5-Sterne: zurück in die Zukunft?

5-Sterne-Gründer Beppe Grillo serviert Giuseppe Conte ab.
Update: Ein Schlichtungsversuch gegen die Spaltung

Giuseppe Conte mit Ursula von der Leyen als er noch Ministerpräsident Italiens war. Mit 5-Sterne Gründer Beppe Grillo konnte er sich auf keine Reformierung der Bewegung einigen.

Die Reaktion ließ auf sich warten – und dann kam sie heftig. Auf den Vorschlag des ehemaligen Ministerpräsidenten Giuseppe Conte, wie die 5-Sterne-Bewegung strukturell reformiert werden könnte, kam von Beppe Grillo zunächst keine Antwort. Einige deuteten das als gutes Zeichen, andere waren skeptischer: Conte hatte Grillo ein Ultimatum gestellt und dessen Rolle als Garant der Bewegung klar und eng eingrenzen wollen, schwer vorstellbar, dass dies beim exzentrischen Ex-Komiker keine Abwehrreflexe hervorrufen sollte.

Gestern Abend dann schrieb Grillo auf seinem Blog und fällte ein vernichtendes Urteil über den ehemaligen Ministerpräsidenten: keine politische Vision, keine Managerqualitäten, kurzum nicht die geeignete Person für einen politischen Neuanfang. Im Zentrum seiner Kritik steht, neben Conte als Person, die vermeintliche Neuausrichtung der 5-Sterne auf eine Person, den neu zu schaffenden Vorsitzenden. Grillo führt den orginiär horizontalen Charakter der Bewegung ins Feld, der sich nicht mit der Delegation von Entscheidungen auf Einzelpersonen vertrage. „Ein Entwurf, und weg damit“ lautet der Titel seines Blog-Beitrags, womit er den von Conte erarbeitete Vorlage zur Strukturreform buchstäblich in den Papierkorb warf.

Horizontale Basisdemokratie statt leadership. Grillo akzeptiert nur sich selbst als Anführer.

Laut Grillo soll also die gemeinschaftliche Debatte und Entscheidung gestärkt werden, eine gemeinsame Neuausrichtung durch die Beteiligung aller gefunden werden. Es ist ein Zurück zu den Wurzeln, bei dem die breite, aber diffuse Mitgestaltung „aller“ im Vordergrund steht, ohne jedoch das Problem zu beheben, das die 5-Sterne seither mit sich tragen: Entscheiden wirklich alle, oder wird vielmehr nur ratifiziert, was eine nicht legitimierte Führungsspitze bereits entschieden hat? Das Horizontale der Bewegung ist zugleich das Atomisierte, die Beteiligung aller ermöglicht augenscheinlich basisdemokratische Entscheidungen. Tatsächlich eröffnet sie undefinierten Spielraum für die – undefinierte – Führungsschicht der Bewegung, insbesondere für den „Garanten“ Beppe Grillo.

Ein weiteres Zeichen, dass an alte Zeiten angeknüpft werden soll, ist, dass die nun bevorstehende Abstimmung zur Besetzung des Direktoriums – ein Gremium, dessen Einrichtung schon vor längerer Zeit beschlossen, aber nicht umgesetzt wurde – über die Plattform Rousseau erfolgen soll. Von dieser Plattform und deren Betreiber Davide Casaleggio hatten sich die 5-Sterne, unter Federführung von Giuseppe Conte, erst kürzlich getrennt. Diese Plattform steht wie kaum ein anderes Merkmal für die demokratische Ambivalenz der 5-Sterne: maximal gleichberechtigte Beteiligung aller an den zentralen Entscheidungen bei gleichzeitiger größter Intransparenz der Daten der Eingeschriebenen, über die allein der Associazione Rousseau und damit Casaleggio junior verfügte, sonst aber niemand im Movimento.

Giuseppe Conte wollte dagegen innere Strukturen und Entscheidungsprozesse aufbauen, die für mehr Verlässlichkeit und auch nachvollziehbar demokratische Legitimation sorgen. Er hätte damit die 5-Sterne den anderen Parteien, überhaupt der Organisationsform Partei angenähert, zu einer repräsentativ organisierten Partei. Damit wären die 5-Sterne zu einem strukturierteren Player in der nationalen Politik geworden, hätte gegebenenfalls den Mechanismus gebremst, dass die Bewegung unter dem Druck der politischen Prozesse und Systemzwänge immer weiter zerfaserte und zerfiel. Zugleich wäre es eine Abkehr von allem gewesen, wofür die Bewegung einst stand.

Gleichzeitig hat Grillos Argument etwas für sich, dass mit der Einrichtung eines Vorsitzenden und der Fokussierung auf Conte zwar ein Wahlerfolg wahrscheinlicher geworden wäre, das langfristige Überleben der 5-Sterne jedoch längst nicht gesichert gewesen wäre. Auch hier wäre die Personalisierung stark gewesen, wäre Wohl und Wehe von der einen populären Figur abhängig gewesen. Sich dem Beispiel der anderen Parteien anzunähern, heißt in Italien – und nicht nur dort – vor allem das leadership-Modell zu wählen. Es gibt einen leader, der oder die die Programmatik bestimmt, ohne die nichts geht in der Partei und die den direkten Draht via social media zum (Wahl-)Volk sucht. Interne Parteigremien sind loyal besetzt und fungieren eher als Abstimmungsmaschinerie denn als innerparteiliche Willens- und Meinungsbildungsorgane. Der Bestand und Erfolg dieser Parteien hängt so sehr von der Führungsperson ab, dass nicht selten mit deren sinkendem Stern – und das kann in einer populistisch geprägten Politik recht schnell gehen – die Existenz der ganzen Organisation auf dem Spiel steht. Abspaltungen, Umbenennungen, Neugründungen sind die Folge.

Dies kann und sollte im demokratisch-repräsentativen Sinne nicht das Ziel sein. Grillos Weg der Wiederbelebung des horizontalen Ansatzes verspricht jedoch nicht der demokratischere zu sein. Denn letztlich war die Auseinandersetzung um das neue Statut des Movimento 5 Stelle nicht zuletzt ein Machtkampf zwischen dem Gründer und dem ehemaligen Ministerpräsidenten. Letzterer wollte kein „halber Chef“ sein, ersterer wollte seine Position als Letztentscheider nicht hergeben. Die Personalisierung politischer Entscheidungen ist in Italien allgegenwärtig.

Update: Parlamentarier:innen der 5-Sterne machen einen Vorstoß zur Schlichtung

Der Konflikt zwischen den machtvollen Streithähnen Beppo Grillo und Giuseppe Conte musste erst öffentlich eskalieren, ehe einige andere große Namen – unter anderen Luigi di Maio und Vito Crimi – aus Fraktionen, Ministerien und Parteigremien geschlossen intervenierten. Angesichts der Zuspitzung der persönlichen Auseinandersetzung stand die Spaltung der Bewegung zu befürchten – und in Italien kennt man nur zu gut das Schicksal der Klein- und Kleinstparteien, die sich mit prominenten Anführer:innen von der „Mutter“ abgespalten haben. Für sie endet es meist in der Bedeutungslosigkeit, doch auch die Hauptorganisation wird geschwächt.

