Stabil instabil

Italien steckt plötzlich mitten in einer Regierungskrise, die es in sich hat. Und das, weil… ja, warum eigentlich?

Grund 1: Die 5-Sterne-Bewegung

Giuseppe Conte

Der Auslöser in diesem Fall ist die Identitäts- und Führungskrise der Fünf-Sterne-Bewegung (M5S). Giuseppe Conte hat seine Rolle als politischer Führer nach Ende seiner Zeit als Regierungschef nie wirklich gefunden. Er sollte sich profilieren, der Bewegung eine neue, aber klare Linie geben und sich gegen innerparteiliche Kritiker und Konkurrenten durchsetzen. Nun, nichts davon ist ihm gelungen. In den sozialen Medien kursieren Witze, dass niemand so richtig weiß, wie es eigentlich dazu kommen konnte, dass er ernsthaft zwei Regierungen vorstand. Nicht erst in der jetzigen Phase wirkt Conte planlos, hin und hergerissen zwischen den verschiedenen Seelen des Movimento, zwischen der gouvernementalen und der ideologischen Linie. Es scheint sich nun deutlich zu bewahrheiten, was Matteo Renzi beim Sturz der Conte II-Regierung ihm um Vorwurf machte: Der Mann hat keinen Plan. Und keinen politischen Instinkt. Beziehungsweise fehlt ihm die Fähigkeit, Allianzen zu schmieden, Konkurrenten ins Boot zu holen, Pakte oder zumindest Kompromisse zu schließen. Wenn diese Fähigkeiten fehlen, ist es schwierig, eine zerrissene Partei wenigstens vorübergehend in ruhigere Fahrwasser zu bekommen.

Die Identitätskrise der 5-Sterne

Der Austritt des Außenministers und ehemaligen politischen Anführers Luigi di Maio und einer nennenswerten Anzahl an Abgeordneten und Senator:innen hatte sich lange angekündigt. Di Maio war in er bemerkenswerten persönlichen Weiterentwicklung immer mehr zu einem Abbild des unideologischen, pragmantischen Politikers geworden – nach Ansicht vieler Beobachter zu einem würdigen Nachfolger der Christdemokraten, die jahrzehntelang die Regierung stellten und die politischen Interessen austarierten. Nach Ansicht eines Teils seiner eigenen Partei war er damit beim „Marsch durch die Institutionen“ zum „A… der Institutionen“ geworden und hatte quasi Hochverrat an den Idealen der Bewegung genommen. Klebt an seinem Sessel. Erfüllt nicht den Wählerwillen. Macht sich gemein mit den politisch-ökonomischen Eliten, die man früher gemeinsam bekämpfte.

Nur wenn die einen in der Realpolitik ankommen und die anderen an ihren Idealen festhalten, wo führt das dann hin? Solche Häutungsprozesse machen wohl alle neuen politischen Kräfte durch, wenn sie länger Bestand haben. Nur leider hatten die 5-Sterne keine Führungsebene, die die Mitglieder und Anhänger:innen durch diesen Prozess geführt hätte. Der „Garant“ Beppe Grillo wurde immer wieder gerufen, um sein Placet zu geben oder eine Richtung zu weisen. Aber das waren kurze Intermezzi, teils widersprüchlich, teils kontraproduktiv. Einmal trat er als Joker auf, um die 5-Sterne von einer Koalition mit dem PD zu überzeugen – die sie vormals bekämpft hatten. Dann stellte er den – damals schon faktisch als künftigen Präsidenten feststehenden – Conte bloß, indem er ihm öffentlich wenig schmeichelhafte Kompetenzen – nämlich keine – attestierte. Nach der Abspaltung der „dimaiani“ kam er kurzerhand doch nicht nach Rom zum Krisengipfel. Gute Führung sieht anders aus. Giuseppe Conte sollte die Lücke füllen, aber: s.o. Luigi Di Maio hat, aller innerlichen Reifung zum Trotz, nie die Autorität und das Format einer wirklichen Führungskraft angenommen. Als er in dieser Position war, war der politische Kompass der Fünf-Sterne noch recht klar, und Di Maio ein Ausführender des Willens der Bewegung. Aber zu diesem Zeitpunkt galt noch unbestritten: uno vale l’altro, jeder ist ersetzbar.

Inzwischen weiß niemand mehr so recht, wofür die grillini stehen, und genau deshalb suchen sie Halt in ihren Wurzeln, rufen Diba – Alessandro Di Battista – der sich nie die Hände an einem politischen Amt schmutzig gemacht hat. Ein verzweifeltes Zurück-zu-den-Wurzeln der glorreichen Vaffa-Days verträgt sich aber schlecht mit Regierungsverantwortung.

Grund 2: Eine Regierung nationaler Einheit gestützt auf Populisten

Eine Expertenregierung, die politisch angewiesen ist auf die Unterstützung populistischer Parteien von rechts bis eher links. Das kann eigentlich nicht gut gehen. Und doch hatten alle die Hoffnung, dass Mario Draghi es zumindest für die Zeit von zwei Jahren hinbekommt, dass der Schrecken der Pandemie mit ihren vielen Toten und dem Einbruch der Wirtschaft lang genug wirkt, um alle zur Vernunft zu bringen. Doch schon früh fingen die ersten an zu wackeln, mit den Füßen zu scharren, weil sie zu viele Dinge, die sie versprechen wollten, nicht versprechen konnten, weil Mario Draghi eben pragmatisch-ernste Politik macht und keine umfragengesteuerten Social-Media-Kampagnen. Als konservativer Banker, sollte man meinen, hätte das Mitte-Rechts-Lager die geringeren Probleme mit seinen politischen Maßnahmen. Aber ein Matteo Salvini hat noch nie eine seriöse konservative Politik betrieben[1], sondern lieber den Sheriff gespielt. Deshalb war er auch der erste, der gegen die Regierung schoss, weil seine Umfragwerte sanken und Giorgia Meloni in der Opposition die besseren Karten zu haben schien. Deshalb war es zunächst die Lega, die an der Geschlossenheit der Regierung wackelte. Immer und immer wieder. Bis Mario Draghi schon zur Präsidentenwahl im Januar genug zu haben schien und lieber in den Quirinalspalast wechseln wollte. Daraus wurde bekanntlich nichts, aber die Mätzchen und Spielchen, um irgendwie in der Wählergunst zu steigen, waren ihm offensichtlich zuwider.

