Wochenende der Entscheidung I: Regionalwahlen in Italien

Am Sonntag und Montag finden in Italien Regionalwahlen statt und es wird über die Reduktion der Parlamentarier abgestimmt. In jedem Fall mit Konsequenzen für die Regierung.

Landschaft in der Toskana mit Zypressen
Die Idylle trügt: Die Toskana ist zur politisch heiß umkämpften Region geworden, deren Wahlausgang das Schicksal der italienischen Regierung besiegeln könnte.

Es wird ein politisch heißes verlängertes Wochenende in Italien. Es stehen Regionalwahlen an in Kampanien, Ligurien, den Marken, Apulien, im Veneto und der Toskana, in denen der Regionalspräsident gewählt wird und mit ihm die ihn unterstützende Ratsmehrheit. Zudem sind die italienischen Bürger*innen dazu aufgerufen, über die Verfassungsänderung abzustimmen, die eine Reduktion der Zahl der Parlamentarier vorsieht.

Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen die Regionalwahlen und hier insbesondere jene der Toskana. Seit fünfzig Jahren regiert hier die Linke, in ihren verschiedenen Erscheiungsformen und Parteien. Diese Konstanz war eine Gewissheit über die vielen politischen Umbrüche in Italien hinweg, die heute, im Jahr 2020, jedoch stark bröckelt: Umfragen weisen an Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen der Kandidatin der Mitte-Rechts-Koalition Susanna Ceccardi und dem PD-Kandidaten Eugenio Giani auf.

Es ist – wie so oft in den letzten Jahren – ein Kampf zwischen Stadt und Land, Zentrum und Peripherie, wie man in Italien sagt. Schon bei vorherigen Wahlen liefen dem Partito democratico im Umland der Städte die Wähler weg. Mit diesen Stimmen konnte zunächst die Fünf-Sterne-Bewegung Erfolge erzielen und große Städte wie Turin und Rom erobern. Doch die Fünf-Sterne sind in den jetzigen Wahlkämpfen nur noch eine Randnotiz. Immerhin vereinen ihre Kandidat*innen jene entscheidende Zahl an Stimmen auf sich, die dem PD am Ende fehlen werden. Doch eigene Aussichten auf Erfolg haben die Fünf-Sterne nicht mehr.

Aussicht auf Sieg hat stattdessen das Mitte-Rechts-Bündnis, angeführt von der Lega Salvinis, in deren Windschatten Fratelli d’Italia jedoch immer größer wird. Ein sovranistisch-nationalistisches Parteienbündnis, das die ehemals „rote“ Toskana führt? Es ist nicht mehr undenkbar und das spricht Bände über das Verhältnis von einfachen Arbeiter*innen, Angestellten, Landwirt*innen zur ehemaligen Volkspartei der Linken. „Das Volk“ im Sinne der unteren bis mittleren Schichten wird mittlerweile klar von der Lega adressiert – und stößt auf breite Zustimmung, auch in den Gewerkschaften.

Wie schon bei der Wahl in der Emilia-Romagna anfang des Jahres würde ein Sieg des rechten Lagers ein mittleres politisches Erdbeben auslösen, mit Führungswechseln an der Spitze des PD, mit einer signifikanten Schwächung der derzeitigen rot-gelben Regierung, deren Fortbestand in Frage stehen würde. Ob es soweit kommt, hängt davon ab, ob wie in der Emilia-Romagna noch einmal alle Kräfte mobilisiert werden. Damals gingen die „Sardinen“ auf die Straße, weniger um den PD zu stützen als vielmehr eine offen nationalistische Regierung zu verhindern. Doch nun ist da die Pandemie und vor allem deren wirtschaftliche und soziale Folgen.

Die Unzufriedenheit über vielfach zu spät freigegebene Hilfen, das langsame Anlaufen von „Sofort“-Programmen, und schlicht mit der Gesamtsituation – all dies überdeckt Grundsatzfragen der Demokratie und des Nationalismus. Im Gegenteil, die Flüchtlingsfrage kommt gerade wieder erneut auf, diesmal verbunden mit der Angst vor neu eingeschleppten Covid-19-Fällen. Eine Politik der Hilfe und des Willkommens wird nun noch kritischer gesehen. Die Beliebtheit von Ministerpräsident Giuseppe Conte, dem insgesamt ein gutes Krisenmanagement attestiert wurde und der auf europäischer Ebene Erfolge einholen konnte, spiegelt sich nicht in Umfrageergebnissen. Das ist zum einen die Kehrseite seiner Entscheidung, möglichst unparteilich über den Regierungsparteien PD und M5S zu stehen. Zum anderen ebbt der Effekt des guten Krisenmanagers ab, denn die Folgen der Pandemie halten an und es gilt neue alltägliche Herausforderungen zu bewältigen – die Schule startet wieder! Da treten Defizite hervor, die vor einigen Monaten aufgrund des Ausnahmezustands noch ignoriert worden wären.

Die Chancen stehen also so schlecht nicht für das rechte Lager, die „Belagerung von Florenz“ (La Repubblica) am Montag zu gewinnen. Was dann voraussichtlich folgt, wird fast vergessen machen, dass zugleich über eine Verfassungsreform abgestimmt wird.

Weiterlesen: Was von der Verfassungsreform übrig blieb: ein kleineres Parlament

Warum Italien den ESM nicht nutzt

Die 37 Miliarden könnten das Ende der Regierung bedeuten

Ursula von der Leyen und Giuseppe Conte bei einem Treffen im September 2019.
Ursula von der Leyen und Giuseppe Conte trennt nicht viel – nur die innenpolitische Lage in Italien.
© Europäische Union 2019.

37 Miliarden liegen auf dem Tisch. Direkt nutzbar ohne Auflagen für das italienische Gesundheitssystem, das mit dem Geld fit gemacht werden könnte für den anhaltenden Kampf gegen Covid-19. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel sagte kürzlich in einem Interview mit mehreren europäischen Zeitungen, man habe das Instrument nicht geschaffen, damit es ungenutzt bliebe.

Adressat dieses Satzes war der italienische Ministerpräsident Giuseppe Conte, der umgehend klarstellte: Über die Nutzung europäischer Hilfen entscheidet Italien allein, also er. Und er möchte derzeit nicht entscheiden. In der italienischen Presse sucht man nach den Gründen dafür, warum aus dem anpackenden Krisenmanager Conte, dessen Ansehen in der Corona-Krise deutlich gestiegen ist, nun scheinbar ein Zauderer sondergleichen geworden ist.