Die Parlamentarier:innen der 5-Sterne hätten nur ihre Kolleg:innen vom PD oder Forza Italia fragen müssen, sofern ihnen die eigene Abspaltung im Zuge der Regierungsbildung Draghi nicht schon genügte. Also ging es darum, die Egomanen zu bändigen und ihnen nicht nur vor Augen zu führen, was auf dem Spiel steht, sondern auch, dass die 5-Sterne eben keine Ein-Mann-Bewegung sind, in der einer mal eben allein entscheidet. Nun ist die Wahl des Direktivkommitees erst einmal ausgesetzt, ebenso die Frage, ob dieses nun auf der Plattform Roussea (wo die Daten der 5-Sterne-Mitglieder nicht mehr liegen) oder auf einer anderen Plattform stattfindet (was nach Statut nicht möglich ist).

Stattdessen soll sich ein siebenköpfiges, informelles Gremium aus Repräsentant:innen aller institutioneller Ebenen der 5-Sterne Contes Entwurf für ein reformiertes Statut anschauen und Änderungen verhandeln. Mit diesem Schritt ist sehr wahrscheinlich geworden, dass es letztlich doch noch eine Einigung geben wird. Der Schaden ist aber bereits entstanden. Wie Beppe Grillo und Giuseppe Conte nach der öffentlichen Schlammschlacht noch ein überzeugendes Führungsduo bilden sollen, bleibt mehr als fraglich.

Vom Tisch scheint jedenfalls ein Alleingang Contes, der mit der Gründung einer eigenen Wahlliste oder Partei liebäugelte. Es waren nicht viele bereit ihm zu folgen – womit ihm das Schicksal einer darbenden Kleinstpartei von vornherein erspart blieb. Wie viel politisches Gewicht er noch haben kann, nach dieser öffentlichen Demontage, die erneut seine politische Vision in Frage stellte, bleibt fraglich. Contes letzte Regierung war schon an offenkundiger Ideenlosigkeit und fehlender Programmatik gescheitert, die Matteo Renzi damals genüsslich sezierte. Grillos Vorwürfe klangen nun ähnlich. Und auch wenn es sich in beiden Fällen um vornehmlich Machtgerangel, denn um inhaltliche Auseinandersetzung handelte, die Chancen, dass Giuseppe Conte bei der nächsten Wahl das linke Lager anführen wird, sind nicht gerade gestiegen.

Draghis Plan für das Italien von morgen

Mario Draghi stellte heute im Parlament den „Nationalen Plan für Aufbau und Resilienz“ vor.

Es ist das Dokument, für das Mario Draghi zum Ministerpräsidenten Italiens berufen wurde. Es ist der Plan, der seinen Vorgänger Giuseppe Conte das Amt kostete. Es sind 270 Seiten, die die Zukunft Italiens skizzieren. So jedenfalls beschrieb es Mario Draghi in seiner Rede, mit der er heute, am 26. April, im Parlament das Vorhaben vorstellte.

Italiens Maßnahmenplanung für das Next Generation EU-Programm

Es geht um viel Geld – 248 Miliarden Euro – es geht um die Zukunft Italiens, um einen Reformplan von historischer Bedeutung. An großen Worten mangelt es an diesem Tag nicht. In der Tat, allen im Parlament und wohl im ganzen Land ist bewusst, was für Italien von diesem Recovery Plan abhängt, der Ende der Woche in Brüssel eingereicht wird und die versprochenen Zuschüsse und Kredite für den Wiederaufbau nach der Pandemie auslösen soll.

Ohne das europäische Geld, das der italienische Staat um weitere Miliarden aufstockt, wird es schwer werden, aus der finanziellen und ökonomischen Krise wieder herauszukommen, in die die Pandemie Italien gebracht hat. Es würde lange, sehr lange dauern und wer weiß, wie viel Schaden in dieser langen Phase sozial und politisch entstehen kann. Mit dem Geld aus dem EU-Aufbaufonds hingegen hat Italien plötzlich die Möglichkeit, Investions- und Innovationsprojekte zu starten, von denen jede bisherige Regierung angesichts des notorisch klammen Haushalts nur träumen konnte. Es hat auch die Möglichkeit – und das sieht Draghis Plan vor – lang, zu lang anhaltende strukturelle Probleme anzugehen.

Die inhaltliche Eckpfeiler des Programms überraschen nicht: Die ökologische Transformation ist der größte Posten, finanziell gesehen. Die „grüne Revolution“ war nicht nur Teil der Anforderungen von EU-Seite, angesichts des kürzlich eingesetzten weltweiten Wettbewerbs um die ambitioniertesten Klimaziele konnte Italien kaum einen anderen Schwerpunkt setzen. Die Digitalisierung aller gesellschaftlichen Bereiche hat ebenfalls spätestens seit der Pandemie in jeder politischen Agenda in Europa oberste Priorität. Mario Draghi unterstreicht jedoch, dass es ihm dabei um mehr geht, als fancy 5G-smart devices: Digitalisierung muss dazu dienen, Grundrechte wie das auf Bildung zu sicher und zu verbessern. Sie muss zum Funktionieren des Staates beitragen, wie in der öffentlichen Verwaltung. Mit anderen Worten: Sie ist kein Selbstzweck und auch kein „nice to have“.

Bildung und Verwaltung sind weitere zentrale Themen, die zwar längst nicht so modern und zukunftsgerichtet daher kommen wie Digitalisierung und ökologische Revolution, jedoch für Italien noch eine größere Bedeutung haben. Es muss nicht nur mehr investiert werden in die (Aus-)Bildung der jungen Generation, sie muss auch inhaltlich reformiert werden. Die Corona-Pandemie hat – wie in anderen Ländern auch – die vielen Probleme erst richtig sichtbar werden lassen: Zu wenig Personal, begrenzte Räumlichkeiten, äußerst ausbaufähige technische Ausstattung. Darüber hinaus ist die Jugendarbeitslosigkeit auch deshalb so hoch, weil weder an den Universitäten noch anderswo tatsächlich gut für den Arbeitsmarkt ausgebildet wird. Eine Ausrichtung universitärer Lehrpläne nur an den Bedürfnissen der Industrie kann zwar nicht das Ziel sein, aber etwas mehr Passfähigkeit wäre für alle Seiten wünschenswert.

Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Bestandsaufnahme, wie in der Verwaltung frei werdende Stellen besetzt werden: Bei den so genannten concorsi, in denen die Stellen ausgeschrieben werden und deren Verfahren bis zu vier Jahre dauern kann, werden nicht die zukünftige und spezifischen Bedarfe der jeweiligen Einheit formuliert und die Bewerber:innen auch nicht auf ihre Kompetenzen geprüft. Stattdessen wird der ewig gleiche Katalog an Aufgaben reproduziert, während denKandidat:innen zur Einstellungsprüfung ihr angelerntes Wissen abgefragt wird. So, das ist der Tenor des Dokuments, kann eine Modernisierung der Verwaltung niemals realisiert werden. Auf solche Einstellungsverfahren allerdings ist auch das Schul- und Universitätssystem in großen Teilen noch immer ausgerichtet.

So setzt der Plan für die Zukunft Italiens an vielen Stellen in Details an, an kleinen Maßnahmen. Manchmal bleibt er auch arg vage, denn wie „Vereinfachung“ in gewachsenen, überkomplexen Verwaltungsstrukturen gelingen soll, ist wohl selbst einem Mario Draghi nicht immer sofort ersichtlich. Vielmehr scheint es so, als müsste häufig ein gordischer Knoten zerschlagen werden, wie in der Justiz und mit ihren zu langsamen Mühlen, liefe man nicht Gefahr, damit die Funktionsfähigkeit des ganzen Systems zu beeinträchtigen.

