondere Bedeutung erlangt hätte. Auch Iv erhält in Umfragen kaum mehr als 2 Prozent. Doch Wähler:innen hinter sich zu versammeln ist auch gar nicht das Ziel dieser Parteien. Sie müssen nur ausreichen, um ins Parlament einzuziehen. Und dort spielt man dann das Zünglein an der Waage, dessen Stimmen für die heterogenen, instabilen Koalitionen dringend nötigen sind. Das verschafft Macht, die sich nicht im Wählerzuspruch widerspiegelt. Doch warum sollte sie auch – was sie schafft, sind Aufmerksamkeit, Fernsehauftritte und vor allem – poltrone.

So gesehen ist Renzis Vorstoß nichts Außergewöhnliches in Italiens Regierungsgeschichte. Er, der die alte politische Klasse „verschrotten“ wollte, reiht sich ein in die unselige Tradition derjenigen, die Regierungskrisen wegen persönlicher politischer Vorteile auslösen. Was Renzis Vorteil ist? In der derzeitigen Konstellation war sein Gestaltungsspielraum begrenzt. Eine wahrscheinliche „technische“ Regierung wird ebenso auf die Stimmen von Italia Viva in den Parlamentskammern setzen müssen – aber vielleicht sind ein paar unliebsame Gegner weniger am Kabinettstisch, das Kräfteverhältnis wird sich eher nicht zugunsten der Fünf-Sterne entwickeln und überhaupt: Bei einer neuen Regierungsbildung können die Bedingungen neu verhandelt werden und damit günstiger für Renzi ausfallen.

So unangemessen eine solche Taktik schon zu normalen Zeiten ist, weil sie nicht im Ansatz der Verantwortung des Regierens gerecht wird und die in Italien besonders ausgeprägte Politikverdrossenheit nur weiter nährt, so wirkt sie inmitten der Pandemie, die Italien besonders heftig getroffen hat, noch viel deplazierter. Es ist kaum zu erwarten, dass Renzis Vorgehen ihm Zustimmung in der Bevölkerung bringen wird. Es ist leider auch nicht zu erwarten, dass die nächste Regierung viel besser sein wird als die alte. Oder das sie wesentlich länger halten wird. Aber solche Ziele hat Renzi ja gar nicht. Ihm geht es vor allem um eins: Renzi.

Covid-19 verlängert das Leben der Regierungskoalition Italiens

Leere vor dem Petersdom: Italien im Lockdown im Frühjahr 2020.
Leere auf Italiens Plätzen: Der Lockdown vom Frühjahr soll sich nicht wiederholen. Foto: Pixabay License.

Es gibt sie wieder, die Schreckensbilder aus Italien von überfüllten Krankenhäusern, von Menschen, denen nicht geholfen werden kann. Diesmal, im Herbst 2020, kommen sie aus Kampanien, aus Neapel, wo sich Schlangen von Krankenwagen vor den Notaufnahmen bilden. Ein Video ging viral von einem älteren Herren, der im Bad eines Krankenhauses starb, weil kein Pflegepersonal kam, um ihm zu helfen.

Obwohl die Lage sich zumindest lokal wieder enorm zuspitzt, da die Gesundheitsversorgung – noch immer – nicht auf eine Pandemie ausgelegt ist, versucht die italienische Regierung, einen zweiten Lockdown wie im Frühjahr unbedingt zu vermeiden. Sollten sich erneut Millionen italienischer Bürger*innen in ihren Wohnungen einschließen, die Schulen schließen, alle nicht notwendige Produktion runtergefahren werden – das Land würde es wohl kaum verkraften, ökonomisch wie mental.

Schneller als erhofft findet sich Italien wieder in der Situation, per Ministerpräsidentsdekret regiert zu werden, die Giuseppe Conte in inzwischen gewohnter Regelmäßigkeit den Bürger*innen vorträgt und sie über die Einrichtung gelber, organer und roter Zonen, die Schließung von Restaurants am frühen Abend, die Maßnahmen zur Verringerung des Personenaufkommens im öffentlichen Nahverkehr, die Verpflichtung zum Mund-Nase-Schutz zu informieren. Die Regionen tun das ihrige, und erlassen – je nach Risikostatus – weitere Beschränkungen. Es wird gestritten über den Einsatz von Militär und Feldkrankenhäusern zur Unterstützung der infrastrukturell bedürftigsten Regionen und Provinzen. Es wurde gestritten um die Beantragung des EMS, der reichlich Geld zu kleinen Zinsen für die Verbesserung des Gesundheitssystems in die klammen italienischen Kassen gespült hätte.