Viele Entscheidungen liegen auf dem Tisch der Regierung und werden nicht angegangen, was insbesondere den PD ärgert, dessen Vorsitzender Zingaretti nun Druck macht. Die vielleicht wichtigste, weil folgenschwerste Entscheidung ist die, ob Italien den „neuen“ ESM nutzen soll oder nicht. Natürlich, die 37 Miliarden täten dem gebeutelten und in den vergangenen Jahren runtergesparten Gesundheitssystem mehr als gut. Geld kann Italien, das einen Absturz von 12,8 Prozent des BIP zu verkraften hat (IWF-Prognose von Juni) und weit höhere Ausgaben im Gesundheitssektor wegen der Coronakrise stemmen muss als beispielsweise Deutschland, derzeit überall gebrauchen. Das Unverständnis darüber, dieses Instrument nicht zu nutzen, wächst – auch in Italien selbst. Schließlich hatten Gesundheitsminister Roberto Speranza und EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni erfolgreich erwirkt, dass an den Erhalt keine Bedingungen wie Strukturreformen geknüpft sind.

Doch allein das Kürzel „MES“ (für Mechanismo europeo di stabilità) sorgt bei vielen Italiener*innen für ähnliche Reflexe wie das Wort Eurobonds in Deutschland: Es steht für alles Schlechte, was von der Europäischen Union kommt. Sparzwang, Souveränitätsverlust, Brüssel-Diktat. Dass im MES/ESM längst nicht mehr steckt, was er vor zehn Jahren zur Finanzkrise enthielt – geschenkt. Ähnlich ist es mit den Corona-Bonds, gleichwohl politisch nicht durchsetzbar. Zumal die (rechten) Populist*innen in Italien sich keineswegs die Mühe machen, die Differenz transparent zu machen. Denn die mögliche Nutzung des ESM bietet die wunderbare Gelegenheit, die Regierung – die sich in der Corona-Krise recht gut geschlagen hat – als Verräter zu verunglimpfen: WIR haben immer gesagt, mit uns schlüpft Italien niemals unter den Rettungsschirm, WIR halten unsere Versprechen – diese Regierung tut es nicht. Sie sagt, sie ist gegen den ESM und bei der erstbesten Gelegenheit ist sie doch dafür. Corona ist nur ein Vorwand, uns unter das Diktat aus Brüssel zu stellen, so geht die Erzählung.

Dabei ist die Stimmung, die Matteo Salvini (Lega) und Giorgia Meloni (Fratelli d’Italia) gegen die Regierung machen, gar nicht Contes größtes Problem. Dass die Stimmung umschwenken und die Rechten wieder mehr Zustimmung in Umfragen erhalten würden, wenn er der Nutzung des ESM zustimmt, das könnte er aussitzen. Regulär stehen die nächsten regulären Wahlen erst 2023 an. Bis dahin könnten sich ja gar die positiven Effekte bemerkbar machen.

Contes Problem ist die Regierungspartei Movimento 5 Stelle (M5S). Sie bildet noch immer die stärkste Fraktion, doch ist inzwischen definitiv der schwächste Spieler auf dem politischen Feld Italiens. Seit ihrem Regierungsantritt 2018 hat sie so viele Kröten schlucken müssen und so stark an Profil verloren, dass die Entscheidung pro ESM ihr den Rest geben könnte. In der Regierung mit der Lega hatte Salvini die Fünf-Sterne faktisch in eine Statistenrolle gedrängt, in eine Konstellation, aus der nur er Kapital – in Form von Wählerzustimmung – gewinnen konnte, nicht aber die 5-Sterne-Bewegung. Zwar konnte sie ihre Prestigeprojekt, den reddito di cittadinanza, das soziale Grundeinkommen für Erwerbslose, durchsetzen, doch ein durchschlagender Erfolg war das nicht: zu kompliziert, zu bürokratisch, zu wenig Empfänger. Dann mussten sie sich im Val di Susa geschlagen geben und das OK für die Hochgeschwindigkeitsstrecke Turin-Lyon akzeptieren und damit die No-TAV-Bewegung bitter enttäuschen. Ein Glaubwürdigkeitseinbruch sondergleichen.

Der wurde praktisch nur noch getoppt durch den Eintritt in die Regierung mit dem Partito Democratico. Mai con il PD – um von dieser Haltung abkehren zu können bedurfte es schon der Intervention von höchster Stelle, von Beppe Grillo, der versuchte, die Bewegung auf neue Zeiten ein- und von alten Feindbildern abzuschwören. Neue Zeiten in der Tat, sie sind geprägt von Flügel- und individuellen Kämpfen, vom Ausfransen an den Rändern, programmatischer Orientierungslosigkeit, fehlender Führung. Giuseppe Conte, derzeit eigentlich der einzige Kandidat, der die Fünf-Sterne wirklich führen könnte, hat zu Beginn seiner zweiten Regierung darauf bestanden, als unabhängig über den beteiligten Parteien zu gelten.

Und doch kommt gerade ihm zur Zeit die Aufgabe zu, M5S irgendwie zusammenzuhalten. Der PD hat starke Minister und einen präsenten Vorsitzenden, auch wenn nicht alles rosig ist. Italia viva von Matteo Renzi hat nicht viel außer ihrem Vorsitzenden, der aber umso aktiver darin ist, M5S zu pisacken und die Regierungsbeteiligung in Frage zu stellen. Und was hat die Fünf-Sterne-Bewegung? Nichts, außer der Hoffnung, dass ein wenig Glanz vom Ministerpräsidenten Conte auf sie abfällt, dass Luigi di Maio und Giovanni di Battista sich nicht vollständig zerfleischen und es irgendwie weitergeht.

Wenn aber ebenjener Conte sagt: Wir setzen den Europäischen Stabilitätsmechanismus für Italien in Gang, dann steht M5S eben als jene Verräter am Volk da, als die sie die rechten Populisten gern hinstellen, denn auch sie waren seit jeher angetreten, den Italiener*innen „das Diktat Brüssels“ zu ersparen. Dass mit ihnen Italien niemals unter dem EMS Schutz sucht.
Auch wenn die Fünf-Sterne dieser simplen – und falschen – Argumentation entgegentreten könnten, etwas würde hängen bleiben.