Die Baustellen sind also klar, Italien muss die Grundlagen seines Staatswesens (Verwaltung, Justiz) reformieren und gleichzeitig aufholen in Zukunftsthemen (Digitalisierung, Ökologie & Klima). Dafür benötigt es alle gesellschaftlichen Kräfte und kann es sich daher nicht mehr leisten, eine ganze Generation und ein ganzes Geschlecht von der ökonomischen Entwicklung auszuschließen (Bildung und Gleichstellung). An diesem Themenkomplex kann eigentlich kaum Widerspruch aufkommen.

Kam er denn auch nicht. Nur Fratelli d’Italia, die einzige Oppositionspartei derzeit, haderte mit dem Prozess, wie dieser große Zukunftsplan entstanden ist. Und dieser ist tatsächlich nicht ganz unproblematisch aus demokratischer Sicht, auch wenn sonst niemand so recht darauf eingehen wollte. Auch Mario Draghi würdigte es in seiner Rede nicht: Die parlamentarische Debatte, die am morgigen Dienstag fortgesetzt werden soll, konnte eigentlich keine sein, denn das knapp 300-seitige Papier erhielten die Abgeordneten erst am Sonntag Nachmittag. Der Antrag, die Debatte zu vertragen, wurde gleichwohl abgelehnt.

Da wird ein Plan verfasst, wie 248 Milliarden Euro in fünf Jahre verausgabt werden sollen, mit denen das ganze Land reformiert werden soll. Und das Parlament erhält die finale Fassung wenige Stunden vor der Debatte. Selbstverständlich wurde informell gemeinsam daran gearbeitet, über die Ministerien und die Fraktionen. Und es sollte dieses Mal eben nicht wie in der Regierung Conte jeder irgendwie sein Lieblingsprojekt unterbringen, sondern ein stringentes, klares Konzept entwickelt werden. Für das Italien von morgen eben. Am Italien von morgen haben sehr viele Menschen teil, dennoch wurde der Plan, diese Zukunft zu gestalten, in die Hände von einigen wenigen Experten gelegt: Dem Ministerpräsidenten und seinen „technischen“ Minister:innen. Wie der Minister für den Ökologischen Wandel, Roberto Cingolani, kürzlich im Fernsehsender La7 sagte: Ich habe einen klaren Auftrag, meinen Teil für den Recovery Plan zu schreiben, ich muss nicht eine Wählerschaft oder eine Partei repräsentieren.

Mag sein, dieses Herangehen erhöht die Qualität des 300-seitigen Papiers. Mag sein, man ist in Italien und anderswo in Europa heilfroh, dass Menschen vom Fach die Pläne für die Gesellschaft der nächsten Jahrzehnte schmieden. Mag auch sein, dass wenn die Kritik am Verfahren von Fratelli d’Italia kommt, sollte man schon aus Prinzip nicht darauf eingehen. 248 Milliarden für die Zukunft eines ganzenLand sind aber dennoch genug, wofür sich eine bereitere demokratische Debatte gelohnt hätte.

Der schweigsame Präsident

Mario Draghi spricht wenig in der Öffentlichkeit. Heute hielt er seine erste Rede im Senat.

Neulich wünschte jemand Mario Draghi Glück, als dieser gerade im Wagen vorbeifuhr. Draghi ließ das Fenster herunter und antwortete auf die italienische Redensart „In bocca al lupo“ wie es sich gehört: „Crepi il lupo“. Im Fernsehen wurde das kommentiert mit: Mario Draghi hat etwas gesagt, endlich hat auch er gesprochen.

Denn in den letzten Tagen sprachen alle, die in Italiens Politik etwas zu sagen haben, und auch jene, die nichts zu sagen haben. Zudem äußerten sich zahlreiche Journalisten, Professorinnen und diverse Expertinnen ausgiebig zur politischen Lage. Einzig der Protagonist, um den sich alles drehte, blieb still: Mario Draghi gab keine Interviews und keine Statements, gab keine Zwischenstände oder Planungen preis. Seine Auftritte vor der Presse blieben auf ein Minimum und auf die Kernaussagen zu seiner künftigen Regierung beschränkt. Und erst recht gab es keine tweets oder posts oder storylines – Italiens neuer Ministerpräsident ist ein no-social.

Ein ungewohnter Kommunikationsstil für Italien

Dieser neue Stil ist für Italiens Politik- und Medienlandschaft eine Neuerung. Sicherlich gewöhnungsbedürftig. Sie passt aber ganz ausgezeichnet zu den Erwartungen, die an den neuen politischen Heilsbringer gestellt werden: Einer, der die Dinge ernst nimmt. Einer, der sich nicht ständig profilieren muss, weil er bereits ein Profil hat. Einer, der nicht nutzlos daherredet, sondern arbeitet. Allerdings erhöht die Schweigsamkeit auch die Erwartungen an das, was dann kommt, wenn die Stille durchbrochen wird. Umso mehr, wenn die Ansprache dann im Parlament stattfindet, was durchaus auch ein Statement ist: Nicht schon ständig in den Medien präsent zu sein, sondern zuallererst dort, wo in einer Demokratie Politik gemacht wird – im Parlament.

Nun hat Mario Draghi, designierter neuer Ministerpräsident Italiens, im Senat seine Rede gehalten, mit der er das Vertrauen in dieser Kammer erhalten will (zur Zeit läuft die Debatte noch). Wer eine Ansprache erwartet hatte, die dem politische Erdbeben, das dieser Regierungsbildung vorausgegangen war, ebenso entspricht wie die pandemische wie ökonomische Ausnahmesituation, in der sich Italien befindet, wurde zumindest vom Auftritt her enttäuscht. Mario Draghi hat Großes vor – aber er fasst es nicht in große Worte.

Standing ovations für Conte, wenig Enthusiasmus für Draghi

Eher noch fasst er es in Zahlen, und fügt nebenbei hinzu, dass die Zahlen der Wirklichkeit nicht gerecht werden. Gleichwohl hält er sich an ihnen fest und kommt überraschenderweise ausgerechnet hier ein paar Mal ins Straucheln; Versprecher und Verblätterer nehmen den durchaus bedrückenden Zahlen – zur Pandemie und ihren Folgen – ihre Wucht, und dass, wo Zahlen ohnehin selten mitreißen. Draghi beginnt seine Rede mit der Pandemie und dem nationalen Ausnahmezustand, und vielleicht weil man es ein wenig zu oft gehört hat zuletzt, vielleicht, weil er keine neuen, keine authentisch berührende Worte dafür findet, bleibt das Auditorium eher unbeeindruckt. Den größten Applaus gibt es nach ein paar Minuten, als der neue Ministerpräsident dem alten dankt. Der Beifall, der in diesem Moment für Giuseppe Conte aufbrandet, hält derart lange an, dass es fast schon unangenehm wirkt für seinen Nachfolger. Als es dann in Teilen auch noch Standing Ovations gibt, wird das den anderen Senatorinnen zu viel: Buh-Rufe hallen durch den Plenarsaal.