Bislang haben sich die Fünf-Sterne-Bewegung und ihr Vize-Ministerpräsident Luigi di Maio mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, und so findet sich Italien erneut in einer aktuen Krisensituation wieder, zumal der Süden des Landes diesmal nicht von der Pandemie verschont bleibt. Es streiten sich Regierung, Regionen und kommunale Verantwortungsträger vor allem im Falle Neapels um die Verantwortung in dieser Situation – und um die richtigen Maßnahmen ihr zu begegnen. Doch so unzureichend all dies scheint, so unangebracht der Interessenskampf der beteiligten Politiker – letztlich ist es der Pandemie selbst zu verdanken, dass Conte und Di Maio überhaupt noch in der Position sind, diese Debatten zu führen.

Über den Sommer, als die Dringlichkeit des Handelns nachließ, brachen die inhaltlichen Gräben und persönlichen Animositäten wieder auf, die der Notstand phasenweise verdeckt hatte. Die Zeitungen munkelten schon über eine mögliche „technische Regierung“, angeführt von Ex-EZB-Chef Mario Draghi, von einer Regierung der nationalen Einheit. Einzelne Parteien und -flügel, allen voran Matteo Renzi und sein Italia Viva, spekulierten wohl schon darauf. Nichts, so schien es, kann die Vernunftehe von 5-Sterne und PD, die inzwischen immer weniger Beteiligten vernünftig erscheint, noch lange zusammenhalten.

Doch mit dem Schwung des Verhandlungserfolgs in Brüssel, den recovery fund mit ordentlichen Mitteln zu ausgezeichneten Bedingungen durchgesetzt zu haben, ging die Regierung Conte – vermeintlich – in eine neue Phase. Das Geld aus Brüssel sollte der Opposition ebenso den Wind aus den Segeln nehmen wie der ausgebliebene Wahlerfolg der Rechten bei den Regionalwahlen: Drei zu drei hieß es am Ende, drei Regionen an Mitte-Links, drei an Mitte-Rechts und die erhoffte Übernahme der Toskana durch Matteo Salvinis Lega scheiterte gründlich.

Doch die Chance, die sich der Regierung Conte damit bot, hat sie nicht genutzt. Die Pläne, die bei der EU eingereicht werden müssen, um den recovery fund zu nutzen, sind weiterhin nicht viel mehr als eine Skizze. Conte hatte mit viel Brimborium die so genannte „Generalversammlung“ einberufen, um ein großes Zukunftspaket zu schnüren. Die Ergebnisse waren mager und führten nicht zu konkreten Plänen. Die eigentlich für solche Entwürfe zuständige Expertenkommission wurde dabei ausgebootet, ohne Gewinn.

Auch auf die Rückkehr der Pandemie hat sich die Regierung, wie nun sichtbar wird, nicht ausreichend vorbereitet. Die Wiederaufnahme des Schulbetriebs sorgte für viel Kritik, vor allem an der zuständigen Ministerin Lucia Azzalina. Sie verteidigte das Vorhaben, die Schulen unbedingt offen zu halten und kritisierte lokale Schulschließungen hart – doch auf beklagte Mängel in der Ausstattung, Vorbereitung und Personal ging sie kaum ein. Dass das Gesundheitssystem im Süden kaum in der Lage ist, auf eine Pandemie zu reagieren, das war allen bewusst – unter anderem deshalb entschied man sich im Frühjahr für einen kompletten Lockdown, um einen Kollaps im Süden und noch mehr Tote zu verhindern. Doch wie sich jetzt an Neapel zeigt, wurde die Entspannungsphase im Sommer nicht genutzt, um wenigstens die Mechanismen im Falle einer hohen Belastung klar zu regeln.

Paradoxerweise ist es nun gerade die Pandemie und der aus ihr resultierende Notstand, der das Überleben der Regierung rettet: Es braucht jetzt eine Regierung, die handeln kann, und deshalb ist nicht der Zeitpunkt, ein Kabinett umzubilden, neue Koalitionen einzugehen, ministeriale Köpfe rollen zu lassen. Niemand hätte Verständnis dafür, wie ohnehin das politische Gezerre um Vorgehen und Regeln mehr als unverständlich ist, wäre es nicht so typisch für die politische Kultur in Italien. Die 5-Sterne klammern ohnehin an der Macht, denn vom Wahlergebnis von 2018, das sie an die Regierung spülte, sind sie meilenweit entfernt. Würde demnächst gewählt, ihr Stimmanteil würde sich halbieren. Gleichzeitig ist der Koalitionspartner PD genervt, dass die 5-Sterne eine Gestaltungsmehrheit in der Regierung beanspruchen, die sie in der Gesellschaft schon lange verloren haben.