Matteo Salvini konnte sich die letzten Tage zurücklehnen und einfach beobachten, wie andere die unbeliebte Rolle desjenigen übernahmen, der die Regierung stürzt. Schließlich ist das immer ein Vabanque-Spiel, wer weiß, ob es einem die Wähler:innen wirklich danken. Aber das Problem der Populisten ist eben: Entweder, sie kriegen ihre lautstark proklamierten Forderungen durchgesetzt – oder sie müssen in die Opposition. Kompromiss ist keine Option. Eine Regierung der nationalen Einheit zu bilden, ist hingegen der Inbegriff der Kompromissfindung. Je näher das reguläre Ende der Legislatur im März 2023 rückte, desto unruhiger wurden also die Beteiligten, desto dringender die Profilierungssucht.  Nur hat der Regierungschef dafür wenig Verständnis.

Grund 3: Ein Premier mit Prinzipien – und wenig Verständnis für taktische Spiele

Mario Draghi meint es ernst. Er hatte mehr als einmal deutlich gesagt, zu welchen Bedingungen er bereit sei, diese Regierung zu führen. Diese wurden offenkundig überhört – oder seine Reaktion einkalkuliert, was jedoch insofern irritiert, als im Falle von Neuwahlen die 5-Sterne-Bewegung am stärksten verlieren würde. Aber zurück zu Draghi: Er war als Heilsbringer empfangen worden, als einer, der aus einer anderen Sphäre kommt und Italien retten, auf den rechten Weg zurückführen sollte. In gewisser Weise hat er diese Erwartung erfüllt. Mario Draghi hat Italien Reputation und Ansehen auf internationaler Ebene zurückgebracht, in international schwierigen Zeiten. Er hat sich als kompetenter Krisenmanager erwiesen, und dabei nicht einmal als der neoliberale Schrecken, als den ihn manche politischen Gegner in seiner Zentralbankchefrolle darstellten.

Allerdings hat auch Draghi recht bald erfahren müssen, dass es eine Kärrnerarbeit ist, in Italien Politik zu machen. Schwierig genug, Justizreformen auf den Weg zu bringen, die Teil des Wiederaufbauplans sind, Draghis Kerngeschäft also. Schwierig genug, Coronamaßnahmen zu erlassen, wenn ein Teil der Regierung nicht weiß, ob sie zu den Impfskeptikern gehören oder nicht. Aber dann: die Konzessionen für die Strandbäder, die Reform des Katasters, die Abschaffung des Superbonus 110, mit dem Häuser auf Staatskosten energetisch saniert werden sollten – oder ganz ohne Beteiligung des Premiers der so genannte ddl Zan, der sich gegen die Diskriminierung der LGBTQ-Comunity richtete und in einem offenen Kampf der in der Regierung vereinten politischen Lager endete. Zuletzt der Gesetzesentwurf für Unterstützungen der Bürger:innen in der aktuellen Energiekrise, aber da ging es schon gar nicht mehr um Inhalte. Alles Dinge, bei denen ein außenstehender meint, man müsse da recht geräuschlos zu Kompromissen finden. Nein, wenn Umfragewerte sinken, die Machtbasis in der eigenen Partei schwindet oder ganz real Kommunalwahlen verloren gehen, dann sitzt das Wams näher als die Hose, dann steht nicht mal das Interesse der eigenen Klientel – die Strandbadbetriebserlaubnisse mal außen vor – oder dasjenige der Partei, sondern sehr häufig einfach das ganz individuelle Interesse der in Schwierigkeiten geratenen Person ganz oben.

Entsprechend hoch dann die Geräuschkulisse zu parallel zu den Kabinettssitzungen. Mario Draghi hat nie einen Hehl daraus gemacht, wie sehr ihn das nervt. Auch in den letzten Tagen war die Ungeduld mit Giuseppe Conte spürbar, bei allem Verständnis für dessen Zwänge und inhaltliche Erwägungen. Aber irgendwann muss man sich halt auch einfach hinsetzen und eine Lösung ausarbeiten. Bloß dass es darum in den vielen politischen Krisen ja gerade nicht geht, sondern um die bewusste Herbeiführung eines Bruchs. Aber solche Spielchen spielt man nicht mit Mario Draghi. Er ist gedanklich stets mindestens genauso viel in der Welt der globalen Verflechtungen wie in der italienischen Innenpolitik. Und aus dieser Perspektive der globalen Ereignisse, aber auch der globalen Verantwortung erscheinen die Probleme eines Giuseppe Conte doch eher klein. Und dessen Zwang sie aufzubauschen doch mehr als ärgerlich.

Ob es Staatspräsident Mattarella gelingen wird, Mario Draghi zu einer Fortführung der Regierungsarbeit zu bewegen, ist derzeit mehr als fraglich. Denn vor allem wird es keine Garantie geben, dass das Verhandeln und Dazwischenschießen, das Stellen von Ultimaten und das Getöne gegenüber der Wählerschaft nicht in wenigen Wochen wieder losgehen, wenn die Wahlen näher rücken. Warum es also nicht jetzt schon beenden und die Parteien für das in die Verantwortung nehmen, was sie da veranstalten?

Kein Heil, durch niemanden

Es war sicher kein Fehler, Mario Draghi das Amt des Premierministers anzuvertrauen. Aber es war auch nicht die Lösung. Selbst wenn er noch für ein „bis“ weitermachen sollte, die Legislatur zu Ende bringt, letztlich muss sich Italien dem stellen, was Realität ist: Es hat eine unzureichende politische Klasse. Eine wahrscheinliche Mitte-Rechts-Regierung wäre nicht mehr die Katastrophe, die sie vor ein paar Monaten gewesen wäre, denn sowohl Russophilie wie auch EU-Feindlichkeit machen sich gerade nicht mehr wirklich bezahlt. Doch Stabilität würde auch sie nicht bringen, so sehr wie sich die beteiligten Parteien Lega, FdI und FI seit der Präsidentschaftswahl und den Kommunalwahlen zerfleischt, versöhnt, beharkt haben. Wenigstens würde nicht mehr ganz Europa am Selbstfindungsprozess der Fünf-Sterne beteiligt sein – dann nicht mehr. Zur Zeit tragen wir die Risiken einer Euro-Krise gerade mit, weil Conte eine schwache Führungsfigur ist. Apropos: Auch die EU müsste sich der Realität stellen, dass sie nicht dauerhaft die hoch verschuldeten Italiener durchziehen kann, sondern dass sie eine wirkliche Euro-Reform brauchen. Zur Zeit ist es, wie als würde man einen Schüler mit schlechten Leistungen trotzdem jedes Jahr durchkommen lassen, nur damit niemand merkt, dass die Unterrichtsmethoden vielleicht nicht ganz adäquat sind.