Und doch lässt diese Situation bereits erahnen, was die Schwäche des neuen Regierungschefs sein könnte: Giuseppe Conte hat viele Sympathien gewonnen, in der Bevölkerung und auch unter den Parlamentariern. Dafür hat man ihm manche inhaltliche Unausgereiftheit nachgesehen. Bei Mario Draghi scheint es umgekehrt: Er ist der Experte, der nun die bestmöglichen Reformen und Programme auf den Tisch legt, aber ob er die Herzen der Bürgerinnen und Bürger gewinnen kann? Draghi steigert sich im Laufe seiner Rede. Wenig überraschend ist er dort am überzeugendsten, wo er seine Expertise geltend machen kann. Die notwendige Steurerreform, die als Ganzes angegangen werden muss, die Ausgestaltung der Verwaltungs- und Justizreform – es ist nicht nur überdeutlich, dass er um deren Bedeutung und Dringlichkeit weiß, dass er jeden Schritt, der diesbezüglich in der Vergangenheit gegangen wurde, kennt, sondern auch, dass er eine präzise Vorstellung davon hat, wie diese Reformen angegangen werden müssen. Und diese unbeirrt angehen wird.

Gleiches gilt für die Wirtschaftspolitik und Draghis Konzept, wie er Italien ökonomisch wieder zum Laufen kriegen will. Er stärkt die Hoffnung, dass mit dieser Regierung endlich die zukunftsgerichteten, innovativen Ideen umgesetzt werden, mit denen Italien wieder anschlussfähig wird in Sachen Produktivität, Arbeitsstandards oder Nachhaltigkeit. Ideen, die zudem auf dem festen Boden ökonomischen Sachverstands stehen. Allerdings wird es hier politisch spannend, denn Draghis Ausrichtung ist eindeutig wirtschaftsliberal – neoliberal, wenn man dieses Wort gebrauchen möchte – und das ist eine Haltung, die entgegen anderslautender Äußerungen des politischen Personals weder links noch rechts besonders viele überzeugte Anhänger hat.

Überzeugende Inhalte, verbesserungswürdige Rhetorik

Doch abseits der – zweifelsohne überzeugenden – Inhalte, zu denen auch die Investitionen in Kultur, Bildung und Forschung zählen, bleibt Mario Draghi überraschend blaß. Wenn es rumort im Auditorium, etwa bei einigen Äußerungen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik, unterbricht er sich und schaut in die Runde wie ein Lehrer, der sich insgeheim echauffiert über die aufmüpfigen Schüler, es aber unter seine Würde betrachtet, darauf einzugehen – und sei es nur durch die Veränderung seines Gesichtsausdrucks. An den potentiell emotionalsten Stellen seiner Rede, wenn er auf die Kraftanstrengungen der Italiener und Italienerinnen in dieser Pandemie zu sprechen kommt, wenn er von der Pflicht aller spricht, nun Eigeninteressen dem Wohl der Nation unterzuordnen, dann springt höchstens ein schwacher Funke über.

Italien, und Europa, können davon ausgehen, dass Mario DRaghi die Dinge angeht, die am dringlichsten sind, mit Sachverstand, Plan und Durchsetzungsstärke. Doch es wird kaum reichen, die Dinge gut zu machen. Er wird darüber reden müssen. Mit weniger Zahlen, dafür mit mehr Empathie. Die Reformen werden umfassend sein, und obwohl Draghi mit dem Recovery Plan EU-Gelder in Höhe von 210 Milliarden verteilen kann, wird es Missfallen, Unstimmigkeiten und auch Frust geben. Man gewinnt Zustimmung nicht allein durch gute Bilanzen. Die Bevölkerung will gehört und verstanden werden, dazu muss sie einen Regierungschef vor sich haben, der kommuniziert. Der so kommuniziert, dass sich die Menschen wiederfinden.

Bleibt Mario Draghi seinem Stil treu, kann das schwierig werden. Zwar haben sich die Italienerinnen und Italiener – mal wieder – einen Fachexperten gewünscht, der alles zum Guten wendet, weil er klug ist und uneigennützig. Die Vergangenheit hat aber schon oft gezeigt, dass ihnen ein Kommunikator, ein Entertainer, eine, die sich volksnah gibt, einer, der ihnen ähnlich ist, in Wirklichkeit viel lieber ist. Natürlich muss Draghi keine Wahlen gewinnen, also muss er auch nicht für sich werben. Doch in seine Stille drängen schon jetzt andere Stimmen, seine sachliche Distanziertheit wird früher oder später die Demagogen anspornen, um das Wahlvolk bei den Emotionen zu packen. Es bleibt abzuwarten, wie lange Mario Draghis Expertise ihn durch Italiens unruhige politische Gewässer trägt.

Die Metamorphose des Matteo Salvini

Die Nominierung Mario Draghis zum Ministerpräsidenten verändert bereits Italiens Politik. Der Gesinnungswandel des Lega-Chefs ist das beste Beispiel dafür. Doch wie weit reicht die Veränderung wirklich?

Matteo Salvini (rechts), neuerdings beschwichtigend. Hier mit Commissioner for Migration, Home Affairs and Citizenship Dimitrios Avramopoulos. Foto: European Union 2019

Es werden große Hoffnungen in Mario Draghi gesetzt. Hauptsächlich erwartet das Land – und die EU – dass nun die richtigen und effektiven Schritte in der Bekämpfung der Pandemie, des wirtschaftlichen Wiederaufschwungs und der vielen italienischen Baustellen von Bildung bis Infrastruktur und Justiz gemacht werden.

Wichtiger noch ist jedoch der Draghi-Effekt auf die politische Elite und die Parteien. Denn von ihnen wird abhängen, ob die richtigen Schritte nach dem Ende der – sicher nur temporären – Regierung Draghi auch weitergegangen werden. Das Tempo, in dem die Parteien eine nach der anderen ihre vermeintlichen roten Linien überschritten haben, um an der Regierung Draghi teilzuhaben, ist atemberaubend. Die Fünf-Sterne sind bereit, mit ihrem Erzfeind Silvio Berlusconi an einem Tisch zu sitzen, zu dem ein Exponent einer weiteren Inkarnation des Bösen – der Banken – aufgerufen hat. Der Partito Democratico findet plötzlich, mit den Politiker:innen der Lega könne man reden, Fremdenfeindlichkeit hin, Nationalismus her. In der Tat, wo ist der Nationalismus der Lega plötzlich hin? Matteo Salvini, Parteichef der ehemals sezessionistischen, heute sovranistisch-nationalistischen Partei, findet plötzlich lobende Worte für die Europäische Union und schwört seine Euro-Parlamentarier darauf ein, für die Regeln des Recovery Fund zu stimmen. Stattdessen streitet er sich jetzt mit der AfD.

Die Lega lenkt also ein auf den dezidiert pro-europäischen, pro-westlichen Kurs, den Mario Draghi als unverrückbare Grundlage seiner Regierungspolitik definiert hat. Was ist da los?

Europäische Zusammenarbeit unter Nationalisten zum Scheitern verurteilt

Einerseits könnte man nun behaupten, ein auf nationale Interessen ausgerichtetes Europa kann eben nicht zusammenarbeiten – erst recht nicht ein Front National oder eine AfD mit der Lega. Wenn Mario Draghi als EZB-Chef und der Recovery Fund Italien vor dem Schlimmsten bewahrt haben und bewahren werden, so war das für Matteo Salvini schon schwierig genug einzugestehen. Er kann jedoch noch glaubhaft versichern, dass dies schließlich im nationalen Interesse Italiens lag und deshalb aus patriotischer Sicht unterstützt werden müsse. Da hat es die AfD schon schwerer, denn die Vorteile Deutschlands durch die EU sind zwar nicht von der Hand zu weisen, aber längst nicht so offensichtlich wie jene Italiens – vor allem nicht so offensichtlich wie die Tatsache, dass die Kreditwürdigkeit und Finanzlage Deutschlands unabdingbar für eine gemeinsame Krisenbewältigung ist, und der daraus folgende Kurzschluss – den ja wahrlich nicht nur die AfD vertritt – gemeinsame Schulden gingen ebenso wie die Ankaufprogramme der EZB zulasten Deutschlands.