Und dieses „etwas“ wäre im Falle der Fünf-Sterne wahrscheinlich schon zu viel. Ohne klare politische Linie und Führung gehen ihnen zur Zeit nicht nur die Wählerstimmen, sondern auch die Parlamentarier verloren. Insbesondere im Senat gab es mehrere Übertritte in die so genannte „gemischte Gruppe“ und zur Lega, sodass dort die Regierungsmehrheit einmal mehr am seidenen Faden hängt. Der Minister für die Beziehungen zum Parlament, Federico D’Incà, hat zur Zeit viel damit zu tun, allseits zu versichern, dass die Mehrheit steht, während Matteo Salvini (Lega) versucht, das Gegenteil heraufzubeschwören, um seiner Forderung nach baldigen Neuwahlen Nachdruck zu verleihen.

Neuwahlen inmitten der Coronakrise sind so ziemlich das letzte, was Italien braucht und Giuseppe Conte wird alles tun, um das zu verhindern – auch, weil die Mehrheitsverhältnisse alles andere als klar wären. So versucht er Zeit zu gewinnen. Zeit, in der die definitve Zusage der EU-Staaten zum Wiederaufbaufonds kommen soll, den Merkel und Macron vorgeschlagen haben. Wenn der Fonds Geld in Form von Zuschüssen statt Darlehen anbietet, kann Italiens Regierung die Hilfe der EU als tatsächliche Hilfe präsentieren – und in deren Schatten auch den ESM nutzen. Zeit, die auch dafür genutzt wird, Überzeugungsarbeit zu leisten: in der italienischen Bevölkerung, an die sich vermehrt Politiker*innen wenden, um die Bedingungslosigkeit des neuen Rettungsschirms zu unterstreichen (oder einzufordern). Und an die europäischen Nachbarn, um ihnen zu versichern: Wir brauchen das Geld, aber wir brauchen auch politische Stabilität, auch für 37 Miliarden können wir das Ende der Regierung Conte II nicht riskieren.

Italiens Rechte vereint auf der Straße

Kaum dass es wieder möglich ist, erobern die Rechten die Piazza, um allen Covid-Frust in Wut gegen die Regierung umzumünzen – in ungewöhnlichen Konstellationen.

Gestern nachmittag gingen zum ersten Mal die neofaschistischen Ultras, die in Italien einen großen Teil der hartgesottenen Fußballfans ausmachen, politisch motiviert auf die Straße: Dalle curve alla piazza, von den Rängen auf die Straße, lautete das Motto, mit dem auch hier gegen die Anti-Covid-Maßnahmen und ihre Folgen protestiert werden sollte. Es waren nicht viele – vor allem verglichen mit der Zahl an Menschen, die tags drauf sich mit den Schwarzen in den USA solidarisierte und unter anderem in Mailand gegen Rassismus auf die Straße gingen. Doch sie machten Radau, griffen Journalisten und Polizistinnen an.

Und es war nur eine rechte Demo von vielen in diesen Tagen, zu der in diesem Fall eine ungewöhnliche, weil ansonsten nicht an politischen Demonstrationen beteiligte Gruppe aufgerufen hatte. Wenige Tage zuvor hatte sich eine Allianz aus Lega, Fratelli d’Italia und schließlich auch Forza Italia, gemischt mit Anhängern der extremen Rechten sowie gefolgt von einer Versammlung der „Orange-Hemden“, der neuen Bewegung der gilet arancioni, den Festtag der Republik ausgesucht, um zu protestieren. Das Ziel ist der politischen Führung, Matteo Salvini und Giorgia Meloni, ist klar: Wieder die Bilder in den Medien dominieren, nach wochenlanger exklusiver Aufmerksamkeit für Ministerpräsident Conte und seine Regierung.

Nach Logik braucht man in diesem Zusammenhang gar nicht zu fragen. In diesem Land, mit dieser Vielzahl an Toten, den erschreckenden Bildern aus überfüllten Krankenhäusern, verzweifelten Ärztinnen und Pflegern, dem weinenden Parlamentsabgeordneten aus Bergamo, weil dort Menschen um Menschen wegstarben, in diesem Land strömen Tausende kurz nach den ersten Lockerungen auf die Straße, in der Mitte die führenden Oppositionspolitiker, ohne Abstand, teils ohne Masken, die ein Bad in der Menge nehmen: Schulter klopfen, Selfies.

Die gilet arancioni, die wie viele der anderen Anwesenden, nur besonders laut, das Ganze für eine Verschwörung halten, die sich im italienischen Fall ganz besonders gut in die Narrative der populistischen Rechten einfügen: Das Virus ist erfunden worden, um noch die letztverbliebenen Prunkstücke der italienischen Wirtschaft zu ruinieren und dann an europäische/internationale Konkurrenten zu verscherbeln; um Italien ökonomisch derart in die Knie zu zwingen, dass die Troika auch hier einmarschieren kann und nun ohne Gegenwehr.

Doch für die moderate wie die extreme Rechte geht es noch um mehr, und das hat nur sehr wenig mit Covid 19 und der Corona-Krise zu tun. Davon wird nur der zunehmende Frust, nicht selten auch die zunehmende Verzweiflung genutzt: Es geht um die Demonstration von Stärke, um die Relativierung von Tatsachen, teils um die Einschüchterung der anderen, der Journalisten zumal. Sie müssen nicht einmal wirklich in der Mehrheit sein, ein – schweigende – Mehrheit hinter sich wissen: Es genügt, wenn sie die Straße, die piazza dominieren. Damit gewinnt man nicht nur Bilder und Aufmerksamkeit. In diesen Zeiten können nur diejenigen Massen mobilisieren und den öffentlich Raum dominieren, die sich nicht um die Vorsichtsmaßnahmen scheren. Sie gefährden andere – die sich zurückziehen müssen. Im Falle der in den letzten Monaten und Jahren wieder offensiver auftretenden extremen Rechten gilt dies in „klassischer“ Weise: Wer gewaltbereit, stiernackig und breitbeinig durch die Straßen maschiert, dem stellt sich – außer der Polizei – kaum jemand entgegen.

Anfang des Jahres, mit Beginn der Corona-Krise, mehrten sich die gewalttätigen Übergriffe auf ausländisch aussehende Menschen: auf Asiaten, die stellvertretend für das Virus einschleppende Chinesen gehalten und dafür angegriffen wurden; auf Menschen mit dunkler Haut, denn auch Geflüchtete standen kurz in Verdacht – wobei es eigentlich keinen Virus als Begründung braucht, sie sind immer ein beliebtes Ziel der Rechten. Dann kam der Lockdown, es wurde ruhig um die Nationalisten, die das Land schon fast zu dominieren schienen, und für eine kurze Zeit sah es so aus, als ob die – überwiegend – gute Arbeit der Regierung und der Regionalregierungen den rechten Populisten die Show, die Themen und die Zustimmung stahl.