Italien steht nach wie vor vor einem enormen Berg an nötigen Reformen und Modernisierungen. Letzteres hat es gemein mit vielen europäischen Ländern. Die Energiekrise und ihre noch unabsehbaren Folgen machen es nicht besser. Auch das hat Italien gemein mit seinen Nachbarn. Über den eklatanten Wassermangel im Norden spricht gerade in politischen Zusammenhängen kaum einer, aber auch er ist eine enorme Belastung für Wirtschaft, Natur und Gesellschaft. Mit dem vorhandenen dysfunktionalen Politikbetrieb – explizit nicht: politischen System! – wird sich das nicht zum besseren wenden. Es brechen keine gute Zeiten an in Italien. Aber unausweichliche.


[1] Zugegeben, auch Silvio Berlusconis Forza Italia schmückt sich erst seit kurzem damit.

Nach den Kommunalwahlen in Italien

Ein paar grundlegende Überlegungen zum derzeitigen Zustand der italienischen Politik

Im Januar diesen Jahres stand Italien politisch mal wieder fast vor dem Abgrund. Die lange Zeit erfolglose Suche nach einem neuen Staatsoberhaupt mündete dann allerdings in größtmögliche Stabilität: Sergio Mattarella machte weiter, und auf dieser Grundlage auch Minsterratspräsident Mario Draghi. Das erleichterte die europäischen Beobachter:innen und seither ist es erwartbar ruhig geblieben. Mario Draghi tritt auch in der größten außenpolitischen Krise seit Jahrzehnten, dem Krieg Russlands gegen die Ukraine, äußerst souverän auf und macht auf internationalem Parkett gar eine bessere Figur als etwa der deutsche Kanzler. Das Irrlichtern überlässt er wie so oft den Parteichefs, die seine Regierung unterstützen. Ab und an flackert mal ein wenig Besorgnis auf, weil der spread wieder steigt und die Eurokrise zurückkommen könnte oder weil es mit der Umsetzung des PNRR, dem EU-finanzierten Wiederaufbauplan, stärker hapert als gedacht.

Das politische Armutszeugnis, das Italien Anfang diesen Jahres ablegte, als sämtliche Parteiführungen Führungsstärke, Verhandlungsgeschick und Kompromissbereitschaft vermissen ließen, scheint fast schon wieder vergessen und hallt wider in Meldungen, die aus dem Kuriositätenkabinett zu entstammen scheinen: ein Friedensplan für die Ukraine aus dem Außenministerum, der mit niemandem abgestimmt war und der die Adressat:innen offensichtlich nicht mal erreichte, eine geplante Moskaureise von Lega-Chef Salvini, die dann doch nicht stattfand – und auf noch niedrigerem Niveau sich in Fernsehsendungen wegen Russland prügelnde Gäste (darunter der schillernde Vittorio Sgarbi, dessen Überdauern in der politischen Arena man nur mit Verwunderung zur Kenntnis nehmen kann). Das alles wird überdeckt und überstrahlt von Draghis professionellen, sachlichen Agieren. So weit, so gut?

Nun waren am vergangenen Wochenende Kommunalwahlen in Italien. Nicht die ganz großen Städte und Kommunen, die waren schon früher dran. Aber doch einige Überraschungen: Leoluca Orlando in Palermo abgewählt. Mitte-Rechts erobert mehr Städte als Mitte-Links, die liegt aber in Verona – traditionell konservativ – vorne. Weniger überraschend: Verhaftungen palermitanischer Kandidat:innen wegen Mafia-Verbindungen. Fünf-Sterne mit desolaten Ergebnissen. Giorga Meloni überholt Matteo Salvini, sogar in den Stammregionen der Lega.

Dies alles ließe sich jetzt im Einzelnen analysieren, die Gründe für den Zerfall der Fünf-Sterne, der sich nun schon über Monate hinstreckt, für den Aufstieg Melonis und den Absturz von Salvinis Lega. Und wem die Beteiligung an Draghis Regierung mehr schadet, wem sie mehr nützt. Allein, die Aussagekraft wäre begrenzt, denn es sind alles nur Momentaufnahmen. Was in Italiens Politik fehlt, ist Kontinuität, Stabilität und eine Perspektive über wenige Monate und Jahre hinaus1. Und diese Feststellung schließt auch den derzeitigen Ministerratspräsidenten ein.

Wohin man auch schaut, es sind fast überall Einzelpersonen, die in Italien Hoffnung wecken, Höhenflüge durchleben, Parteien vor dem Untergang retten oder in ebendiesen hinunter ziehen. Matteo Salvini rettete durch eine strickte Fokussierung auf seine Person (und einen nationalistischen Kurs) die Lega aus dem Wahlergebnissetief – nur um wenige Jahre später aufgrund seines verlorengegangenen Instinkts für die richtigen Parolen sie genau dort wiederhinzuführen. Noch vor wenigen Jahren war Salvini der Schrecken aller proeuropäischen Geister, heute empfindet man fast Mitleid angesichts der Aneinanderreihung von unglücklichen Entscheidungen. Giuseppe Conte wurde inmitten der turbulenten und schwierigen Regierungsverantwortung der Fünf-Sterne zum Hoffnungsträger, mit dem die realpolitischen Verwerfungen der einst so idealistischen Bewegung doch noch überstanden werden sollten – wo doch schon der vormalige Gottvater dieses Sammelbeckens aus Protestler:innen, Beppe Grillo, kein zuverlässiger Fixpunkt mehr zu sein schien. Nun, Conte wurde Präsident, eine eigens für ihn geschaffene Position – mit geringem Erfolg. Die endgültige Vaporisierung des Movimento 5 Stelle scheint nur noch eine Frage der Zeit.

