Mario Draghi Ministerpräsident: alles gut in Italien?

Mit dem Ex-BZE-Chef an der Regierungsspitze lassen sich einige, aber längst nicht alle Probleme Italiens lösen.

Mario Draghi, Aufnahme von 2011
Mario Draghi, ehemaliger Chef der Europäischen Zentralbank, jetzt designierter italienischer Ministerpräsident. Foto: European Union, 2011

In Europas Hauptstädten und in Brüssel ist man erleichtert bis begeistert, dass so ein erfahrener kompetenter Mann wie Mario Draghi die Regierungsführung in Italien übernehmen soll. Die Finanzmärkte ebenso, was sich unter anderem in einem Rekordtief der Risikoaufschläge für italienische Staatsanleihen, dem spread, zeigt. In Italien selbst hört man nur lobende Stimmen über die außerordentlichen Fähigkeiten des ehemaligen nationalen wie europäischen Notenbankenchefs. Hat Staatspräsident Sergio Mattarella also die richtige Antwort auf die politische Krise aus dem Hut gezaubert?

Sicher, das hat er. Doch in der Euphorie darüber, dass Draghi den Auftrag – unter Vorbehalt – angenommen hat, eine neue Regierung zu bilden, darf nicht untergehen, dass dieser Schritt erst nötig wurde, weil sich eine politische Krise entfaltet hatte, die selbst in Italien ihresgleichen sucht. Die Unfähigkeit zur Problemlösung, die die politischen Akteure dabei offenbarten, wird Mario Draghis Regierungsbildung und -politik weiter beeinflussen.

Herausforderung I: politische Einheit

Mario Draghi braucht eine parlamentarische Mehrheit in beiden Kammern. Giuseppe Conte hatte keine Mehrheit mehr hinter sich vereinen können, und die beiden größten ihn unterstützenden Parteien PD und M5S waren nicht in der Lage, eine Alternative zu Conte zu entwickeln und dafür die nötige Unterstützung zu bekommen. Die aktuell laufenden Gespräche zeigen bereits, dass es auch für Mario Draghi nicht einfach wird: Die Fünf-Sterne haben Bauchschmerzen, schließlich repräsentierte er als EZB-Chef aus ihrer Sicht genau diejenigen Institutionen, die Italiens nationale Selbstbestimmung beschnitten und politische Reformen gegen den Willen der italienischen Bevölkerung „diktierten“. Das Draghi mit seinem „Whatever it takes“ vor allem Italien die Haut gerettet hat, wird in den orthodoxen Kreisen der Fünf-Sterne nur ungern anerkannt. Ähnlich sieht es Giorgia Meloni von Fratelli d’Italia, die sogleich ankündigte, Draghi im Parlament nicht unterstützen zu wollen. Soweit zu verschmerzen, denn es ließe sich ohnehin sehr schwer eine Regierung vorstellen, in der der pro-europäische Partito Democratico mit den nationalistisch-sovranistischen Fratelli d’Italia zusammenarbeitet.

Dies führt zur stärksten Kraft im Mitte-Rechts-Lager, der Lega. Zwar dämmert es Lega-Chef Matteo Salvini, dass sich mit anti-europäischen, trumpistischen Tönen inzwischen weniger Zustimmung erreichen lässt als noch vor drei Jahren (s. Recovery Plan). Doch Salvinis Lega ist auf Abgrenzung, auf Dauerwahlkampf, auf Parolen statt Verhandlungen ausgerichtet. Da passt eine Regierung des nationalen Konsens‘ zur Überwindung der Krise nicht ins Konzept. Zumal es Draghis Regierung zuallererst um die Bekämpfung der Pandemie und ihrer Folgen gehen wird – und die Mitte-Rechts-Opposition hat bislang noch nicht glaubhaft machen können, warum sie der bessere Krisenmanager wäre, wo sie doch Covid-19 lange Zeit vor allem verharmlost hatten und sich weigerten, Schutzmaßnahmen mitzutragen. Doch das größte Problem für die künftige, ja für alle künftigen Regierungen liegt tiefer:

Herausforderung II: Fehlendes politisches Führungspersonal

Die Opposition kann an dieser Stelle gleich ausgeklammert werden, denn Verantwortungsbewusstsein und Eignung zum Krisenmanagement hat sie in den vergangenen Jahren nicht an den Tag gelegt, auch die Lega in Regierungsverantwortung nicht. Da ging es um Profilierung und Härte gegen den Gegner (Migrant:innen, EU, die Linke…). Unwahrscheinlich, dass mit Salvini Premier es überhaupt die europäische Hilfe gegeben hätte, um deren Abruf es jetzt maßgeblich geht.

Dass Giuseppe Conte in den letzten Monaten überhaupt zu der Führungsfigur aufsteigen konnte, spricht Bände über den Zustand der politischen Elite. Keine Frage, er war und ist sehr beliebt; das Krisenmanagement im letzten Frühjahr gelang ihm trotz aller Probleme recht gut. Er verhandelte in Brüssel die EU-Hilfe, ein großes politisches Verdienst, nicht zuletzt weil die Euroskepsis der Italiener:innen danach stark sank. Der späte Widerstand gegen Salvini im Herbst 2019 war so notwendig wie ermutigend. Und zunächst schien es sogar, als könne er sich gegen den zweiten sich selbst überschätzenden Matteo – Renzi – behaupten. Doch dort, wo es wirklich schwierig wurde, wo politische Führung und Durchsetzungsstärke nötig war, konnte Conte nicht liefern. Vom Wiederaufbauplan, mit dem die EU-Gelder eingesetzt werden sollten, bis zur Handhabung der Krise, in der er kein klares politisches Programm für eine Regierung „Conte ter“ bieten konnte.