Nun gilt wohl dasselbe wie für umweltschädliche Emissionen: Es wird nach dem Lockdown umso mehr gepowert, alles nachgeholt und noch mehr gegeben. Da kann auch mal der stets sanft patriotische, die Nation einende Tag der Republik parteipolitisch vereinnahmt werden, in einer bislang nicht da gewesenen Aktion. Da kann alles über Bord geworfen werden, was sich Millionen Italienerinnen und Italiener durch wochenlanges Zuhausebleiben – und das war im italienischen Fall ein tatsächliches Zuhausebleiben – mühsam erkämpft haben: nämlich wenigstens mit Sicherheitsabstand und Mundschutz einander wieder halbwegs normal zu begegnen.

Wer in den Corona-Monaten die Hoffnung hegte, dass die tatsächlichen Probleme des Landes und die Politik, die dagegen engagiert und parteiübergreifend vorging, zu einer Rationalisierung des Politikbetriebs insgesamt führen und den Nationalisten den Wind aus den Segeln nehmen würde, wird nun vielleicht eines Besseren belehrt: Die ökonomische Krise, das fehlende Einkommen, die unsicheren Zukunftsaussichten – gepaart mit zunächst widerwilliger europäischer Hilfe – lassen Ressentiments und Wut wieder wachsen. Die Rechte wird nicht zögern, diese Wut für sich zu nutzen. In ungewöhnlichen Allianzen, mit unvernünftigen Mitteln, aber mit Wucht und der unschlagbaren Überzeugung: Wichtig ist, dass sie gewinnen, egal, was es kostet.

Italien und das Urteils des Bundesverfassungsgericht zur EZB

Die Richter*innen des deutschen Bundesverfassungsgerichts stellen die Praxis des Staatsanleihenkaufs der EZB in Frage, die für Italien überlebenswichtig ist.

Die Europäische Zentralbank in Frankfurt am Main.

Ein „problematisches“, ja gar „tödliches“ Urteil, , heißt es in den italienischen Medien, die hoffen, die Bundesregierung möge ein wenig gesunden Menschenverstand (buon senso) in die „unglückselige Entscheidungen“ des Bundesverfassungsgerichts bringen. Angesichts der bodenlosen, langanhaltenden Pandemie-Krise will das BVerfG nur begrenzte und verhältnismäßige Mittel einsetzen (Carlo Bastasin, Repubblica)?!

Natürlich, die Karlsruher Richter*innen urteilen nicht über Anleihenkäufe in der Corona-Krise. Aber ihr Urteil hat selbstverständlich konkrete Auswirkungen auf das Vorgehen der Europäischen Zentralbank in den nächsten Monaten und Jahren. Und in diesen kommenden Monaten ist es für kaum ein Land wie Italien entscheidend, dass die EZB an ihrem Anleihenkaufprogramm festhält, mit dem es seit der Finanzkrise die Stabilität des Euro, vor allem aber diejenigen Staaten stützt, die andernfalls noch weit höhere Risikoaufschläge für ihre Staatsanleihen zahlen müssten – bis dahin, dass sie unbezahlbar würden. Mario Draghis whatever it takes sichert Italien, das derzeit eine weit schlimmere Wirtschaftskrise erlebt als vor zehn Jahren, weiterhin das finanzpolitische Überleben. Ein Stopp des Staatsanleihenkaufs auch nur in diesem enormen Umfang, wie er derzeit praktiziert wird, hätte für Italien schwerwiegende Konsequenzen. Jetzt – in Corona-Zeiten – erst recht.

Im Zentrum der nun heiß geführten Diskussion steht – neben dem Konflikt zwischen BVerfG und EuGH, der sich seit langem anbahnte und ein anderes Kapitel ist – die Unabhängigkeit der europäischen Zentralbank. Diese würde, so die Ansicht der deutschen Kritiker*innen und auch des BVerfG, dadurch in Frage gestellt, dass die EZB letztlich verschuldeten Staaten ihr wirtschaftliches Überleben ermögliche – und ein Runterfahren des Anleihekaufs den wirtschaftlichen Kollaps dieser Länder bedeute. Dies aus diesem Grund nicht zu tun, ist aber eine (wirtschafts-)politische Entscheidung, keine finanzpolitische zur Stabilisierung der Inflation zum Beispiel.

Die andere Seite der Kritiker*innen meint vielmehr, die Unabhängigkeit der EZB würde erst durch die von Karlsruhe eingeforderte Kontrolle des Anleihekaufprogramms verletzt: Wenn Berlin Frankfurt jetzt auf die Finger guckt, dann hat es sich mit der Eigenständigkeit der europäischen Zentralbänker ja wohl erledigt. Die Bundesbank deshalb als Mittelsmann dazwischenzuschieben, um eine direkte Einflussnahme zu unterbinden, könnte für die nationale Zentralbank noch eine recht unangenehme Rolle werden.

Beide Sichtweisen und auch die Kritik des BVerfG an der europäischen Zentralbank, sie mache Wirtschaftspolitik, weisen jedoch auf dieselben Leerstellen der europäischen Finanz- und Wirtschaftspolitik: Ja, selbstverständlich – möchte man ausrufen – vergemeinschaftet die EZB Schulden und Risiken durch die Hintertür. Selbstverständlich greift sie in einem überdimensionierten Maße in die Finanzpolitik ein, mit signifikanten Folgen für die Wirtschaft im Euroraum – positiven (kein Zusammenbruch) wie negativen (verlorene Ersparnisse, Überleben nicht überlebensfähiger Unternehmen usw.). Doch warum tut sie das? Weil es bislang der beste und einzige Mechanismus ist.

Es gibt keine gemeinsame Finanzpolitik in Europa, es gibt kein europäisches Programm, das in diesem Umfang helfen kann, wie es die EZB tut. Der Stabilitätsfonds ist eine Möglichkeit, jedoch mit begrenzteren Mitteln und – vor Corona – dem Stigma des Souveränitätsverlustes. Das sind natürlich zwei Seiten einer Medaille: Wer gemeinsame Finanzpolitik will, muss Souveräntiät abgeben. Über den ESM gab aber bislang nur die Nehmerseite Souveränität ab und musste ihren Bürger*innen erklären, warum sie überall kürzen und sparen (im Gesundheitssystem zum Beispiel). Um aus dem politischen Dilemma des „wie erkläre ich das meinen Wähler*innen zuhause“, das Nord- wie Südländer umtreibt, hinauszukommen, schoben die EU-Mitgliedstaaten der Zentralbank zu viel Verantwortung zu.