Warum sollte es also bei Giorgia Meloni, der neue Fixstern der italienischen Rechten, anders verlaufen? Derzeit hat sie den Vorteil, als einzige wirkliche Oppositionspartei kohärent agieren zu können und die einzige Alternative zur Regierung zu bilden. Sollten ihre Fratelli d’Italia tatsächlich bei den nationalen Wahlen im nächsten Frühjahr stärkste Kraft werden, hätten sie damit Anspruch, ihrerseits die Regierung anzuführen. Und dann? Auch Giorgia Meloni wäre auf eine Koalitionsregierung angewiesen. Es ist kaum zu erwarten, dass das Mitte-Rechts-Lager, das seit der Staatspräsidentenwahl im Januar schwer zerrüttet ist, bis dahin wesentlich harmonischer agiert. Der Zwang zur Profilierung würde bleiben, erst recht, wenn gegebenenfalls weitere Partner ins Boot geholt werden müssten. Und dann hätte auch Meloni damit zu kämpfen, was in den vergangenen Jahrzehnten fast alle italienischen Politiker:innen das Leben schwer machte: Die Fokussierung auf eine Person, die eine Richtung vorgibt und kompromisslos und authentisch den wahren Wählerwillen verkörpert – denn nichts anderes haben Berlusconi, Renzi, Salvini, Grillo usw. stets versprochen – steht im eklatanten Widerspruch zu den massiven Fliehkräften und Flügelkämpfen innerhalb einer jeden Regierung und in fast jeder Partei. Rasche Enttäuschung und Abwendung der Wähler:innen scheint da vorprogrammiert.

Was hat nun Mario Draghi damit zu tun? Augenscheinlich nicht viel. Ihm gelingt es derzeit, die Fliehkräfte weitgehend zu neutralisieren, dem Profilierungsgebaren immer wieder Einhalt zu gebieten, wenn es darauf ankommt. Er zieht durch. Aber: Entscheidend ist nicht sein persönlicher Erfolg. Dieser garantiert für einen kurzen Zeitraum eine rationale Politik, aber daraus entwickelt sich keine Perspektive für die Zeit nach Februar 2023. Draghi steht dann nicht zur Wahl, er ist im engen demokratischen Sinn der Wählerschaft nicht rechenschaftspflichtig. Die Wahlberechtigten können seinen Politikstil oder seine inhaltliche Linie nicht per Wahl befürworten und andere Positionen abstrafen. Denn die Linie Draghi ist nicht notwendigerweise deckungsgleich mit der Linie jener Parteien und Minister, die seine Politik stützen und mittels Beschlüssen und Gesetzen tragen. Sie tragen sie mit aus Notwendigkeit, nicht zwingend aus Überzeugung. Sie sind allerdings diejenigen, die 2023 wieder zur Wahl stehen. Somit verstärkt sich aber der Eindruck, an der Spitze der Politik müsse jemand stehen, der gegen Parteien und Fraktionen die Geschicke des Landes führt und konsequent seine eigenen Vorstellungen umsetzt. Auch Draghi wurde als Heilsbringer gefeiert und willkommen geheißen. Anders als bei vielen anderen blieb zwar die Enttäuschung aus, das Enddatum seiner Regierungszeit ist gleichwohl gesetzt. Gesucht wird also jemand, der es ihm gleichtun kann. Einer oder eine, die weise und im Interesse des Volkes handelt und die Egoismen der Partitokrat:innen ausschaltet. Die Versprechungen, die man sich in dieser Hinsicht von Populistinnen und von Technokraten macht, unterscheiden sich kaum.

Auch in einer anderen Hinsicht unterscheiden sich populistische und technokratische Politik nur in ihrer Richtung, nicht in ihrer Art: Die einen vertreten den Anspruch, als einzige den wahren demokratischen Willen zu vertreten, in ihrer jeweiligen Führungsfigur den Volkswillen zu verkörpern – und daher als einzige die „richtige“ Politik im Programm zu haben. Die anderen hingegen meinen, als einzige vernünftige Politik zu machen, den ökonomischen, finanz- und außenpolitischen Erfordernissen gerecht zu werden und daher – wegen ihrer Rationalität und ihres Fachwissens – die einzig „richtige“ Politik zu machen. Was dabei auf der Strecke bleibt, ist offensichtlich: Thematische Schwerpunkte zu setzen, zu sagen, welche Politikfelder besonders wichtig sind und wie sie geregelt werden sollen – und diese politischen Vorstellungen dann in den Wettbewerb mit anderen zu stellen und am Ende – oha! – mit diesen Wettbewerbern um Kompromisse zu ringen.

Davon ist Italien weit entfernt. Die kurze Ära Draghi wird daran bis Februar nächsten Jahres nichts Substanzielles geändert haben. Vielleicht ist bis dahin die ein oder andere Reform erfolgreich umgesetzt, vielleicht bleibt vieles Stückwerk und versandet. Für diese kurze Zeit waren und sind immerhin die europäischen Partner beruhigt und können sich anderen Schauplätzen und Sorgenkindern widmen. Vielleicht schlägt Draghi auf europäischer Ebene mit Macron noch ein paar Pflöcke ein, ehe Italien wieder als wenig ernstzunehmender Partner agiert. Wer bis dahin wie in den Umfragen liegt oder in der Stichwahl in einer Woche noch die ein oder andere Kommune erorbert, ist dabei weitgehend irrelevant.

1 Abgesehen von jener individuellen, mit der es einigen Personen immer wieder gelingt, hinter und unter allen Umbrüchen im Parlament zu bleiben.

Die Wahl des italienischen Staatspräsidenten 2022: institutionelle Konsequenzen I

Diese Wahl wird nicht ohne Folgen bleiben. In Italien wird nun die Direktwahl des Staatsoberhaupts und eine Reform des Wahlrechts diskutiert – mal wieder.

Der Palazzo Montecitorio, Sitz der italienischen Abgeordnetenkammer
Das Parlament im Zentrum der institutionellen Architektur Italiens, die wieder einmal auf dem Prüfstand steht.
Foto: Vlad Lesnov (Wikipedia) CC BY 3.0

Nach der Wiederwahl Sergio Mattarellas ins Amt des Staatspräsidenten sind sich die Kommentator:innen aus Politik und Medien zumindest in einem einig: So wie es ist, kann es nicht bleiben. Das desaströse Schauspiel einer zelebrierten Nicht-Wahl, in der sieben Wahlgänge lang die leeren Zettel und Enthaltungen dominierten und das auf Druck von unten, von den Mitgliedern der Wahlversammlung, sowie dem Einschalten des Premiers Draghi beendet wurde, ließ allen deutlich vor Augen treten, dass die aktuelle politische Führung Italiens es nicht kann. Sie kann keine Regierung bilden (2021) und sie kann keinen Präsidenten wählen (2022). Also muss etwas getan werden, und was läge näher, an den institutionellen Stellschrauben zu drehen.

Hätte man doch das Volk direkt wählen lassen, es wäre viel schneller zu einem Ergebnis gekommen. Manch einer (Renzi) verstieg sich sogar zu der Aussage, dies sei das letzte Mal gewesen, dass auf diese Weise das Staatsoberhaupt gewählt würde. Folgen wir also dem französischen oder amerikanischen Vorbild, nehmen wir den unfähigen Parteien die Entscheidung aus der Hand und legen sie in die Hände des Souveräns.