Die nicht genutzten Möglichkeiten der italiensichen Regierung, Politik zu gestalten haben dazu geführt, dass nun keine Zeit mehr ist, Politik zu gestalten. Jetzt muss reagiert, das schlimmste abgewendet werden. Über den Winter wird die Regierung Conte also aller Voraussicht nach kommen – bis ein Impfstoff kommt.

Wochenende der Entscheidung II: Was von der Verfassungsreform übrig blieb

Ein kleineres Parlament. Sonst nichts.

Die politische Gemengelage um die Regionalwahlen aus Pandemie, Ökonomie und Defiziten der Regierungsarbeit verbunden mit der eklatanten Profilschwäche der Fünf-Sterne verdeckt beinahe die weitere Entscheidung, die am Sonntag und Montag getroffen werden soll: Die Reduktion der Parlamentarier von derzeit insgesamt 945 auf 600 Personen.

Italiens Parlament besteht aus zwei Kammern, der Abgeordnetenkammer und dem Senat, die beide gleichberechtigt an der Gesetzgebung beteiligt sind. Sie erledigen praktisch dieselben Aufgaben, einmal mit 630 national gewählten Abgeordneten und auf der anderen Seite mit 315 Senatoren. Mal bringt die eine Kammer ein Gesetz ein, mal die andere, am Ende müssen beide die Entwürfe in ihren Kommissionen diskutieren und beide eine einheitliche Fassung verabschieden. Dieser Umstand ist vielfach kritisiert worden und seit Jahrzehnten mehrfach Gegenstand versuchter Reformen gewesen. Ohne Erfolg.

Mit der jetzigen Verfassungsreform sollen lediglich 400 Abgeordnete und 200 Senatorinnen im Parlament sitzen. Den Reformentwurf hatte noch die Koalition aus Fünf-Sterne und Lega eingebracht, sie überlebte allerdings die Regierungsneubildung und wurde unter der der neuen rot-gelben Mehrheit final verabschiedet. Begründet wurde sie mit den zu hohen Kosten des Politikbetriebs und dem Ziel schlankerer, effizienterer Strukturen. Selbstverständlich sind 300 Diäten, Büros, Mitarbeiterstellen und Fahrtkostenerstattungen weniger eine Kostenreduktion. Aber ist diese Reform auch politisch sinnvoll?

Unbenommen davon, dass die Reduktion auf breite Zustimmung in der Bevölkerung stößt und kaum eine Partei sie wirklich ablehnt, kann man ihre Sinnhaftigkeit durchaus hinterfragen. Pierfrancesco Casini, altgedienter Parlamentarier der kleinen christdemokratischen Partei, der an einer Vielzahl von Regierungen beteiligt war, sieht das Parlament zum Sündenbock gemacht für alles, was in der Politik, in den verschiedenen Regierungen falsch läuft. Er sei wahrlich nicht gegen eine Reformierung des Zweikammernsystems, doch eine simple Reduzierung auf eine Zahl, die sich gut verkaufen lässt – 600 – führt am Ende zu nichts. Außer, dass sie den populistischen Marketing-Strategen gefällt.

Dass sich keine der größeren Parteien gegen die Reduktion stellt, kann man als Angst vor der Wählerschaft deuten. Viel zu oft haben alle Parteien das Klischee der faulen und geldgierigen Politikerklasse bedient, die es abzuschaffen und wegzureformieren gelte. Da macht der PD – unter der damaligen Führung von Matteo Renzi – keine Ausnahme. Sich gegen eine Verringerung der Zahl der Abgeordneten zu stellen, wäre politischer Selbstmord. Viel zu gefestigt ist die Sicht, dass es sich bei diesem Berufsstand zu oft um Schmarotzer handelt. Haben das nicht gerade erst die fünf „superschlauen“ Abgeordneten gezeigt, die Corona-Hilfe beantragt haben, weil ihnen in ihrer selbstständigen Nebentätigkeit Einnahmen weggebrochen sind? Und es darf ja auch gefragt werden: Schadet die Reform denn?