Es ist richtig – sie hat kein politisches Mandat. Aber sie ist vor Jahren als Feuerwehr eingesprungen, um im Interesse aller Euro-Länder ebendiesen zu retten. In den folgenden Jahren ist zu wenig passiert, es wurde kaum eine adäquate Möglichkeit gefunden, der EZB diese Feuerlöscherrolle wieder abzunehmen. Dafür wird sie nun vom Bundesverfassungsgericht gerügt. Die richtige Reaktion der europäischen Regierungen wäre es nun, die Dringlichkeit des Problems zur umfassenden Reformierung der Euro-Zone zu nutzen. Wahrscheinlicher ist leider, dass sie sich – ihre vorurteilsbeladene und zur Zeit teils existenziell geängstige Bürgerschaft im Hintergrund – gegenseitig vorwerfen werden, egoistisch und nationalistisch zu handeln.

Italien, so finden die die Kritiker*innen aus Deutschland, solle doch einfach endlich unter den Rettungsschirm, den EMS. Das sehen inzwischen nicht wenige italienische Politiker*innen auch so, zumal die Bedingungen für die Nutzung wegen Corona deutlich abgeschwächt wurden. Doch selbst wenn sie das tun, bleibt der Staatsanleihenkauf für Italien äußerst relevant. Die 35 Miliarden sollen vor allem dem gebeutelten Gesundheitssystem zugute kommen, sind Sonderausgaben für Covid 19. Dass Covid 19 aber auch die Wirtschaft schrumpfen lässt, Sozialausgaben steigen, Steuereinnahmen verschwinden – auch das wird durch Staatsschulden irgendwie ausgeglichen werden müssen. Und derzeit liegt Italiens Rating-Einordnung kurz vor miserabel.

Natürlich, die ewige Argumentation der Deutschen, die in den vergangenen Wochen so häufig wieder zu hören war, als es um Coronabonds ging, dass da halt die „Hausaufgaben“ nicht gemacht wurden. Hättet ihr vorher euern Staatshaushalt in Ordnung gebracht und nicht erst 2018/19 Steuer- und Sozialgeschenke verteilt, ihr stündet nicht so schlecht da. Selbst schuld, zieht euch an euren eigenen Haaren wieder aus dem Schlamassel. Nur: Wie soll das jetzt gehen? Der Lockdown in Italien war – im Gegensatz zu Deutschland – tatsächlich einer. Menschen waren gezwungen, über Wochen in ihren Häusern zu bleiben. Alle nicht lebensnotwendige Produktion wurde eingestellt. Der Tourismus, von dem das ganze Land lebt, wird noch auf Monate, Jahre beeinträchtigt sein.

So sehr es auch in Italien Stimmen gibt, die für Verständnis dafür werben, dass die Nordländer – neben Deutschland etwa die Niederlande und Österreich – eben sich ihr eigenes solides Wirtschaften nicht durch Versäumnisse der anderen kaputt machen wollen: Solidarität ist eine Haltung der Starken gegenüber den Schwachen, und nicht umgekehrt. Wenn von europäischer Solidarität gesprochen wird, dann hat nicht Italien Deutschland etwas zu geben, sondern andersherum. Ein Land mit wirtschaftlichen Problemen, das die Pandemie so viel stärker getroffen hat als das ohnehin schon gut dastehende Deutschland – wer soll da mit wem solidarisch sein, wenn nicht Deutschland mit Italien?

Es wurde über die gesamte Corona-Zeit Gesten und Aussagen vermisst, die diese Haltung deutlich gemacht hätten. Es gab eher das Gegenteil. Anfangs Überheblichkeit, was die da unten eigentlich schon wieder nicht auf die Reihe kriegen mit Corona und zu so lächerlichen Maßnahmen greifen wie Schulschließungen – nur um zwei Wochen später dieselben Maßnahmen zu ergreifen. Dann kam von Europa – repräsentiert von einer deutschen Kommissionspräsidentin – erst einmal wenig an Unterstützung. Kein Zugeständnis in Sachen EMS und weiteren Hilfen, das sich die betroffenen Länder nicht mit harten Verhandlungen erstritten hätten. Solidarität und Unterstützung sieht anders aus.

In diese Stimmung fällt nun das Urteil des Bundesverfassungsgericht. Erneut ein deutscher Akteur, der meint, einer europäischen Einrichtung vorschreiben zu können wie es zu handeln hat, zum Nachteil Italiens. Eine verkürzte Sichtweise, natürlich. Gleichwohl ist es nicht nur die Aussage des Urteils über die Zweifelhaftigkeit des Anleiheprogramms, das Italien irritiert. Es ist auch die Haltung des BVerfG zum Europäischen Gerichtshof, diese offene Konkurrenz, das Absprechen einer qualitativ ausreichenden Rechtsprechung. Das BVerfG begehrt auf, doch mit welchem Zweck, mit welchen Folgen? Die italienische Corte costituzionale hat sich gegenüber der europäischen Rechtsprechung stets dezent zurückgehalten. Es gehört zu den Fundamentalprinzipien von Italiens Verfassung, dass sich die Rechtsordnung des Landes in das internationale Recht einfügt. Dies gilt umso mehr für die Europäische Union.

Seit einigen Jahren nun mehren sich allerdings die Zweifel, ob Italien die Mitgliedschaft in der EU noch zum Vorteil gereicht. Diejenigen, die das nicht so sehen, werden lauter und zahlreicher. Es irritiert daher auch die EU-Befürworter in Italien umso mehr, dass ausgerechnet Deutschland, das mit der EU so gut fährt, dem der Euroraum ebenso wie Schengen definitiv nützen, warum also ausgerechnet in diesem Deutschland das Verfassungsgericht den Aufstand probt – gegen die EZB und den EuGH.

Die Sardinen und die Regionalwahl in der Emilia-Romagna

Bislang sind die „Sardinen“ präsent auf den Plätzen Italiens. Aber um wirklich wirkungsvoll zu sein, muss ihr Anliegen in die Parlamente.