Die Vision eines semipräsidiellen Systems geisterte schon vor der Wahl durch die Medien, ins Spiel gebracht vom Lega-Minister Giorgetti, der sich gut vorstellen konnte, dass Mario Draghi die Regierungsgeschäfte auch vom Quirinalspalast weiterführen würde. Ein semipresidenzialismo di fatto in diesem Fall, ohne Reform und einfach durch die Kraft der Autorität – und die Schwäche der anderen. Die Post-Faschist:innen von Fratelli d’Italia haben die Direktwahl und die Umwandlung in ein Präsidialsystem noch immer in ihrem Parteiprogramm, eine Forderung, die schon die Vorgängerpartei Alleanza Nazionale in die Verfassungsreformen der 1990er Jahre einbrachte.

Direktwahl des Präsidenten als Lösung des Problems? Zweifel sind angebracht

Die Idee ist also keineswegs neu, ebensowenig wie ihre Begründung. Schon immer wurde als Grund für eine präsidiale Regierungsform die Schwäche des zersplitterten Parteiensystems, die schwierige Koalitionsbildung und geringe Verlässlichkeit der Fraktionen im Parlament, tatsächlich mit ihrer Regierung zu stimmen, herangeführt . Oft wurde als Beruhigung für diejenigen, welche die faschistische Vergangenheit Italiens durchaus als Mahnung verstehen und den „starken Mann“ mehr fürchten als herbeisehnen, dass in einem semipräsidiellen System der Präsident nur dann eine starke, dominante Rolle spielen würde, wenn das Parlament dazu nicht in der Lage wäre. Als ob nicht genau diese Situation in beunruhigender Regelmäßigkeit auftreten würde in Italien. Tatsächlich hat das Staatsoberhaupt in den vergangenen Jahrzehnten immer stärker diese Rolle eingenommen hat, welche die Befürworter:innen des Semipräsidentialismus skizziert hatten: Eine Ausfallbürgschaft gegen die Kapriolen des Parlaments. Nur, dass der Präsident nach wie vor keine Gesetze erlassen kann.

Sich in die Weisheit des Volkes retten zu wollen angesichts der offensichtlichen Unfähigkeit des politischen Spitzenpersonals, verlässliche Verhandlungen zu führen und Kompromisse zu schmieden, mag ein naheliegender Gedanke sein. Zumal die Unterstützung für ein Mattarella in der Bevölkerung sehr hoch gewesen war und weiter ist (und in lautstarken Publikumsäußerungen von der Mailänder Scala bis zum Festival di Sanremo zum Ausdruck gebracht wurde). Allerdings ist dies dieselbe Wählerschaft, die den Straßen-Populismus eines Matteo Salvini befeuerte, der nun auch zur Präsidentenwahl – erfolglos – den starken Mann markierte. Es ist dasselbe Wahlvolk, dass nun Giorgia Meloni hohe Zustimmungswerte einfahren lässt, weil sie mit markigen Sprüchen erst einmal gegen alles ist, aber für Patrioten und Italy first, was in Kombination mit einem Präsidialsystem nicht wirklich nach einem zukunftsfähigen Konzept klingt.

In den vergangenen Jahren wurden immer wieder Personen oder Parteien in Führungsverantwortung gebracht, mit denen sich eine gewisse Euphorie verband, dass nun alles besser werde. Dies gilt für die Technokraten Mario Monti und Mario Draghi genauso wie für Matteo Renzi und die Fünf-Sterne-Bewegung. Sie alle – bis auf Draghi bislang – stürzten innerhalb kürzerer Zeit wieder ab und verloren die Gunst der Wählerschaft so schnell, wie sie sie gewonnen hatten. Denn sie alle mussten Kompromisse eingehen, unangenehme Entscheidungen treffen, ihre Ideen in langwierigen Prozessen umsetzen – genug, damit „das Volk“ sie fallen ließ. Vom Heilsbringer zum Buhmann sind die Wege in Italien häufig kurz. Das muss nicht per se gegen eine Direktwahl sprechen. Niemand bereut etwa die Einführung der direkten Wahl zum Regionalspräsidenten oder zur Bürgermeisterin. Auf nationaler Ebene bekommt eine solche Wahl jedoch noch einmal ein anderes Gewicht, und die angeführten Beispiele zeigen, dass die Wählerschaft nicht immer weiser handelt als ihre Repräsentant:innen.

Weiterhin hätte die direkte Legitimation des Volkes notwendigerweise eine Veränderung des Amtes zur Folge. Das Staatsoberhaupt würde auf einer Ebene mit dem Parlament stehen und seine Legitimation direkt, nicht von ebendiesem Parlament abgeleitet erhalten. Dies ist demokratietheoretisch unproblematisch, doch es verändert das Verhältnis zwischen den beiden Organen. Bislang war in Italien stets das Parlament der höchste Ausdruck des Volkswillens, bei einer Direktwahl zöge der oder die Präsident:in der Republik gleich. Ihr Amt würde dadurch politischer, denn den Handlungen und Entscheidungen läge nun auch ein Mandat des Volkes zugrunde. Bislang sind es die grandi elettori, die Abgeordneten und Senatorinnen sowie Vertreter:innen der Regionen, 1009 Repräsentant:innen, die notwendigerweise die Vielfalt (und leider auch Fragmentierung) der politischen Landschaft abbilden, die zugleich aber gezwungen sind, eine breite Mehrheit zu finden. Genau was jetzt nicht gelang, war und ist noch die Grundlage des Präsidentenamtes: überparteilich, lagerübergreifend gewählt zu sein, um einen Verfassungsauftrag auszuüben: nämlich neutral den Erhalt und das Funktionieren der bestehenden institutionellen Ordnung zu gewährleisten.

Bei einer Direktwahl durch die Wahlberechtigten wäre ebenfalls mindestens die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen zu erreichen, soll das Staatsoberhaupt doch weiterhin die ganze Nation vertreten. Gleichwohl wäre damit eine Wahlkampagne verbunden, ein Werben um Stimmen, ein Ein- und Auftreten in einer bestimmten Sache. Das zieht die einen an, und schreckt die anderen ab. Der jetzige Charakter der Präsidentenwahl, der davon geprägt ist, dass Personen nominiert werden und deren Namen dann auf die weißen Zettel geschrieben werden, der also ein dezidiert passiver ist, würde gezwungenermaßen verloren gehen. Damit verliert sich auch der unpolitische Charakter, und bei allem Streben nach Überparteilichkeit ein Stück weit voraussichtlich auch die konstitutionell vorgesehene Neutralität, die Tradition des Notars.