Im Unterschied zur Zeit der Finanzkrise hat die EU daher gerade einen entscheidenden Vorteil: Das Geld, das sie zu vergeben hat, bedient bestimmte nationale Interessen – und zerschlägt damit die Allianz der EU-Gegner. Seit im Sommer der Wiederaufbaufonds ausgehandelt wurde hat es gerade die Lega schwer, mit ihrem Anti-Europäismus noch zu punkten. Dennoch ist der Schritt, den Matteo Salvini in diesen Tagen gemacht hat, ein radikaler. Von einem Tag auf den anderen verschwinden die Parolen und die Forderungen. Von einem auf den anderen Tag ist die EU eine Chance und keine Bedrohung des nationalen Wohls mehr. Diesen Part seiner Politik hat er an Fratelli d’Italia ausgelagert, die klar in Opposition zur neuen Regierung bleiben. Aufgabenteilung im Mitte-Rechts-Lager: Wenn sie bei Neuwahlen als Bündnis gemeinsam antreten, kann Giorgia Meloni glaubhaft diejenigen Stimmen einfangen, die Draghi und der EU weiterhin skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen, während die Lega die moderateren Stimmen einfängt und sich als verantwortungsbewusste Kraft für die Nachfolge Forza Italias aufstellt.

Denn Silvio Berlucsonis FI hatte schnell klar gemacht, Draghi unterstützen zu wollen. Dass die gemäßigten rechten Wähler jedoch der in die Jahre gekommenen Partei des in die Jahre gekommenen Ex-Ministerpräsidenten zulaufen, weil die Lega Fundamentalopposition betreibt – das konnte Salvini nicht zulassen. Das Risiko aber bleibt: So lange haben er und Meloni anti-europäische Stimmung gesät – mag sein und seine Konkurrentin von Fratelli d’Italia fährt bei der nächsten Wahl die Ernte allein ein. Die Chance besteht darin, dass Draghis Wirtschaftspolitik vor allem die traditionelle Wählerklientel der Lega in Italiens Norden bedient – die zahlreichen Unternehmer:innen, die den Nationalismus in Bezug auf Europa nie ganz mitgetragen haben und die Salvini keinesfalls verlieren darf.

Alles nur Taktik? Salvinis Manöver

Alles Taktik also? Ein Manöver, um bestmöglich in die nächsten Wahlen zu gehen, die vielleicht im Sommer kommenden Jahres anstehen? Zur Zeit lässt sich das nicht abschließend beurteilen. Doch Matteo Salvini ist ein Instinktpolitiker. Was für ihn zählt ist weniger die Überzeugung als der größte Benefit in Wählerstimmen. Als Autonomie und Politik nur für den Norden nicht mehr ausreichten, die Lega zu einer ernstzunehmenden politischen Kraft zu machen, spürte Salvini die Stimmung in der Bevölkerung auf, einige Jahre kaum politisch repräsentiert wurde: Ärger, Sorge und Ablehnung wegen der vielen Migrant:innen, die in Italien strandeten. Die EU, die an dieser Situation schuld war, die zudem Reformen erwartete, die die ohnehin von Staat gegängelten Italiener:innen um ihre Rente und ihr Auskommen brachten. Weltweit schien „my own country first“ eine Erfolgsformel. So machte er kurzerhand aus einer regionalistischen eine nationalistisch-sovranistische Partei und ging erfolgreich auf Stimmungsfang auch im Süden.

2021 ist die Lage jedoch eine andere: die Pandemie, das Ende von Trumps Präsidentschaft, die versprochenen EU-Hilfen, der dringende Bedarf an verantwortungsvoller, effektiver Politik – gern mit drastischen Maßnahmen, mögen sie nur helfen. Für politische Grabenkämpfe haben die Italiener:innen derzeit so wenig Verständnis wie Sinn für das beste Pannino oder die beste Pasta, die sonst Salvinis bevorzugte Instrumente waren, den Nationalstolz der Bevölkerung anzusprechen. Also sucht sich Salvini neue Wege, im breiten Becken des Mitte-Rechts-Lagers nach Zustimmung zu fischen. Wenn diese nun eher über eine verantwortungsbewusste Wirtschafts- und Finanzpolitik sowie über Reformen an den öffentlichen Institutionen (Gesundheit, Bildung, Justiz, Verwaltung) einzuholen ist – warum nicht? Schließlich hat er vor allem immer gesagt, im Interesse der Italiener:innen zu handeln. Und wenn diese ihre Prioritäten ändern, warum dann nicht auch ihr Volkstribun Salvini?

Damit dies nicht eine wenige Monate währende Episode bleibt, muss Mario Draghi so weise sein, Salvini und der Lega gewisse Erfolge zu gönnen und zu einem tatsächlichen Miteinander zu kommen. Denn nur wenn Matteo Salvini weiterhin größere Chancen in der Unterstützung der Regierung sieht als in ihrer Demontage, wird er der „friedliche“ Salvini bleiben. Oder Mario Draghi wird derart erfolgreich sein müssen, dass Salvini zugunsten moderaterer Kräfte in der Lega marginalisiert wird. In beiden Fällen hatte er sich sehr um die Zukunft Italiens und Europas verdient gemacht.

Mario Draghi Ministerpräsident: alles gut in Italien?

Mit dem Ex-BZE-Chef an der Regierungsspitze lassen sich einige, aber längst nicht alle Probleme Italiens lösen.

Mario Draghi, Aufnahme von 2011
Mario Draghi, ehemaliger Chef der Europäischen Zentralbank, jetzt designierter italienischer Ministerpräsident. Foto: European Union, 2011

In Europas Hauptstädten und in Brüssel ist man erleichtert bis begeistert, dass so ein erfahrener kompetenter Mann wie Mario Draghi die Regierungsführung in Italien übernehmen soll. Die Finanzmärkte ebenso, was sich unter anderem in einem Rekordtief der Risikoaufschläge für italienische Staatsanleihen, dem spread, zeigt. In Italien selbst hört man nur lobende Stimmen über die außerordentlichen Fähigkeiten des ehemaligen nationalen wie europäischen Notenbankenchefs. Hat Staatspräsident Sergio Mattarella also die richtige Antwort auf die politische Krise aus dem Hut gezaubert?

Sicher, das hat er. Doch in der Euphorie darüber, dass Draghi den Auftrag – unter Vorbehalt – angenommen hat, eine neue Regierung zu bilden, darf nicht untergehen, dass dieser Schritt erst nötig wurde, weil sich eine politische Krise entfaltet hatte, die selbst in Italien ihresgleichen sucht. Die Unfähigkeit zur Problemlösung, die die politischen Akteure dabei offenbarten, wird Mario Draghis Regierungsbildung und -politik weiter beeinflussen.

