Mario Draghi stellte heute im Parlament den „Nationalen Plan für Aufbau und Resilienz“ vor.
Es ist das Dokument, für das Mario Draghi zum Ministerpräsidenten Italiens berufen wurde. Es ist der Plan, der seinen Vorgänger Giuseppe Conte das Amt kostete. Es sind 270 Seiten, die die Zukunft Italiens skizzieren. So jedenfalls beschrieb es Mario Draghi in seiner Rede, mit der er heute, am 26. April, im Parlament das Vorhaben vorstellte.
Es geht um viel Geld – 248 Miliarden Euro – es geht um die Zukunft Italiens, um einen Reformplan von historischer Bedeutung. An großen Worten mangelt es an diesem Tag nicht. In der Tat, allen im Parlament und wohl im ganzen Land ist bewusst, was für Italien von diesem Recovery Plan abhängt, der Ende der Woche in Brüssel eingereicht wird und die versprochenen Zuschüsse und Kredite für den Wiederaufbau nach der Pandemie auslösen soll.
Ohne das europäische Geld, das der italienische Staat um weitere Miliarden aufstockt, wird es schwer werden, aus der finanziellen und ökonomischen Krise wieder herauszukommen, in die die Pandemie Italien gebracht hat. Es würde lange, sehr lange dauern und wer weiß, wie viel Schaden in dieser langen Phase sozial und politisch entstehen kann. Mit dem Geld aus dem EU-Aufbaufonds hingegen hat Italien plötzlich die Möglichkeit, Investions- und Innovationsprojekte zu starten, von denen jede bisherige Regierung angesichts des notorisch klammen Haushalts nur träumen konnte. Es hat auch die Möglichkeit – und das sieht Draghis Plan vor – lang, zu lang anhaltende strukturelle Probleme anzugehen.
Die inhaltliche Eckpfeiler des Programms überraschen nicht: Die ökologische Transformation ist der größte Posten, finanziell gesehen. Die „grüne Revolution“ war nicht nur Teil der Anforderungen von EU-Seite, angesichts des kürzlich eingesetzten weltweiten Wettbewerbs um die ambitioniertesten Klimaziele konnte Italien kaum einen anderen Schwerpunkt setzen. Die Digitalisierung aller gesellschaftlichen Bereiche hat ebenfalls spätestens seit der Pandemie in jeder politischen Agenda in Europa oberste Priorität. Mario Draghi unterstreicht jedoch, dass es ihm dabei um mehr geht, als fancy 5G-smart devices: Digitalisierung muss dazu dienen, Grundrechte wie das auf Bildung zu sicher und zu verbessern. Sie muss zum Funktionieren des Staates beitragen, wie in der öffentlichen Verwaltung. Mit anderen Worten: Sie ist kein Selbstzweck und auch kein „nice to have“.
Bildung und Verwaltung sind weitere zentrale Themen, die zwar längst nicht so modern und zukunftsgerichtet daher kommen wie Digitalisierung und ökologische Revolution, jedoch für Italien noch eine größere Bedeutung haben. Es muss nicht nur mehr investiert werden in die (Aus-)Bildung der jungen Generation, sie muss auch inhaltlich reformiert werden. Die Corona-Pandemie hat – wie in anderen Ländern auch – die vielen Probleme erst richtig sichtbar werden lassen: Zu wenig Personal, begrenzte Räumlichkeiten, äußerst ausbaufähige technische Ausstattung. Darüber hinaus ist die Jugendarbeitslosigkeit auch deshalb so hoch, weil weder an den Universitäten noch anderswo tatsächlich gut für den Arbeitsmarkt ausgebildet wird. Eine Ausrichtung universitärer Lehrpläne nur an den Bedürfnissen der Industrie kann zwar nicht das Ziel sein, aber etwas mehr Passfähigkeit wäre für alle Seiten wünschenswert.
Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Bestandsaufnahme, wie in der Verwaltung frei werdende Stellen besetzt werden: Bei den so genannten concorsi, in denen die Stellen ausgeschrieben werden und deren Verfahren bis zu vier Jahre dauern kann, werden nicht die zukünftige und spezifischen Bedarfe der jeweiligen Einheit formuliert und die Bewerber:innen auch nicht auf ihre Kompetenzen geprüft. Stattdessen wird der ewig gleiche Katalog an Aufgaben reproduziert, während denKandidat:innen zur Einstellungsprüfung ihr angelerntes Wissen abgefragt wird. So, das ist der Tenor des Dokuments, kann eine Modernisierung der Verwaltung niemals realisiert werden. Auf solche Einstellungsverfahren allerdings ist auch das Schul- und Universitätssystem in großen Teilen noch immer ausgerichtet.
So setzt der Plan für die Zukunft Italiens an vielen Stellen in Details an, an kleinen Maßnahmen. Manchmal bleibt er auch arg vage, denn wie „Vereinfachung“ in gewachsenen, überkomplexen Verwaltungsstrukturen gelingen soll, ist wohl selbst einem Mario Draghi nicht immer sofort ersichtlich. Vielmehr scheint es so, als müsste häufig ein gordischer Knoten zerschlagen werden, wie in der Justiz und mit ihren zu langsamen Mühlen, liefe man nicht Gefahr, damit die Funktionsfähigkeit des ganzen Systems zu beeinträchtigen.
Die Baustellen sind also klar, Italien muss die Grundlagen seines Staatswesens (Verwaltung, Justiz) reformieren und gleichzeitig aufholen in Zukunftsthemen (Digitalisierung, Ökologie & Klima). Dafür benötigt es alle gesellschaftlichen Kräfte und kann es sich daher nicht mehr leisten, eine ganze Generation und ein ganzes Geschlecht von der ökonomischen Entwicklung auszuschließen (Bildung und Gleichstellung). An diesem Themenkomplex kann eigentlich kaum Widerspruch aufkommen.
Kam er denn auch nicht. Nur Fratelli d’Italia, die einzige Oppositionspartei derzeit, haderte mit dem Prozess, wie dieser große Zukunftsplan entstanden ist. Und dieser ist tatsächlich nicht ganz unproblematisch aus demokratischer Sicht, auch wenn sonst niemand so recht darauf eingehen wollte. Auch Mario Draghi würdigte es in seiner Rede nicht: Die parlamentarische Debatte, die am morgigen Dienstag fortgesetzt werden soll, konnte eigentlich keine sein, denn das knapp 300-seitige Papier erhielten die Abgeordneten erst am Sonntag Nachmittag. Der Antrag, die Debatte zu vertragen, wurde gleichwohl abgelehnt.
Da wird ein Plan verfasst, wie 248 Milliarden Euro in fünf Jahre verausgabt werden sollen, mit denen das ganze Land reformiert werden soll. Und das Parlament erhält die finale Fassung wenige Stunden vor der Debatte. Selbstverständlich wurde informell gemeinsam daran gearbeitet, über die Ministerien und die Fraktionen. Und es sollte dieses Mal eben nicht wie in der Regierung Conte jeder irgendwie sein Lieblingsprojekt unterbringen, sondern ein stringentes, klares Konzept entwickelt werden. Für das Italien von morgen eben. Am Italien von morgen haben sehr viele Menschen teil, dennoch wurde der Plan, diese Zukunft zu gestalten, in die Hände von einigen wenigen Experten gelegt: Dem Ministerpräsidenten und seinen „technischen“ Minister:innen. Wie der Minister für den Ökologischen Wandel, Roberto Cingolani, kürzlich im Fernsehsender La7 sagte: Ich habe einen klaren Auftrag, meinen Teil für den Recovery Plan zu schreiben, ich muss nicht eine Wählerschaft oder eine Partei repräsentieren.
Mag sein, dieses Herangehen erhöht die Qualität des 300-seitigen Papiers. Mag sein, man ist in Italien und anderswo in Europa heilfroh, dass Menschen vom Fach die Pläne für die Gesellschaft der nächsten Jahrzehnte schmieden. Mag auch sein, dass wenn die Kritik am Verfahren von Fratelli d’Italia kommt, sollte man schon aus Prinzip nicht darauf eingehen. 248 Milliarden für die Zukunft eines ganzenLand sind aber dennoch genug, wofür sich eine bereitere demokratische Debatte gelohnt hätte.