Damit stellt sich zuletzt die Frage, wer die Kandidat:innen für das Amt des Staatsoberhaupts bei einer Direktwahl benennen soll. Es werden letztlich wohl wieder überwiegend die Parteien sein, die diese Aufgabe übernehmen. Dieselben Parteien, die in den vergangenen Tagen keine Kadidatin und keinen Kandidaten präsentieren konnten und sich teilweise über den Verlauf der Verhandlungen selbst zerlegten. Selbstverständlich besteht auch die Chance einer Bewerbung aus der Bevölkerung heraus, aber es wird ohne die Parteien kaum gehen. Übertragen wir die diesjährige Wahl in ein Direktwahlszenario, so hätte wahrscheinlich das Mitte-Rechts-Lager den oder die gewünschte „Patriot:in“ aufgestellt, auch wenn diese gewiss keine Akzeptanz im anderen Lager gefunden hätte. Mitte-Links hätte sich vielleicht gemeinsam mit dem Zentrum doch auf Mario Draghi einigen können, und falls nicht – wegen des Widerstands der 5-Sterne – einen anderen, aber schwächeren, unbekannteren Kandidaten aufgestellt. Vielleicht hätte es parallel eine Bürgerinitiative für ein Mattarella-Bis gegeben. Dann wäre unter Umständen das gleiche Ergebnis herausgekommen. Oder aber, etwa bei einem knappen Vorsprung von Mitte-Rechts, wäre ein dezidiert politischer, nicht neutraler Kandidat durchgekommen. Oder es wäre doch Mario Draghi geworden, was eine Umbildung der Regierung nach sich gezogen hätte, bei der Lega und FI angesichts ihrer Niederlage bei der Präsidentschaftswahl vielleicht Konsequenzen gezogen hätten.

Dies ist alles Spekulation, aber es zeigt, dass die Direktwahl des Staatsoberhaupts – trotz und gerade wegen des Verfalls des Parteiensystems nicht allein die Probleme löst. Vor allem, solange das Hauptproblem – die politische Kultur der Parteien und ihrer Führung – nicht gelöst ist.

Wer wird Italiens neuer Staatspräsident? (5)

Lauter weiße Zettel. In den ersten zwei Wahlgängen gab es keine ernsthaften Kandidaten, denn die Tauschgeschäfte sind noch nicht abgeschlossen.

Plakat: Cercasi candidato/candidata per la carica del presidente della repubblica italiana

Wenn es wenigstens ein Jahrmarkt der Eitelkeiten wäre, es hätte etwas unterhaltsames. Stattdessen wirkt die Situation rund um die Wahl des neuen Staatsoberhaupts in Italien eher wie ein Tauschmarkt, ein An- und Verkauf von Stimmen und Interessen. Noch dazu ein recht verzweifelter. Es werden geboten Eigenschaften der Kandidatin gegen Posten in der – möglichen – neuen Regierung, temporäre Allianzen gegen zukünftige Unterstützung bei Gesetzesvorhaben wie einer Wahlreform – gibst du mir das, geb ich dir das. Aber erst schau ich noch mal, was die anderen im Angebot haben.

„Di alto profilo“ sollen die Anwärter:innen auf das Amt sein, von hoher Qualität und Profilstärke, den höchsten Ansprüchen genügen. Denn schließlich soll er oder sie die Verfassung schützen und institutionelle Kontinuität gewährleisten. Neutral sein, eine Vertreterin der ganzen Nation, weise und am Wohl des Landes orientiert, gerade in Zeiten politischer Krisen.

Dafür, dass ein so hoher Anspruch besteht, werden die möglichen Kandidat:innen von denen, die sie wählen, geradezu verscherbelt. Ein bisschen mehr Einfluss hier, um besser in den nächsten Wahlkampf zu starten (das Innenministerium an Matteo Salvini). Ein bisschen mehr Nachsicht dort, sonst zerschlägt die Präsidentenwahl den Rest von Einigkeit, der in der Partei noch übrig ist (Conte, Fünf-Sterne). Irgendjemand, mit dem man mal einen richtigen Erfolg landen könnte – warum also nicht der, der schon einmal ein Erfolg war (Enrico Letta, PD, für Draghi oder Mattarella).

Die Wahl zum höchsten Amt im Staat – das zudem über die vergangenen Jahre immer wichtiger und einflussreicher geworden ist, in dem Maße, wie sich die parteipolitische Führung selbst im Weg stand – und die Parteien kandidieren NIEMANDEN in den ersten beiden Runden. Bloß keinen Fehler machen, bloß nicht zu früh aus der Deckung, wer weiß, wem das schadet. Wenn nur leere Zettel abgegeben werden, ist die Zahl der so genannten franchi tiratori, derjenigen, die aus dem Fraktionskonsens ausscheiden, erwartungsgemäß gering. Außerdem findet sich ja vielleicht noch ein Trumpf während der Verhandlungen und Gespräche im Hintergrund. Also lieber nichts riskieren.

Doch es hat etwas beschämendes, dass sich weder ein Lager noch eine Partei findet, jemanden zu kandidieren, auch wenn sie wissen, dass in den ersten drei Wahlgängen wohl keine Mehrheit zustande kommt. Es ist mutlos und taktisch, beides Eigenschaften, die sich nicht gut mit einem derart wichtigen Wahlvorgang (vgl. oben, Eigenschaften des Präsidenten der Republik) vereinbaren lassen. Ja, es ist möglich, dass eine Kandidatin aus den ersten Runden später nicht gewählt wird oder zurück zieht. Aber auch in diesem Wissen kann man oder frau erhobenen Hauptes eine Wahl antreten. Und dazu müssten die führenden Parteien ein paar Personen doch auch überzeugen können.

Doch diese sind ganz offenbar viel zu sehr damit beschäftigt, entweder aussichtsreiche Kandidat:innen und sich selbst nicht „zu verbrennen“ oder schlicht genug für sich rausholen zu können. Selbst wenn es am Ende doch noch Mario Draghi wird, weil sich Lega gegen Forza Italia doch noch dafür öffnet und Grillo mit Di Maio innerhalb der Fünf-Sterne, wie teuer wird diese Wahl erkauft sein, welche Zugeständnisse wird Draghi, werden die jeweiligen politischen Gegner gemacht haben müssen? Das spricht nicht gerade dafür, dass die nächste Regierung die wichtigen Reformen und die Umsetzung des nationalen Wiederaufbauplans an der Zukunft des Landes ausrichtet, sondern zu einem starken Anteil am Überleben der Parteien .