Flash Mob der Sardinen in Bologna am 14. November 2019. CC BY 2.0

Italien hat eine neue Bewegung. Parteipolitisch ungebunden, vereint in der drängenden Sorge, eine Regierung der Lega Matteo Salvinis zu verhindern. Am Sonntag wird in der Emilia-Romagna gewählt, einer Region, die seit jeher im traditionell „roten Gürtel“ Italiens liegt. Noch. Denn der Erfolg der Lega weitet sich aus und hat zuletzt Umbrien ergriffen. Fällt am Sonntag die nächste Bastion der Linken? Kann sich dann noch die nationale Regierung in Rom halten? Und was passiert mit Italien, sollte Salvini dann Regierungschef wählen?

Die „Sardinen“ befürchten: Nichts Gutes. Ein Abdriften in autokratische, autoritäre Politik, in einen neuen Nationalismus, einen neuen Faschismus. Während Europa sich darum sorgt, dass dann ein weiteres Land der EU den Europakritikern in die Hände fällt, geht es den Sardinen um viel mehr. Salvini bedroht die liberale, pluralistische Gesellschaft, die Heterogenität der Ethnien, der politischen Meinungen, der kulturellen Identitäten. Deshalb gehen sie auf die Straße, deshalb wollen sie mehr sein, sie wollen sich und den anderen vergewissern, dass Italien weiterhin pluralistisch bleibt und niemals wieder einem Mann, einer Partei „alle Gewalt“, pieni poteri, in die Hände gibt.

Pieni poteri, die hatte Salvini im vergangenen Herbst für sich gefordert und für einen kurzen Moment alle andere politischen Akteure vereint gegen sich aufgebracht, was in der Regierungsbildung aus PD und M5S mündete sowie der viel gerühmten Rede Giuseppe Contes zum Regierungsantritt, in der er in seltener Klarheit die demokratischen und rechtsstaatlichen Institutionen Italiens verteidigte.

Die Institutionen. Sie sind der Knackpunkt, auch für die Sardinen. Denn einerseits wollen und sollen sie vor jemandem geschützt werden wie Salvini, der proklamiert, sich ihrer nach Gutdünken bedienen zu können. Und gleichzeitig herrscht in Italien, auch bei denen, die sich nun wie Sardinen in der Dose auf den Piazzen der Republik drängen, ein großes Misstrauen gegenüber denen, die diese Institutionen „besetzen“. Die Fünf-Sterne-Bewegung hat massiv an Wählerzuspruch verloren, seit sie – ganz im Sinne des institutionellen Systems in Italien – im Herbst 2019 den Koalitionspartner wechselte und mit einer neuen parlamentarischen Mehrheit eine neue Regierung bildete. Nichts ist verwerflicherim Lager der Sterne als sich nicht von seinen gut dotierten Sesseln, den poltrone, trennen zu können.

Und nicht nur die Fünf-Sterne schwächeln. Auch der Partito Democratico tut sich schwer mit seiner – zu früh prognostizierten – Wiederauferstehung. Die Wählerinnen, die verloren gingen, kommen (noch) nicht zurück. Zu groß ist der Vertrauensverlust, weil über Jahre und Jahrzehnte nicht die Herzensangelegenheiten der Wählerschaft angegangen wurden: Fehlte es zunächst an klaren Maßnahmen gegen die Vereinnahmung der Republik durch den Unternehmer Berlusconi, waren es im vergangenen Jahrzehnt die schmerzhaften Reformen an Rente und Arbeitsmarkt, welche die linke Wählerschaft zunehmend entfremdeten. Hinzu kam auch hier das Um-sich-selbst-kreisen der Parteiführung, denen es mehr um Macht und Einfluss in der Partei ging als um die politische Programme, die das Land voranbringen.

Nun wird Protest auf der Straße aber nicht dazu führen, eine Regierung der Lega zu verhindern, wenn er sich nicht zugleich in Wählerstimmen für andere Parteien ausdrückt. Dabei kommt erschwerend hinzu, dass in der Emilia Romagna wie in den anderen Regionen ein präsidiales Wahlsystem herrscht: The winner takes it all. Eine Koalitionsregierung der schwächeren Parteien gegen einen Wahlsieger Lega – und sei der Vorsprung noch so knapp – ist nicht möglich. Die stärkste Kraft stellt den Regionspräsidenten und erhält eine Mehrheitsprämie, die die absolute Mehrheit sichert. Der „Fall“ der roten Emilia Romagna aber wäre von einer Symbolkraft, die auch in Rom nicht ignoriert werden könnte.

Und die Sorgen der Sardinen sind keinesfalls unberechtigt: Von einer Lega-Regierung droht vielleicht kein wirtschaftspolitisches Irrlichtern wie von den Fünf-Sternen, wenn sie erst einmal in Regierungsverantwortung sind, sehr wohl aber ein weiteres Abschleifen der demokratisch-rechtsstaatlichen Standards, die in Italien seit Jahren schwinden. Fehlende Akzeptanz des politischen Gegners, ein Alleinvertretungsanspruch der „wahren“ Italiener, die nicht nur Migrantinnen ins Abseits stellt, sondern grundsätzlich eine kulturelle und politische Hegemonie postuliert. Was Salvini bremsen könnte, wäre womöglich just das institutionelle System, das auf nationaler Ebene das Regieren nicht gerade erleichtert.

Die Krux aber bleibt: So lebendig sich die italienische Zivilgesellschaft von links bis moderat gerade zeigt, indem sie binnen kürzester Zeit eine neue Bewegung geschaffen hat, die wirklich zahlreiche Menschen – trotz schlechten Wetters – auf die Straße bringt, so sehr wird sie wirkungslos bleiben, wenn sie es nicht schafft, sich an die demokratischen Institutionen anzudocken. Dass die Risiken für diesen Weg hoch sind, zeigt nicht zuletzt das Schicksal der Fünf-Sterne, die ebenfalls auf den Piazzen der italienischen Republik entstanden sind. Und dennoch muss dieser Weg gegangen werden.

Contes später Befreiungsschlag

Italiens Ministerpräsident Conte nutzt die Freiheit, die ihm sein Rücktritt verschafft, um Matteo Salvini harsch zu kritisieren. Zu Recht. Doch die Abwertung parlamentarischer und konstitutioneller Werte und Strukturen hat nicht allein Salvini zu verantworten.