Herausforderung I: politische Einheit

Mario Draghi braucht eine parlamentarische Mehrheit in beiden Kammern. Giuseppe Conte hatte keine Mehrheit mehr hinter sich vereinen können, und die beiden größten ihn unterstützenden Parteien PD und M5S waren nicht in der Lage, eine Alternative zu Conte zu entwickeln und dafür die nötige Unterstützung zu bekommen. Die aktuell laufenden Gespräche zeigen bereits, dass es auch für Mario Draghi nicht einfach wird: Die Fünf-Sterne haben Bauchschmerzen, schließlich repräsentierte er als EZB-Chef aus ihrer Sicht genau diejenigen Institutionen, die Italiens nationale Selbstbestimmung beschnitten und politische Reformen gegen den Willen der italienischen Bevölkerung „diktierten“. Das Draghi mit seinem „Whatever it takes“ vor allem Italien die Haut gerettet hat, wird in den orthodoxen Kreisen der Fünf-Sterne nur ungern anerkannt. Ähnlich sieht es Giorgia Meloni von Fratelli d’Italia, die sogleich ankündigte, Draghi im Parlament nicht unterstützen zu wollen. Soweit zu verschmerzen, denn es ließe sich ohnehin sehr schwer eine Regierung vorstellen, in der der pro-europäische Partito Democratico mit den nationalistisch-sovranistischen Fratelli d’Italia zusammenarbeitet.

Dies führt zur stärksten Kraft im Mitte-Rechts-Lager, der Lega. Zwar dämmert es Lega-Chef Matteo Salvini, dass sich mit anti-europäischen, trumpistischen Tönen inzwischen weniger Zustimmung erreichen lässt als noch vor drei Jahren (s. Recovery Plan). Doch Salvinis Lega ist auf Abgrenzung, auf Dauerwahlkampf, auf Parolen statt Verhandlungen ausgerichtet. Da passt eine Regierung des nationalen Konsens‘ zur Überwindung der Krise nicht ins Konzept. Zumal es Draghis Regierung zuallererst um die Bekämpfung der Pandemie und ihrer Folgen gehen wird – und die Mitte-Rechts-Opposition hat bislang noch nicht glaubhaft machen können, warum sie der bessere Krisenmanager wäre, wo sie doch Covid-19 lange Zeit vor allem verharmlost hatten und sich weigerten, Schutzmaßnahmen mitzutragen. Doch das größte Problem für die künftige, ja für alle künftigen Regierungen liegt tiefer:

Herausforderung II: Fehlendes politisches Führungspersonal

Die Opposition kann an dieser Stelle gleich ausgeklammert werden, denn Verantwortungsbewusstsein und Eignung zum Krisenmanagement hat sie in den vergangenen Jahren nicht an den Tag gelegt, auch die Lega in Regierungsverantwortung nicht. Da ging es um Profilierung und Härte gegen den Gegner (Migrant:innen, EU, die Linke…). Unwahrscheinlich, dass mit Salvini Premier es überhaupt die europäische Hilfe gegeben hätte, um deren Abruf es jetzt maßgeblich geht.

Dass Giuseppe Conte in den letzten Monaten überhaupt zu der Führungsfigur aufsteigen konnte, spricht Bände über den Zustand der politischen Elite. Keine Frage, er war und ist sehr beliebt; das Krisenmanagement im letzten Frühjahr gelang ihm trotz aller Probleme recht gut. Er verhandelte in Brüssel die EU-Hilfe, ein großes politisches Verdienst, nicht zuletzt weil die Euroskepsis der Italiener:innen danach stark sank. Der späte Widerstand gegen Salvini im Herbst 2019 war so notwendig wie ermutigend. Und zunächst schien es sogar, als könne er sich gegen den zweiten sich selbst überschätzenden Matteo – Renzi – behaupten. Doch dort, wo es wirklich schwierig wurde, wo politische Führung und Durchsetzungsstärke nötig war, konnte Conte nicht liefern. Vom Wiederaufbauplan, mit dem die EU-Gelder eingesetzt werden sollten, bis zur Handhabung der Krise, in der er kein klares politisches Programm für eine Regierung „Conte ter“ bieten konnte.

Seit Sommer schon kursiert der Name Draghis in den italienischen Medien, wenige Wochen vor der Krise wurde in den Polit-Talkrunden mitleidsvoll über Contes Befinden und seine Zukunftsaussichten gesprochen. Tenor: Hier arbeitet einer ehrlich, aber eben an seiner Leistungsgrenze. Niemand wollte Conte etwas Böses, aber man sah deutlich die Grenzen seiner Kompetenz. Bitter ist, dass in so einer Situation keine einzige politische Kraft, nicht einmal der Partito Democratico, in der Lage war, personelle und politische Alternativen zu anzubieten. Der PD, allen voran Parteivorsitzender Nicola Zingaretti, wollten eine dritte Conte-Regierung, hielten sich an seiner Popularität fest, spekulierten auf ein doch noch mögliches, wenn auch unwahrscheinliches Zusammenwachsen mit – zumindest einigen – linken Kräften des M5S, um die Linke zu neuer Stärke zu führen. Conte war jedoch nicht stark genug, die Fünf-Sterne zu planlos, zu zerfranst und unentschlossen. Stattdessen Renzi.

Matteo Renzi, über den nur noch strittig ist, ob sein egozentrisches Verhalten und seine fehlgeschlagene Taktik – es heißt, er wollte Macron nacheifern und den PD wie die Sozialisten in Frankreich durch den Aufbau einer eigenen Bewegung zerschlagen – nicht doch noch eine Sache zugutezuhalten wäre. Nämlich dass er letztlich Mario Draghi in die Regierungsverantwortung gebracht hat. Viel mehr ist zu dieser in Europa immer noch grob überschätzten Personalie nicht mehr zu sagen.

Und mit genau diesen politischen Führern – nicht zu vergessen der grauen Eminenz Silvio Berlusconi – muss nun Mario Draghi eine Regierung, eine Parlamentsmehrheit schmieden.

Herausforderung III: Die Experten-Regierung

Noch ist nicht ganz klar, inwieweit Draghis Regierung den Charakter einer Experten-Regierung haben wird. Nach den Erfahrungen der Regierung Monti (2011-2013) spricht sich die überwiegende Mehrheit der Politiker:innen für eine politische, d.h. mit Parteivertreter:innen besetzte Regierung aus. Allerdings, dazu müssten sich sehr heterogene Parteien und -flügel auf eine gemeinsame Besetzung einigen (s. Herausforderung I), die zudem die qualitativen Anforderungen, die Mario Draghi sicher haben wird, erfüllen (s. Herausforderung II).

Bereits zweimal gab es eine Expertenregierung, die ebenfalls aufgrund europapolitischer Erfordernisse eingesetzt wurden: Die Regierung Ciampi Anfang der 1990er Jahre, als es darum ging, dass Italien die Maastricht-Kriterien erfüllen musste, und eben 2011, als die politische Klasse sich nicht durchringen konnte, die einschneidenden Sozial- und Fiskalreformen durchzuführen, die wegen der Finanzkrise erforderlich schienen. Man kann leider nicht behaupten, dass die den Technokraten nachfolgenden Phasen eine Verbesserung der politischen Situation, eine Verbesserung der Politik und ihrer Akteure mit sich brachten. Eher ist das Gegenteil der Fall.