Wer wird Italiens neuer Staatspräsident? (4)

Alle Aufmerksamkeit liegt auf Berlusconi, dabei ist es unwahrscheinlich, dass er es wird.

Plakat: Cercasi candidato/candidata per la carica del presidente della repubblica italiana

Es fällt allen, die sich zur Zeit mit der Wahl zum Präsidenten oder der Präsidentin der Republik auseinandersetzen, natürlich schwer, nicht Silvio Berlusconi in den Blick zu nehmen. All die Gerichtsverfahren, die Verurteilung wegen Steuerhinterziehung, die Skandale um die Partys in seiner Villa, die per Parlamentsbeschluss geadelte Behauptung, die minderjährige „Escort“-Dame Ruby Rubacuore sei die Nichte des damaligen ägyptischen Präsidenten Mubarak… es gibt viel, worüber man mindestens den Kopf schütteln kann.

Dass er als Staatsoberhaupt den Vorsitz des Obersten Richterrates inne hätte, dass ein Portrait im Büro einer jeden Staatsanwältin und jedes Richters zu hängen hätte – ausgerechnet von Silvio Berlusconi, dessen politische Agenda jahrelang darin Bestand, Gesetze und Justizapparat zu seinen Gunsten zu gestalten. Dennoch: Dass Berlusconi tatsächlich Präsident wird, ist eher unwahrscheinlich, denn nicht einmal seine engen Verbündeten und die Koalitionäre des Mitte-Rechts-Lager sind wirklich von der Idee überzeugt.

Stunde der Wahrheit für Italiens Parteien

Dagegen ist das, was gerade im Hintergrund der Verhandlungen passiert, für das politische Schicksal Italiens viel wichtiger und schwerwiegender: Die Parteien und insbesondere ihre Spitzen sind nun, erstmalig seit Mario Draghi die Regierungsführung übernommen hat, aufgefordert, selbst eine tragfähige Lösung zu erarbeiten. Sie müssen unter Beweis stellen, dass sie eine lagerübergreifende Kandidatin oder einen Kandidaten finden können und gewährleisten, dass die eigenen Leute diese dann auch tatsächlich wählen.

In der letzten Regierungskrise, als Matteo Renzi der Conte II-Regierung das Vertrauen entzog, gelang es diesem nicht, eine neue parlamentarische Mehrheit zu bilden. Zuvor war es ihm und seinen Mitstreiter:innen in der Koalition nicht gelungen, ein Programm für die kommenden Jahre zu entwickeln, wie das viele Geld aus dem Recovery Fund der EU sinnvoll und nachhaltig auszugeben wäre. Planlosigkeit, Ideenlosigkeit, fehlendes Geschick, persönliche Interessen, mangelnde Fähigkeit zum Kompromiss und Konsens. Und das nicht etwa in einer Situation, in der der Gesellschaft Sozialkürzungen, Steuererhöhungen oder andere schwierige Reformen zuzumuten gewesen wären, sondern in der es Geld und Zukunftsaussichten zu verteilen gab.

Nicht zu Unrecht beklagt der ehemalige Verfassungsrichter Sabino Cassese in der Sendung Piazzapulita gestern, dass den italienischen Parteien die Fähigkeit zur Kohäsion fehle – und führte Deutschland als Gegenbeispiel an, wo unterschiedliche und gegenläufige Interessen durchaus in gemeinsamen Vorhaben und stabilen Koalitionen münden würden (Sendung vom 20.01.22). Zur Zeit steht vor allem fest, wer wen nicht wählen will: Cinque Stelle wehrt sich sowohl gegen Draghi als auch Berlusconi, der PD steuert auf eine zweite Amtszeit Mattarellas, wäre aber für Draghi offen, das Mitte-Rechts-Lager, in Erwartung einer klaren Aussage Berlusconis, ob er nun antritt oder nicht, bringen ein paar Namen ins Spiel, die jedoch wohl alle nichts bedeuten.

Viele Wahlgänge sind eher die Regel als die Ausnahme

Zur Erinnerung: Am Montag findet der erste Wahlgang statt. Nun ist es nicht so, dass üblicherweise das Staatsoberhaupt im ersten Wahlgang gewählt würde, im Gegenteil. Carlo D’Azeglio Ciampi und Francesco Cossiga genügte ein Urnengang, die meisten weiteren benötigten zumindest vier, fünf und schließlich gibt es die Fälle, in denen mehrere Tage und bis zu 23 Wahlgänge vonnöten waren, ehe ein Kandidat – bisher waren es stets Männer – die notwendigen Stimmen erhielt.

Schon werden Vergleiche angebracht zu den schwierigsten Wahlen, wie etwa jener 1992 von Oscar Luigi Scalfaro, zu dessen Wahl es 16 Wahlgänge und zwölf Tage benötigte. Damals steckte Italien allerdings in der größten Parteienkrise seit Beginn der Republik, das lässt sich kaum mit der Pandemielage von heute vergleichen. Allerdings sind die institutionellen Verflechtungen ein Problem: Je nachdem, wie die Wahl ausfällt, muss der Regierungschef ausgewechselt werden und je nachdem, ob hier eine mehrheitliche, d.h. quasi zwingend parteiübergreifende Lösung gefunden werden kann, stehen Neuwahlen an oder nicht. Das erhöht die Zahl der jeweiligen Interessen im Spiel, das erschwert die Entscheidungsfindung, weil mit zu vielen Variablen gleichzeitig gerechnet werden muss.

Gleichwohl kann der Schaden enorm sein, je nachdem, wessen Kandidat:innen in den einzelnen Wahlgängen durchfallen – für die betreffenden Personen selbst, aber auch für diejenigen, die sie aufgestellt haben. Gelingt es den Führungsspitzen der Parteien nicht oder nur schwer und auf den letzten Drücker, eine Einigung herbeizuführen, steht es um die zukünftige Regierungsfähigkeit Italiens eher schlecht. Natürlich könnte dennoch ein Regierung Draghi (oder eine ähnlich unpolitisch-technokratische Person) die Geschäfte bis ins Frühjahr 2023 fortführen, sodass kurzfristig nicht die große Krise droht. Doch wenn es heute keine Kompromissfähigkeit, Führungsstärke und Einigkeit – insbesondere innerhalb der Parteien – gibt, warum sollte dies Anfang nächsten Jahres anders sein?