Vielleicht schadet sie nicht. Die Zahl der Abgeordneten pro 100.000 Einwohner läge nach der Reform bei 0,66. Zum Vergleich: Bei verfassungsgemäßer Größe des deutschen Bundestages kämen hier 0,7 Abgeordnete auf 100.000 Einwohnerinnen. Und die Italiener haben zusätzlich noch den Senat mit 200 Mitgliedern. Je bevölkerungsreicher ein Land, desto kleiner ist diese Kennzahl, ohne dass darunter Demokratie und Repräsentation leiden müssten. Wer jetzt also – mal wieder – schreit, die Demokratie ginge zugrunde, der sollte sich zumindest nicht auf die reinen Zahlen beziehen.

Denn so wenig eine reine Reduktion tatsächlich ein effizienteres System hervorbringt, so wenig wird ein verkleinertes Parlament an sich seine Arbeitsfähigkeit verlieren. Bedenklich ist jedoch, dass hier – mal wieder – eine Verfassungsreform genutzt wurde, um sich billig der Zustimmung der Bevölkerung zu versichern. Es handelt sich um Aktionismus, der sich gut verkaufen lässt, mit dem Tatkraft, Einsparwille und Selbstkasteiung – es fallen ja auch für die eigene Partei Plätze weg – demonstriert wird. Aber an den grundlegenden Problemen des politischen Systems in Italien ändert diese Reform nichts. Weniger Personen werden die Ausschüsse besetzen, in denen dieselbe Menge an Gesetzen bearbeitet wird. Vielleicht fallen ein paar kleinere Parteien ganz raus, weil es rechnerisch nicht umsetzbar ist sie aufzunehmen. Vielleicht werden ein paar Entscheidungen deshalb schneller getroffen, oder weil keine Zeit zur intensiven Bearbeitung mehr vorhanden ist. Vielleicht werden die Regularien der beiden Kammern demnächst auf die neue Zahl angepasst und es entsteht tatsächlich ein effizienterer Modus.

Aber an der sichtbaren Oberfläche wird sich ebenso wenig ändern wie an der Instabilität der Regierungen, der ideologischen Gräben zwischen den Parteien und der Tatsache, das zwei Kammern jedes Gesetz gemeinsam verabschieden müssen. Die jetzige Reform ist Augenwischerei, nicht viel mehr. Und Augenwischerei schadet langfristig durchaus der Demokratie.

Italien und das Urteils des Bundesverfassungsgericht zur EZB

Die Richter*innen des deutschen Bundesverfassungsgerichts stellen die Praxis des Staatsanleihenkaufs der EZB in Frage, die für Italien überlebenswichtig ist.

Die Europäische Zentralbank in Frankfurt am Main.

Ein „problematisches“, ja gar „tödliches“ Urteil, , heißt es in den italienischen Medien, die hoffen, die Bundesregierung möge ein wenig gesunden Menschenverstand (buon senso) in die „unglückselige Entscheidungen“ des Bundesverfassungsgerichts bringen. Angesichts der bodenlosen, langanhaltenden Pandemie-Krise will das BVerfG nur begrenzte und verhältnismäßige Mittel einsetzen (Carlo Bastasin, Repubblica)?!

Natürlich, die Karlsruher Richter*innen urteilen nicht über Anleihenkäufe in der Corona-Krise. Aber ihr Urteil hat selbstverständlich konkrete Auswirkungen auf das Vorgehen der Europäischen Zentralbank in den nächsten Monaten und Jahren. Und in diesen kommenden Monaten ist es für kaum ein Land wie Italien entscheidend, dass die EZB an ihrem Anleihenkaufprogramm festhält, mit dem es seit der Finanzkrise die Stabilität des Euro, vor allem aber diejenigen Staaten stützt, die andernfalls noch weit höhere Risikoaufschläge für ihre Staatsanleihen zahlen müssten – bis dahin, dass sie unbezahlbar würden. Mario Draghis whatever it takes sichert Italien, das derzeit eine weit schlimmere Wirtschaftskrise erlebt als vor zehn Jahren, weiterhin das finanzpolitische Überleben. Ein Stopp des Staatsanleihenkaufs auch nur in diesem enormen Umfang, wie er derzeit praktiziert wird, hätte für Italien schwerwiegende Konsequenzen. Jetzt – in Corona-Zeiten – erst recht.