Zudem wünschen sich Bevölkerung wie Journalist:innen häufig eine kompetente, starke Persönlichkeit abseits der parteipolitischen Interessen, die endlich wieder Ordnung ins Land bringt. Die de facto Absetzung Berlusconis, die Montis Regierung voranging, wurde geradezu gefeiert. Allein, die Freude währt oft nur kurz. Früher oder später setzen parteipolitische Taktierereien ein, früher oder später wird es Wahlen und damit Wahlkampf geben müssen, die nicht gewonnen werden, wenn man gemeinsam mit dem politischen Gegner konsensual am Besten für das eigene Land arbeitet. Zumal, wenn das Beste nicht immer das Angenehmste ist. Die Regierung Monti mag das Notwendige, vielleicht auch das Richtige getan haben – am Ende sorgte sie mit für den Aufstieg der Fünf-Sterne und auch die Lega labte sich lange an dem Anti-Europäismus, der in den Monti-Jahren entstand.

Die Ehrungen, die Mario Draghi jetzt von allen Seiten zuteil werden, werden kaum länger anhalten als bis zu dem Punkt, an dem eine Partei die Chance erblickt, sich erfolgreich zu profilieren und bei den nächsten anstehenden Wahlen zu punkten – oder diese gar herbeizuführen. Im Grunde ist bei einer Experten-Regierung das Ende schon mitgedacht. Ein Ende, das im schlimmsten Fall ein Scheitern sein wird – nicht, weil Draghi die Umsetzung bestimmter Vorhaben nicht gelingen wird. Sondern weil die Parteien die Zeit nicht nutzen, zu mehr Profil, mehr Kompetenz und mehr Kompromissbereitschaft bei weniger Individualinteresse zu gelangen. Weil der politische Niedergang Italiens nur unterbrochen, nicht behoben wird.

Renzis unangemessener Machtpoker

Matteo Renzi läutet eine Regierungskrise ein, während das Land mit Pandemie und Wirtschaftskrise kämpft

Nun ist sie also da, die Regierungskrise. Conte II neigt sich seinem Ende zu. Dies hatte sich seit Wochen, wenn nicht Monaten immer wieder angedeutet. Die treibende Kraft dahinter war immer wieder und bis zuletzt Matteo Renzi, der frühere Premierminister und Vorsitzende der Splitterpartei Italia Viva.

Als ob es noch eines Beweises bedurfte, dass es Matteo Renzi bei Politik vor allem um ihn selbst geht, hat seine Partei durch die Enthaltung bei der Abstimmung zum italienischen Recovery Plan – dem Weg, wie Italien mit EU-Geldern aus der pandemiebedingten Krise kommen solle – sich enthalten und daraufhin den Rücktritt der Ministerinnen von Italia Viva angekündigt. In den vergangenen Wochen hatten Renzi und Iv immer wieder Verbesserungen am Recovery Plan eingefordert, wie das Geld auszugeben sei, wie die Strukturen hinter dem Programm aufgebaut werden sollten und ob nicht zusätzlich der EMS genutzt werden sollte, um das Gesundheitssystem zu stärken.

Alle diese Einwände, so der Tenor auch heute in Medien und Bevölkerung, waren wichtig und teils richtig. Gleichwohl scheint niemand ernsthaft zu glauben, Renzi ginge es um Inhalte. Kein Entgegenkommen genügte, am Ende schien Conte die Forderungen nicht mal mehr ganz ernst zu nehmen, da es stets so schien, als könne er sie ohnehin nicht in ausreichendem Maße erfüllen. Ex-Ministerpräsident Romano Prodi äußerte am Vorabend im italienischen Fernsehsender la7, Renzi sei es die ganze Zeit nicht ums verhandeln gegangen, sondern um den Bruch mit der Regierung.

Renzi selbst gibt sich gleichwohl staatstragend, will trotz dem Ausscheiden aus der Regierung alle notwendigen Maßnahmen und Gesetze zur Pandemiebekämpfung und ihrer Begleiterscheinungen mittragen. Das passt ihm gut, kann er dann doch den häufig vorgebrachten Einwand begegnen, ihm ginge es immer nur darum, seine Posten, le poltrone, zu behalten.

Doch seine Worte überzeugen nicht. Zu sehr erinnert er an sich selbst fünf Jahre zuvor, als er im Dezember 2016 seine Verfassungsreform dem italienischen Volk zur Abstimmung stellte. Sie sollte das Land modernisieren und aus der politischen Krise führen, eine historische Reform zum Wohle aller Italiener:innen. Doch schon damals erschien der gute Wille für das Volk nur Fassade, die inhaltliche Auseinandersetzung trat fast komplett hinter der personellen Zurschaustellung zurück: Es war Renzis Reform, seine historische Tat, und allein wegen des historischen Werts, sie überhaupt zustande gebracht zu haben, sollten die Wähler:innen ihr zustimmen. Allein, diese Logik der Personalisierung verfing nicht, höchstens mündete sie ins Gegenteil: Die Reform wurde abgelehnt, weil es Renzi war, der sie in Überschätzung seiner Kräfte durchgeboxt hatte, ohne auf breiteren politischen Rückhalt zu setzen.

Im vergangenen Jahr dann schmiedete Renzi mit seinen Kolleg:innen des PD eine Koalition mit den Fünf-Sternen, nur um kurz darauf sich abzuspalten und seine eigene Partei zu gründen, die sich fortan wie die erste Oppositionspartei, insbesondere gegenüber den Fünf-Sternen verhielt. Italia viva ist die jüngste unter unzähligen Ein-Mann-Parteien, die das Parteiensystem Italiens in den letzten Jahrzehnten hervorgebracht hat, und von denen keine jemals besondere Bedeutung erlangt hätte. Auch Iv erhält in Umfragen kaum mehr als 2 Prozent. Doch Wähler:innen hinter sich zu versammeln ist auch gar nicht das Ziel dieser Parteien. Sie müssen nur ausreichen, um ins Parlament einzuziehen. Und dort spielt man dann das Zünglein an der Waage, dessen Stimmen für die heterogenen, instabilen Koalitionen dringend nötigen sind. Das verschafft Macht, die sich nicht im Wählerzuspruch widerspiegelt. Doch warum sollte sie auch – was sie schafft, sind Aufmerksamkeit, Fernsehauftritte und vor allem – poltrone.

So gesehen ist Renzis Vorstoß nichts Außergewöhnliches in Italiens Regierungsgeschichte. Er, der die alte politische Klasse „verschrotten“ wollte, reiht sich ein in die unselige Tradition derjenigen, die Regierungskrisen wegen persönlicher politischer Vorteile auslösen. Was Renzis Vorteil ist? In der derzeitigen Konstellation war sein Gestaltungsspielraum begrenzt. Eine wahrscheinliche „technische“ Regierung wird ebenso auf die Stimmen von Italia Viva in den Parlamentskammern setzen müssen – aber vielleicht sind ein paar unliebsame Gegner weniger am Kabinettstisch, das Kräfteverhältnis wird sich eher nicht zugunsten der Fünf-Sterne entwickeln und überhaupt: Bei einer neuen Regierungsbildung können die Bedingungen neu verhandelt werden und damit günstiger für Renzi ausfallen.

So unangemessen eine solche Taktik schon zu normalen Zeiten ist, weil sie nicht im Ansatz der Verantwortung des Regierens gerecht wird und die in Italien besonders ausgeprägte Politikverdrossenheit nur weiter nährt, so wirkt sie inmitten der Pandemie, die Italien besonders heftig getroffen hat, noch viel deplazierter. Es ist kaum zu erwarten, dass Renzis Vorgehen ihm Zustimmung in der Bevölkerung bringen wird. Es ist leider auch nicht zu erwarten, dass die nächste Regierung viel besser sein wird als die alte. Oder das sie wesentlich länger halten wird. Aber solche Ziele hat Renzi ja gar nicht. Ihm geht es vor allem um eins: Renzi.