Seit Sommer schon kursiert der Name Draghis in den italienischen Medien, wenige Wochen vor der Krise wurde in den Polit-Talkrunden mitleidsvoll über Contes Befinden und seine Zukunftsaussichten gesprochen. Tenor: Hier arbeitet einer ehrlich, aber eben an seiner Leistungsgrenze. Niemand wollte Conte etwas Böses, aber man sah deutlich die Grenzen seiner Kompetenz. Bitter ist, dass in so einer Situation keine einzige politische Kraft, nicht einmal der Partito Democratico, in der Lage war, personelle und politische Alternativen zu anzubieten. Der PD, allen voran Parteivorsitzender Nicola Zingaretti, wollten eine dritte Conte-Regierung, hielten sich an seiner Popularität fest, spekulierten auf ein doch noch mögliches, wenn auch unwahrscheinliches Zusammenwachsen mit – zumindest einigen – linken Kräften des M5S, um die Linke zu neuer Stärke zu führen. Conte war jedoch nicht stark genug, die Fünf-Sterne zu planlos, zu zerfranst und unentschlossen. Stattdessen Renzi.

Matteo Renzi, über den nur noch strittig ist, ob sein egozentrisches Verhalten und seine fehlgeschlagene Taktik – es heißt, er wollte Macron nacheifern und den PD wie die Sozialisten in Frankreich durch den Aufbau einer eigenen Bewegung zerschlagen – nicht doch noch eine Sache zugutezuhalten wäre. Nämlich dass er letztlich Mario Draghi in die Regierungsverantwortung gebracht hat. Viel mehr ist zu dieser in Europa immer noch grob überschätzten Personalie nicht mehr zu sagen.

Und mit genau diesen politischen Führern – nicht zu vergessen der grauen Eminenz Silvio Berlusconi – muss nun Mario Draghi eine Regierung, eine Parlamentsmehrheit schmieden.

Herausforderung III: Die Experten-Regierung

Noch ist nicht ganz klar, inwieweit Draghis Regierung den Charakter einer Experten-Regierung haben wird. Nach den Erfahrungen der Regierung Monti (2011-2013) spricht sich die überwiegende Mehrheit der Politiker:innen für eine politische, d.h. mit Parteivertreter:innen besetzte Regierung aus. Allerdings, dazu müssten sich sehr heterogene Parteien und -flügel auf eine gemeinsame Besetzung einigen (s. Herausforderung I), die zudem die qualitativen Anforderungen, die Mario Draghi sicher haben wird, erfüllen (s. Herausforderung II).

Bereits zweimal gab es eine Expertenregierung, die ebenfalls aufgrund europapolitischer Erfordernisse eingesetzt wurden: Die Regierung Ciampi Anfang der 1990er Jahre, als es darum ging, dass Italien die Maastricht-Kriterien erfüllen musste, und eben 2011, als die politische Klasse sich nicht durchringen konnte, die einschneidenden Sozial- und Fiskalreformen durchzuführen, die wegen der Finanzkrise erforderlich schienen. Man kann leider nicht behaupten, dass die den Technokraten nachfolgenden Phasen eine Verbesserung der politischen Situation, eine Verbesserung der Politik und ihrer Akteure mit sich brachten. Eher ist das Gegenteil der Fall.

Zudem wünschen sich Bevölkerung wie Journalist:innen häufig eine kompetente, starke Persönlichkeit abseits der parteipolitischen Interessen, die endlich wieder Ordnung ins Land bringt. Die de facto Absetzung Berlusconis, die Montis Regierung voranging, wurde geradezu gefeiert. Allein, die Freude währt oft nur kurz. Früher oder später setzen parteipolitische Taktierereien ein, früher oder später wird es Wahlen und damit Wahlkampf geben müssen, die nicht gewonnen werden, wenn man gemeinsam mit dem politischen Gegner konsensual am Besten für das eigene Land arbeitet. Zumal, wenn das Beste nicht immer das Angenehmste ist. Die Regierung Monti mag das Notwendige, vielleicht auch das Richtige getan haben – am Ende sorgte sie mit für den Aufstieg der Fünf-Sterne und auch die Lega labte sich lange an dem Anti-Europäismus, der in den Monti-Jahren entstand.

Die Ehrungen, die Mario Draghi jetzt von allen Seiten zuteil werden, werden kaum länger anhalten als bis zu dem Punkt, an dem eine Partei die Chance erblickt, sich erfolgreich zu profilieren und bei den nächsten anstehenden Wahlen zu punkten – oder diese gar herbeizuführen. Im Grunde ist bei einer Experten-Regierung das Ende schon mitgedacht. Ein Ende, das im schlimmsten Fall ein Scheitern sein wird – nicht, weil Draghi die Umsetzung bestimmter Vorhaben nicht gelingen wird. Sondern weil die Parteien die Zeit nicht nutzen, zu mehr Profil, mehr Kompetenz und mehr Kompromissbereitschaft bei weniger Individualinteresse zu gelangen. Weil der politische Niedergang Italiens nur unterbrochen, nicht behoben wird.