Im Zentrum der nun heiß geführten Diskussion steht – neben dem Konflikt zwischen BVerfG und EuGH, der sich seit langem anbahnte und ein anderes Kapitel ist – die Unabhängigkeit der europäischen Zentralbank. Diese würde, so die Ansicht der deutschen Kritiker*innen und auch des BVerfG, dadurch in Frage gestellt, dass die EZB letztlich verschuldeten Staaten ihr wirtschaftliches Überleben ermögliche – und ein Runterfahren des Anleihekaufs den wirtschaftlichen Kollaps dieser Länder bedeute. Dies aus diesem Grund nicht zu tun, ist aber eine (wirtschafts-)politische Entscheidung, keine finanzpolitische zur Stabilisierung der Inflation zum Beispiel.

Die andere Seite der Kritiker*innen meint vielmehr, die Unabhängigkeit der EZB würde erst durch die von Karlsruhe eingeforderte Kontrolle des Anleihekaufprogramms verletzt: Wenn Berlin Frankfurt jetzt auf die Finger guckt, dann hat es sich mit der Eigenständigkeit der europäischen Zentralbänker ja wohl erledigt. Die Bundesbank deshalb als Mittelsmann dazwischenzuschieben, um eine direkte Einflussnahme zu unterbinden, könnte für die nationale Zentralbank noch eine recht unangenehme Rolle werden.

Beide Sichtweisen und auch die Kritik des BVerfG an der europäischen Zentralbank, sie mache Wirtschaftspolitik, weisen jedoch auf dieselben Leerstellen der europäischen Finanz- und Wirtschaftspolitik: Ja, selbstverständlich – möchte man ausrufen – vergemeinschaftet die EZB Schulden und Risiken durch die Hintertür. Selbstverständlich greift sie in einem überdimensionierten Maße in die Finanzpolitik ein, mit signifikanten Folgen für die Wirtschaft im Euroraum – positiven (kein Zusammenbruch) wie negativen (verlorene Ersparnisse, Überleben nicht überlebensfähiger Unternehmen usw.). Doch warum tut sie das? Weil es bislang der beste und einzige Mechanismus ist.

Es gibt keine gemeinsame Finanzpolitik in Europa, es gibt kein europäisches Programm, das in diesem Umfang helfen kann, wie es die EZB tut. Der Stabilitätsfonds ist eine Möglichkeit, jedoch mit begrenzteren Mitteln und – vor Corona – dem Stigma des Souveränitätsverlustes. Das sind natürlich zwei Seiten einer Medaille: Wer gemeinsame Finanzpolitik will, muss Souveräntiät abgeben. Über den ESM gab aber bislang nur die Nehmerseite Souveränität ab und musste ihren Bürger*innen erklären, warum sie überall kürzen und sparen (im Gesundheitssystem zum Beispiel). Um aus dem politischen Dilemma des „wie erkläre ich das meinen Wähler*innen zuhause“, das Nord- wie Südländer umtreibt, hinauszukommen, schoben die EU-Mitgliedstaaten der Zentralbank zu viel Verantwortung zu.

Es ist richtig – sie hat kein politisches Mandat. Aber sie ist vor Jahren als Feuerwehr eingesprungen, um im Interesse aller Euro-Länder ebendiesen zu retten. In den folgenden Jahren ist zu wenig passiert, es wurde kaum eine adäquate Möglichkeit gefunden, der EZB diese Feuerlöscherrolle wieder abzunehmen. Dafür wird sie nun vom Bundesverfassungsgericht gerügt. Die richtige Reaktion der europäischen Regierungen wäre es nun, die Dringlichkeit des Problems zur umfassenden Reformierung der Euro-Zone zu nutzen. Wahrscheinlicher ist leider, dass sie sich – ihre vorurteilsbeladene und zur Zeit teils existenziell geängstige Bürgerschaft im Hintergrund – gegenseitig vorwerfen werden, egoistisch und nationalistisch zu handeln.

Italien, so finden die die Kritiker*innen aus Deutschland, solle doch einfach endlich unter den Rettungsschirm, den EMS. Das sehen inzwischen nicht wenige italienische Politiker*innen auch so, zumal die Bedingungen für die Nutzung wegen Corona deutlich abgeschwächt wurden. Doch selbst wenn sie das tun, bleibt der Staatsanleihenkauf für Italien äußerst relevant. Die 35 Miliarden sollen vor allem dem gebeutelten Gesundheitssystem zugute kommen, sind Sonderausgaben für Covid 19. Dass Covid 19 aber auch die Wirtschaft schrumpfen lässt, Sozialausgaben steigen, Steuereinnahmen verschwinden – auch das wird durch Staatsschulden irgendwie ausgeglichen werden müssen. Und derzeit liegt Italiens Rating-Einordnung kurz vor miserabel.