Covid-19 verlängert das Leben der Regierungskoalition Italiens

Leere vor dem Petersdom: Italien im Lockdown im Frühjahr 2020.
Leere auf Italiens Plätzen: Der Lockdown vom Frühjahr soll sich nicht wiederholen. Foto: Pixabay License.

Es gibt sie wieder, die Schreckensbilder aus Italien von überfüllten Krankenhäusern, von Menschen, denen nicht geholfen werden kann. Diesmal, im Herbst 2020, kommen sie aus Kampanien, aus Neapel, wo sich Schlangen von Krankenwagen vor den Notaufnahmen bilden. Ein Video ging viral von einem älteren Herren, der im Bad eines Krankenhauses starb, weil kein Pflegepersonal kam, um ihm zu helfen.

Obwohl die Lage sich zumindest lokal wieder enorm zuspitzt, da die Gesundheitsversorgung – noch immer – nicht auf eine Pandemie ausgelegt ist, versucht die italienische Regierung, einen zweiten Lockdown wie im Frühjahr unbedingt zu vermeiden. Sollten sich erneut Millionen italienischer Bürger*innen in ihren Wohnungen einschließen, die Schulen schließen, alle nicht notwendige Produktion runtergefahren werden – das Land würde es wohl kaum verkraften, ökonomisch wie mental.

Schneller als erhofft findet sich Italien wieder in der Situation, per Ministerpräsidentsdekret regiert zu werden, die Giuseppe Conte in inzwischen gewohnter Regelmäßigkeit den Bürger*innen vorträgt und sie über die Einrichtung gelber, organer und roter Zonen, die Schließung von Restaurants am frühen Abend, die Maßnahmen zur Verringerung des Personenaufkommens im öffentlichen Nahverkehr, die Verpflichtung zum Mund-Nase-Schutz zu informieren. Die Regionen tun das ihrige, und erlassen – je nach Risikostatus – weitere Beschränkungen. Es wird gestritten über den Einsatz von Militär und Feldkrankenhäusern zur Unterstützung der infrastrukturell bedürftigsten Regionen und Provinzen. Es wurde gestritten um die Beantragung des EMS, der reichlich Geld zu kleinen Zinsen für die Verbesserung des Gesundheitssystems in die klammen italienischen Kassen gespült hätte.

Bislang haben sich die Fünf-Sterne-Bewegung und ihr Vize-Ministerpräsident Luigi di Maio mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, und so findet sich Italien erneut in einer aktuen Krisensituation wieder, zumal der Süden des Landes diesmal nicht von der Pandemie verschont bleibt. Es streiten sich Regierung, Regionen und kommunale Verantwortungsträger vor allem im Falle Neapels um die Verantwortung in dieser Situation – und um die richtigen Maßnahmen ihr zu begegnen. Doch so unzureichend all dies scheint, so unangebracht der Interessenskampf der beteiligten Politiker – letztlich ist es der Pandemie selbst zu verdanken, dass Conte und Di Maio überhaupt noch in der Position sind, diese Debatten zu führen.

Über den Sommer, als die Dringlichkeit des Handelns nachließ, brachen die inhaltlichen Gräben und persönlichen Animositäten wieder auf, die der Notstand phasenweise verdeckt hatte. Die Zeitungen munkelten schon über eine mögliche „technische Regierung“, angeführt von Ex-EZB-Chef Mario Draghi, von einer Regierung der nationalen Einheit. Einzelne Parteien und -flügel, allen voran Matteo Renzi und sein Italia Viva, spekulierten wohl schon darauf. Nichts, so schien es, kann die Vernunftehe von 5-Sterne und PD, die inzwischen immer weniger Beteiligten vernünftig erscheint, noch lange zusammenhalten.

Doch mit dem Schwung des Verhandlungserfolgs in Brüssel, den recovery fund mit ordentlichen Mitteln zu ausgezeichneten Bedingungen durchgesetzt zu haben, ging die Regierung Conte – vermeintlich – in eine neue Phase. Das Geld aus Brüssel sollte der Opposition ebenso den Wind aus den Segeln nehmen wie der ausgebliebene Wahlerfolg der Rechten bei den Regionalwahlen: Drei zu drei hieß es am Ende, drei Regionen an Mitte-Links, drei an Mitte-Rechts und die erhoffte Übernahme der Toskana durch Matteo Salvinis Lega scheiterte gründlich.

Doch die Chance, die sich der Regierung Conte damit bot, hat sie nicht genutzt. Die Pläne, die bei der EU eingereicht werden müssen, um den recovery fund zu nutzen, sind weiterhin nicht viel mehr als eine Skizze. Conte hatte mit viel Brimborium die so genannte „Generalversammlung“ einberufen, um ein großes Zukunftspaket zu schnüren. Die Ergebnisse waren mager und führten nicht zu konkreten Plänen. Die eigentlich für solche Entwürfe zuständige Expertenkommission wurde dabei ausgebootet, ohne Gewinn.

Auch auf die Rückkehr der Pandemie hat sich die Regierung, wie nun sichtbar wird, nicht ausreichend vorbereitet. Die Wiederaufnahme des Schulbetriebs sorgte für viel Kritik, vor allem an der zuständigen Ministerin Lucia Azzalina. Sie verteidigte das Vorhaben, die Schulen unbedingt offen zu halten und kritisierte lokale Schulschließungen hart – doch auf beklagte Mängel in der Ausstattung, Vorbereitung und Personal ging sie kaum ein. Dass das Gesundheitssystem im Süden kaum in der Lage ist, auf eine Pandemie zu reagieren, das war allen bewusst – unter anderem deshalb entschied man sich im Frühjahr für einen kompletten Lockdown, um einen Kollaps im Süden und noch mehr Tote zu verhindern. Doch wie sich jetzt an Neapel zeigt, wurde die Entspannungsphase im Sommer nicht genutzt, um wenigstens die Mechanismen im Falle einer hohen Belastung klar zu regeln.

Paradoxerweise ist es nun gerade die Pandemie und der aus ihr resultierende Notstand, der das Überleben der Regierung rettet: Es braucht jetzt eine Regierung, die handeln kann, und deshalb ist nicht der Zeitpunkt, ein Kabinett umzubilden, neue Koalitionen einzugehen, ministeriale Köpfe rollen zu lassen. Niemand hätte Verständnis dafür, wie ohnehin das politische Gezerre um Vorgehen und Regeln mehr als unverständlich ist, wäre es nicht so typisch für die politische Kultur in Italien. Die 5-Sterne klammern ohnehin an der Macht, denn vom Wahlergebnis von 2018, das sie an die Regierung spülte, sind sie meilenweit entfernt. Würde demnächst gewählt, ihr Stimmanteil würde sich halbieren. Gleichzeitig ist der Koalitionspartner PD genervt, dass die 5-Sterne eine Gestaltungsmehrheit in der Regierung beanspruchen, die sie in der Gesellschaft schon lange verloren haben.

Die nicht genutzten Möglichkeiten der italiensichen Regierung, Politik zu gestalten haben dazu geführt, dass nun keine Zeit mehr ist, Politik zu gestalten. Jetzt muss reagiert, das schlimmste abgewendet werden. Über den Winter wird die Regierung Conte also aller Voraussicht nach kommen – bis ein Impfstoff kommt.