Giuseppe Conte hatte in Jean-Claude Juncker sicher oft einen einfacheren Gesprächspartner als mit dem Kabinettskollegen Matteo Salvini. Foto: European Union, 2018

Es scheint, als habe Giuseppe Conte in seiner Rede im italienischen Senat endlich die Worte gefunden, auf die viele Italiener*innen und viele ausländische Beobachter schon lange gewartet haben: Klare, eindeutige Worte, mit denen er die Umgangsformen, den Verhandlungsstil, die demokratiezersetzende Rhetorik von Innenminister Matteo Salvini scharf kritisierte. Dabei ließ sich Conte nie auf das Niveau seines politischen Kontrahenten hinab, der eigentlich sein Regierungspartner sein sollte. Conte selbst war häufig genug den herablassenden Attacken des Lega-Chefs Salvinis ausgesetzt gewesen, der nicht nur ständig im Wahlkampfmodus war, sondern auch für einen Wahlkämpfer oft genug Takt und Anstand vermissen ließ.

Wie schwer auszuhalten es gewesen sein muss, die taktischen Spielchen, die unehrliche, auf größtmögliche Wählerunterstützung ausgerichte Kommunikation Salvinis in der Regierungsarbeit auszuhalten, davon konnte man in Contes Rede einen deutlichen Eindruck gewinnen.

Conte zahlte es Salvini nun, da er als Ministerpräsident so gut wie Geschichte ist, zurück, indem er – endlich! – aufzeigte, wie wenig Salvinis Gebaren mit verantwortungsvoller Regierung vereinbar ist. Indem Salvini Ministerkolleg*innen öffentlicher heruntermachte; indem er sich in deren Ressorts einmischte; selten die offiziellen und internen Wege nutzte, sondern stets über die socials und Kameras kommunizierte; indem er ganz offensichtlich den Zeitpunkt für die Auflösung der Zusammenarbeit nach wahltaktischen Gesichtspunkten wählte – all das schadete dem Ansehen der demokratischen Institutionen, wie Conte betonte. Salvini macht Politik, die sich einzig und allein nach seinen persönlichen Interessen (Macht!) und nach der Stimmung der Umfragen orientiert. Auf kurz oder lang zerstört so eine Haltung das, was vom Vertrauen in die Institutionen in Italien noch übrig ist. Denn noch mag eine Vielzahl der Italiener*innen Salvini folgen, doch wenn die Zuneigung einmal erlischt – wie es etwa Matteo Renzi erleben musste – werden sie sofort und desillusioniert erkennen, dass er wenig für das Land, aber viel für seine Person getan hat.

Conte kritisierte in seiner Rede auch endlich, dass Salvini stets ablehnte, sich vor dem Senat zu den Vorwürfen aus der Russland-Affäre zu äußern. Diese Verweigerungshaltung zeige seinen fehlenden Respekt vor den Institutionen und seine mangelnde Verfassungskultur. Viel härter kann man einen Minister nicht kritisieren, und dabei dennoch die Form wahren. Und es ist richtig, in allen Belangen: Salvini schadet Italiens Demokratie, er schadet dem Ansehen der Institutionen und Ämter, weil er, selbst in einem hohen Amt, jegliche Demut und jeglichen Respekt vor Verfahren, Pflichten und Gepflogenheiten vermissen lässt. Natürlich, die Menschen lieben ihn dafür. Doch was im Hintergrund dieses offen zur Schau gestellten me ne frega, „ist mir egal“ zerrieben wird, sind die Grundwerte einer liberalen Demokratie: Volkssouveränität ja, aber eben auch ein Garantiesystem aus Verfahren und institutioneller Verantwortlichkeit, gegenüber den anderen Institutionen und gegenüber der Bevölkerung. Sie sorgen dafür, dass eine temporäre Mehrheit nicht allmächtig wird und dass die Vorhaben dieser Mehrheit kritisiert, hinterfragt, kontrolliert werden können. Diese grundlegenden Verfassungswerte brachte Giuseppe Conte gegen Salvinis von der piazza gestützten Souveränismus an.

Das war überfällig. Bis dahin hatten sich niemand in der Regierung, auch der Koalitionspartner Fünf Sterne nie in dieser Deutlichkeit gegen Salvinis neo-faschistisches, souveränistisches Gebaren gewandt. Vielleicht intern, jedoch nicht in der Form, der es bedurft hätte, nach außen. Aus Eigeninteresse, Angst vor Machtverlust, hoffentlich nicht aus fehlender Überzeugung haben sie die Grundwerte der parlamentarischen Demokratie Italiens nie verteidigt gegen Salvinis „Ich und das Volk“, das er direkt auf der Straße oder vermittelt über Social Media vor sich her trägt. Und noch etwas wichtiges hat Conte kritisiert: Salvinis Verwendung religiöser Symbole. Dass Salvini missbräuchliche, weil von religiösen Inhalten vollständig entleerte Verwendung christlicher Symbole wie den Rosenkranz und das Kruzifix beleidige die Gläubigen und gefährde zugleich die staatliche Laizität, so Ministerpräsident Conte in seiner Rede. Auch das war eine in ihrer Klarheit wichtige Kritik, den Italiens Verfassung garantiert nicht nur die Religionsfreiheit, ihr steht es auch unter dem Gesichtspunkt der Internationalität und der Laizität diametral entgegen, religiöse Symbole in eins zu setzen mit nationaler Symbolik und der Narration eines „Wir gegen Die“. Wobei das „Die“ den Papst mit einschließt.

Verantwortung im Amt, instiutionelles Gleichgewicht, Laizität, Achtung des Parlaments und Austragung politischer Konflikte in eben diesem Parlament – all diese Aspekte der konstitutionellen Demokratie Italiens sind in den letzten Monaten geschwächt worden, und Giuseppe Conte hat in Matteo Salvini sicherlich den richtigen Adressaten für seine Kritik gefunden. Und dennoch: Die gesamte Regierung hat es an ehrlicher Auseinandersetzung im Parlament – statt auf facebook und twitter – vermissen lassen. Das Misstrauen war gegenseitig, die Misstöne auch. Wenn jetzt Conte dem Innenminister vorwirft, verantwortungslos zu sein, weil sich die Regierungskrise mit den Haushaltsverhandlungen überschneidet, so reibt man sich verwundert die Augen: Die gesamte Regierung hatte in ihrer 14-monatigen Amtszeit wenig darauf gegeben, verantwortungsvolle Haushaltsdebatten zu führen. Nun sagt Conte, es sei nicht zu verantworten, dass Italien ohne mit der EU abgestimmten Haushalt dastünde, gezwungen wäre, die Mehrwertsteuer zu erhöhen und zugleich einen Anstieg des spread in Kauf nehmen müsse. Doch all das, was die Regierung in ihrer Amtszeit abgeliefert hat, all die schädlichen Äußerungen auch von Luigi Di Maio und Kollegen, haben fast zu einem Defizitverfahren der EU und sicher zu manchem Sprung des spread, des Zinsaufschlags, geführt. Monatelang haben externe Kritiker der Regierung in Sachen Wirtschafts- und Finanzpolitik genau dies vorgeworfen: Verantwortungslosigkeit. Auch wenn Conte und Finanzminister Tria diejenigen waren, die hier versucht haben, gegenzusteuern: Dass Salvini dieser Regierung nun ein Ende setzt, kann unter finanzpolitischen Gesichtspunkten fast mit Erleichterung aufgefasst werden.