Natürlich, die ewige Argumentation der Deutschen, die in den vergangenen Wochen so häufig wieder zu hören war, als es um Coronabonds ging, dass da halt die „Hausaufgaben“ nicht gemacht wurden. Hättet ihr vorher euern Staatshaushalt in Ordnung gebracht und nicht erst 2018/19 Steuer- und Sozialgeschenke verteilt, ihr stündet nicht so schlecht da. Selbst schuld, zieht euch an euren eigenen Haaren wieder aus dem Schlamassel. Nur: Wie soll das jetzt gehen? Der Lockdown in Italien war – im Gegensatz zu Deutschland – tatsächlich einer. Menschen waren gezwungen, über Wochen in ihren Häusern zu bleiben. Alle nicht lebensnotwendige Produktion wurde eingestellt. Der Tourismus, von dem das ganze Land lebt, wird noch auf Monate, Jahre beeinträchtigt sein.

So sehr es auch in Italien Stimmen gibt, die für Verständnis dafür werben, dass die Nordländer – neben Deutschland etwa die Niederlande und Österreich – eben sich ihr eigenes solides Wirtschaften nicht durch Versäumnisse der anderen kaputt machen wollen: Solidarität ist eine Haltung der Starken gegenüber den Schwachen, und nicht umgekehrt. Wenn von europäischer Solidarität gesprochen wird, dann hat nicht Italien Deutschland etwas zu geben, sondern andersherum. Ein Land mit wirtschaftlichen Problemen, das die Pandemie so viel stärker getroffen hat als das ohnehin schon gut dastehende Deutschland – wer soll da mit wem solidarisch sein, wenn nicht Deutschland mit Italien?

Es wurde über die gesamte Corona-Zeit Gesten und Aussagen vermisst, die diese Haltung deutlich gemacht hätten. Es gab eher das Gegenteil. Anfangs Überheblichkeit, was die da unten eigentlich schon wieder nicht auf die Reihe kriegen mit Corona und zu so lächerlichen Maßnahmen greifen wie Schulschließungen – nur um zwei Wochen später dieselben Maßnahmen zu ergreifen. Dann kam von Europa – repräsentiert von einer deutschen Kommissionspräsidentin – erst einmal wenig an Unterstützung. Kein Zugeständnis in Sachen EMS und weiteren Hilfen, das sich die betroffenen Länder nicht mit harten Verhandlungen erstritten hätten. Solidarität und Unterstützung sieht anders aus.

In diese Stimmung fällt nun das Urteil des Bundesverfassungsgericht. Erneut ein deutscher Akteur, der meint, einer europäischen Einrichtung vorschreiben zu können wie es zu handeln hat, zum Nachteil Italiens. Eine verkürzte Sichtweise, natürlich. Gleichwohl ist es nicht nur die Aussage des Urteils über die Zweifelhaftigkeit des Anleiheprogramms, das Italien irritiert. Es ist auch die Haltung des BVerfG zum Europäischen Gerichtshof, diese offene Konkurrenz, das Absprechen einer qualitativ ausreichenden Rechtsprechung. Das BVerfG begehrt auf, doch mit welchem Zweck, mit welchen Folgen? Die italienische Corte costituzionale hat sich gegenüber der europäischen Rechtsprechung stets dezent zurückgehalten. Es gehört zu den Fundamentalprinzipien von Italiens Verfassung, dass sich die Rechtsordnung des Landes in das internationale Recht einfügt. Dies gilt umso mehr für die Europäische Union.

Seit einigen Jahren nun mehren sich allerdings die Zweifel, ob Italien die Mitgliedschaft in der EU noch zum Vorteil gereicht. Diejenigen, die das nicht so sehen, werden lauter und zahlreicher. Es irritiert daher auch die EU-Befürworter in Italien umso mehr, dass ausgerechnet Deutschland, das mit der EU so gut fährt, dem der Euroraum ebenso wie Schengen definitiv nützen, warum also ausgerechnet in diesem Deutschland das Verfassungsgericht den Aufstand probt – gegen die EZB und den EuGH.