Die nächste Woche wird entscheidend für die mittelfristige Zukunft des „Land des Jahres“.

Wer wird Italiens neuer Staatspräsident? (3)

Gerade geht nichts mehr. Die Kandidatensuche für Italiens Präsidenten erreicht – vorerst – einen toten Punkt

Plakat: Cercasi candidato/candidata per la carica del presidente della repubblica italiana

Das Mitte-Rechts-Lager hat Silvio Berlusconi ausgewählt, der nun eifrig Stimmen aus dem anderen Lager zu finden sucht. Doch glücklich ist mit dieser Kandidatur eigentlich niemand. Berlusconi ist wohl der am wenigsten wählbare Kandidat für weite Teile der Wahlversammlung. Sollte er scheitern, scheitern allerdings auch Matteo Salvini und Giorgia Meloni und disqualifizeren sich damit als zukünftiges politisches Führungspersonal, das spätestens mit den nächsten Wahlen im Frühjahr 2023 gebraucht wird.

Wenn Berlusconi aber gewählt würde, stünde Italien – mal wieder – in einem sehr schlechten Licht, ein failed state unter moralisch-kulturellen und politischen Gesichtspunkten. Gerade aktuell laufen wieder Prozesse wegen Falschaussagen derjenigen, die rings um Berlusconis Bunga-Bunga-Partys die jungen Frauen organisiert haben. Lange her, so scheint es, doch plötzlich wieder sehr präsent.

Der also nicht, lui no, aber wer dann? Im Augenblick kann sich niemand richtig aus der Deckung wagen, jeder neue Name wäre potenziell sofort verbrannt. Also halten sich alle bedeckt, das einzige, was zu sehen ist, ist Matteo Salvini, der sich vorsichtig aus der möglicherweise tödlichen Umarmung mit Berlusconi zu befreien versucht.

Mario Draghi derweil ist zum Nichtstun verurteilt. Als jemand, der selbst gern den Posten einnehmen möchte, kann er die eigentlich einflussreiche Karte des amtierenden Ministerpräsiden nicht ausspielen, sondern muss darauf setzen, dass sich die Chef:innen der großen Parteien ins Benehmen setzen.

Vor Mitte bis Ende dieser Woche sind also eher keine neuen Wendungen zu erwarten und selbst das könnte noch zu früh sein. So werden die Italiener:innen vorerst wieder damit leben müssen, dass die ganze Welt den Kopf über sie schüttelt.

Wer wird Italiens neuer Staatspräsident? (2)

Versprechen, die nicht gehalten werden (können)

Der Rückhalt für Berlusconi ist weniger stark als behauptet

Das Mitte-Rechts-Lager gibt sich geschlossen: Matteo Salvini, Chef der Lega, bekräftigt, dass seine Partei sich an die Vereinbarung halten und auf jeden Fall Silvio Berlusconi wählen wird, wenn er zur Wahl antritt. Gestern einigten sich die drei Parteien aus dem rechten Spektrum darauf, den ehemaligen Minsterpräsident zu unterstützen.

Doch vor, während und nach dem Treffen äußerten alle Beobachter:innen ihre Zweifel am Gehalt dieser Aussage. Denn Berlusconi ist nicht mehrheitsfähig. Das wissen eigentlich auch Salvini und Giorgia Meloni. Darauf deuten auch die weiteren Verlautbarungen des Legachefs hin: Wir werden sehen, ob wir eine Mehrheit haben… Weder Movimento5Stelle, die als Partei über die meisten Abgeordneten in der Wahlversammlung verfügen, noch der Partito Democratico werden Silvio Berlusconi unterstützen. Überhaupt gäbe es also Chancen ab dem 4. Wahlgang, wenn die notwendige Stimmanzahl auf 505 sinkt (von 1009 Wahlberechtigten). Deshalb ließ der Cavaliere über die schillernde Polit-Persönlichkeit Vittorio Sgarbi schon mal alle Parlamentarier:innen anrufen und versuchte sie zu überzeugen.

Eine Niederlage für den eigenen Kandidaten würde das Mitte-Rechts-Lager stark beschädigen. Sie wollen diejenigen sein, die nach der nächsten Wahl Italiens Regierung anführen. Sie wollen eine gewichtige, eine institutionelle Rolle spielen? Dann müssen sie jetzt zeigen, was sie können und das heißt in einer parlamentarischen Demokratie wie in Italien in diesem Fall: Dass sie für das überparteiliche Staatsoberhaupt auch überparteilichen Konsens generieren müssen. Also: eine Kandidatin oder einen Kandidaten finden, der auch für das andere Lager wählbar ist. Rein praktisch, um die notwendigen Stimmen zu bekommen, und politisch-konstitutionell, um dem Gedanken eines Repräsentanten der ganzen Nation gerecht zu werden.

Riskantes Spiel

Salvinis Versprechen, geschlossen hinter Silvio Berlusconi zu stehen, gilt also nur solange, wie weiter an Alternativen gearbeitet und letzterer vielleicht doch noch von einem Rückzug überzeugt werden kann. Insofern ist die Entscheidung von gestern schon wieder die Revision von morgen. Zumal Berlusconis überzeugendstes Argument, nämlich Neuwahlen zu verhindern, wohl ebenfalls kaum Bestand haben wird: Das linke Lager macht dermaßen klar, dass es Berlusconi nicht wollen und wählen wird, dass eine Wahl dem zum Trotz – und womöglich noch mit abgegriffenen Stimmen durch das gegnerische Lager – sofort die Regierungskoalition sprengen würde. Und da auch Regierungspartei Italia Viva überhaupt kein Interesse an Neuwahlen hat, werden sie kaum Berlusconi unterstützen – obwohl Parteichef Matteo Renzi sonst für alle möglichen taktischen Züge offen ist.

Meloni und Salvini spielen somit ein riskantes Spiel. Sie folgen dem Eigeninteresse des ehemalig starken Mannes der rechten, und machen ihn damit wieder stark, wenn ihnen nicht schnell ein Ausweg gelingt. In den undurchsichtigen geheimen Abstimmungen zur Präsidentenwahl mag die eine oder andere böse Überraschung lauern, an deren Ende ein gespaltenes Land, eine gesprengte Regierung und die verbrannte Figur Mario Draghi stehen könnte. Bleibt zu hoffen, die Taktik der beiden Parteichefs von Lega und Fratelli d’Italia geht auf und sie finden eine lagerübergreifende Einigung, die auch Berlusconi einen gesichtswahrenden Ausweg bereitet.