Salvinis Demokratieverständnis, oder besser: seine demokratische performance, sind eine Gefahr für die liberale Demokratie und deshalb war es imminent wichtig, dass Ministerpräsident Conte endlich laut ausgesprochen hat, was ihm offenbar schon seit Monaten auf der Seele lag. Doch Conte selbst scheidet demnächst aus. Ob er eine mögliche neue Regierung führen wird, ist mehr als fraglich. Wer folgt ihm nach, der oder die in ebensolcher Klarheit Salvini die Stirn bieten kann? Die Fünf Sterne haben sich das nie wirklich getraut. Sie haben selbst in den vergangenen Jahren eine eher konfuse Vorstellung von den demokratischen Werten der Verfassung repräsentiert. Etwa indem sie Personalentscheidungen via Rousseau abstimmen lassen, einer elektronischen Plattform, auf der nur wenige, zahlende Mitglieder abstimmen können. Oder als sie in einer Protestaktion die Verfassung auf ihre Plätze im Parlament legten und den Saal verließen, als die Regierung Letta vereidigt werden sollte: Die Fünf Sterne fanden, nach Matteo Renzis Rücktritt hätte es Neuwahlen geben müssen – etwas, das die parlamentarisch geprägte Verfassung Italien genau nicht vorsieht. Ebenso wie in der jetzigen Situation. Die Werte der Verfassung macht sich in Italien zur Zeit leider nur der zu eigen, der davon profitiert.

Und die Demokraten? Der PD präsentierte sich bis vor wenigen Tagen erneut mit Flügelkämpfen und Taktikspielchen. Es wäre zu wünschen, dass die Demokraten als einzig verbliebene moderate Kraft mit klaren Worten und der Inbrunst der Überzeugung für das parlamentarische System Italiens einträten, für den Wert von Verhandlungen und Kompromissen in einem schon immer politische gespaltenen Italien. Doch es bleibt abzuwarten, ob der PD die innere Spaltung und die inneren Machtkämpfe überwinden kann. Welches Ergebnis Koalitionsverhandlungen oder Neuwahlen auch immer bringen mögen, es ist noch lange nicht gesagt, dass sich Italiens Demokratie konsolidiert, selbst wenn Salvini und seine Lega nicht an einer Regierung beteiligt sein sollten.

Was jetzt Salvini noch stoppen könnte

M5S, PD und FI diskutieren über Verfassungsänderung und Änderung des Wahlgesetzes

Politisch heiße Zeiten in Italiens Hauptstadt Rom. Alle Zeichen deuten auf Neuwahlen – oder doch nicht?! Bild: Pixabay

Während Matteo Salvini überall tönt, dass es so schnell wie möglich an die Wahlurnen gehen soll, formiert sich langsam und im Hintergrund eine neue, eigentümliche Allianz: Fünf-Sterne-Bewegung, der linke und der Renzi-Flügel der PD, sogar Berlusconis Forza Italia finden plötzlich ein gemeinsames Ziel, denn sie alle wollen Neuwahlen erst einmal verhindern und so lange wie möglich rauszögern.

Der Hauptgrund: Bei Neuwahlen hätte zur Zeit nur die Lega etwas zu gewinnen. Und bei manchem mag neben Eigeninteressen auch die Sorge mitschwingen, was aus Italien würde, sollte Salvini tatsächlich fünf Jahre lang allein regieren.

Allerdings ist das Ziel, Neuwahlen hinauszuzögern, so ziemlich das einzige, worauf sich die verschiedenen Parteien einigen können. Deshalb ist es höchst unwahrscheinlich, dass sich nach dem Sturz der jetzigen Regierung eine neue Mehrheit finden wird, um den Rest der noch langen Legislatur gemeinsam zu Ende zu bringen. Deshalb denken die politischen Kontrahenten über ein governo costituzionale, eine „Verfassungsregierung“ nach.

Ihre Aufgabe wäre es, den laufenden Gesetzgebungsprozess zur Änderung der Verfassung zu Ende zu bringen, mit dem die Zahl der Parlamentarier*innen reduziert wird. Eine Herzensangelegenheit der Fünf-Sterne – ebenso wie übrigens die Abstimmung zur Hochgeschwindigkeitsstrecke Torino-Lione (TAV), die Auslöser für die jetzige Regierungskrise war. Die Fünf-Sterne scheinen zu verstehen, dass sie an ihren Inhalten festhalten müssen, wollen sie politisch irgendwie überleben.

Die Verfassungsänderung zu Ende bringen und, als Entgegenkommen für den Partito Democratico, gleich noch eine Änderung des Wahlgesetzes hinterher schieben – das wären die Aufgaben der neu zu bildenden Regierung. Wenn dies erledigt ist, würde man zu Neuwahlen schreiten. Mit einem Verhältniswahlrecht, geht es nach den Vorstellungen von PD und M5S. Die Hoffnung ist, dass mit der Zeit und dem neuen Wahlrecht die derzeit überbordenden Chancen von Salvini eingedämmt werden können.

So vage diese Hoffnung ist, so kritisch muss dieses Vorhaben betrachtet werden: Hier soll in kürzester Zeit erneut das Wahlgesetz geändert (nach 2015 und 2017) und eine Verfassungsänderung verabschiedet werden, der sich der PD bislang immer entgegengestellt hat. Verfassungsänderung als taktisches Manöver, um Wahlchancen zu verbessern? Erneut werden die Grundlagen des demokratischen Staates in Italien zum Spielball politischer Interessen.

Maike Heber