Eindeutiger Sieg, fragwürdiges Wahlsystem

Der Erfolg der Rechts-Koalition in Italien fiel deutlich aus und gibt Giorgia Meloni ein klares Mandat zu regieren. Dennoch sorgt das geltende Wahlsystem für Verzerrungen und Unklarheiten, die es dringend zu beheben gälte.

Grafik der Sitzverteilung in der Abgeordnetenkammer Italiens. Centrodestra mit 237 Sitzen, die Lega erhält davon 67. Zur Mehrheit reichen 201 Stimmen.

Keine Frage, die Parteien des rechten Spektrums Fratelli d’Italia, Lega, Forza Italia und Noi moderati handelten vor der ad hoc angesetzten Wahl schnell und klug, schmiedeten vorab eine Koalition und nutzten damit die Eigenheiten des italienischen Wahlsystems [LINK] zu ihren Gunsten: Sie teilten die Direktwahlkreise untereinander auf, anstatt dort jeweils in Konkurrenz zueinander anzutreten. 147 von 400 Sitzen werden in der Abgeordnetenkammer nach dem Prinzip first past the post vergeben, d.h. eine Stimme mehr genügt zum Sieg. 74 von 200 sind es im Senat. Ein strategischer Vorteil gegenüber dem linken Lager, dem es nicht gelang, eine entsprechende Einheit zu bilden und in dem daher – überwiegend – jede:r für sich antrat.

Mehr Sitze (und mehr Macht) für die Lega als das Gesamtergebnis hergibt – wie geht das?

Was für die Rechts-Koalition insgesamt von Vorteil war, hat für den eindeutigen Wahlsieger Fratelli d’Italia allerdings auch Nachteile. Im Vorfeld der Regierungsbildung musste Giorgia Meloni trotz des klaren Votums von 26 Prozent der Gesamtstimmen für FdI mit ihren Partnern und Konkurrenten Silvio Berlusconi und Matteo Salvini harte Kämpfe um die Besetzung von Ministerposten führen – obwohl diese mit lediglich 8.7 und 8.1 Prozent (Abgeordnetenkammer) deutlich abgeschlagen waren. Diese nominelle Schwächung, die aus dem Gesamtstimmenanteil hervorgeht, spiegelt sich nämlich nicht eindeutig in der Sitzverteilung wieder. Anders als im deutschen Wahlsystem werden die Direktmandate nicht mit dem proportionalen Gesamtergebnis einer Partei verrechnet, sondern sie kommen noch hinzu.

Wäre mit einem reinen Verhältniswahlrecht gewählt worden, so hätte die Lega beispielsweise lediglich 35 Sitze in der Abgeordnetenkammer erhalten, Forza Italia nur 32. Tatsächlich verfügen sie nun über 67 beziehungsweise 44 Sitze. Der Abstand zu Fratelli d’Italia mit 118 Sitzen fällt damit gerade im Falle der Lega wesentlich kleiner aus, als es bei einem rein proportionalen System der Fall gewesen wäre. Denn in dem Moment, wo die Rechts-Koalition die Direktwahlkreise untereinander aufteilte, musste sie sich auf Umfrage- und Erfahrungswerte stützen – und Giorgia Meloni selbstverständlich mit dem Machtbewusstsein zwei politischer Alphatiere kalkulieren. Zweier Alphatiere, die in ihrem stabilen Selbstbewusstsein und im Wissen um ihre früheren Erfolge durchaus nicht davon ausgegangen sind, die Führungsposition innerhalb der Koalition so eindeutig an „die Neue“ zu verlieren. Auch Meloni selbst wird kaum in dieser Dimension damit gerechnet haben, zudem war sie seit Auflösung der Parlamentskammern auf allen Ebenen darauf bedacht, möglichst viel Stabilität und Vertrauen in ihre zukünftige Regierung zu bekommen. Ihre tatsächliche Macht und Stärke konnte sie erst zuletzt ausspielen, als das Resultat fest stand und auf inhaltlicher Ebene plötzlich sie Italiens Verankerung im europäischen und atlantischen Verbund garantieren musste, gegenüber dem russophilen Irrlichtern Berlusconis und einiger Lega-Vertreter. Im Regierungsalltag wird sie gleichwohl auf die Geschlossenheit der Koalition angewiesen sein, in beiden Kammern. Einen Vorgeschmack auf kritische Abstimmungen gab es bereits bei der Wahl des Senatspräsidenten Ignazio La Russo, als Forza Italia nicht wie geplant abstimmte und La Russo nur mit Stimmen aus der Opposition ins Amt kam.

Für das politische System Italiens heißt dies zunächst, dass die wahrscheinlich wichtigste Opposition wie so häufig aus der Regierungsmehrheit selbst kommen wird – mit allen Risiken für die Stabilität und Dauer der Regierung Meloni. Allerdings hat das geltende Wahlsystem dafür gesorgt, dass ohne Neuwahl wohl kaum eine alternative Mehrheit zustande kommen wird. Allein das wird den Zusammenhalt der Koalition stärken, da die Anreize zum Aussteigen eher gering bzw. mit hohen Kosten verbunden sind (Neuwahlen). Demgegenüber wäre bei einem reinen Verhältniswahlrecht keine absolute Mehrheit für das rechte Lager zustandegekommen (43,8 Prozent, Camera, 44 Prozent Senato) und Italien hätte keinen klaren Wahlsieger gehabt. Welche negativen Auswirkungen große, lagerübergreifende Koalitionen für die Stabilität der Regierungen und damit für das politische Vorankommen des Landes haben, haben die die letzten beiden Legislaturperioden mehr als deutlich gezeigt.

Kandidaten-Flippern und fehlerhafte Wahlergebnisse. Das Wahlsystem leidet unter handwerklichen Fehlern

Nichtsdestoweniger bleibt das aktuelle Wahlgesetz reformbedürftig. So ist zum Beispiel wenig verständlich, weshalb das Votum für Direktkandidat:innen nicht unabhängig vom Kreuzchen für eine Parteiliste gemacht werden kann. Das würde nicht verhindern, dass Koalitionen sich vorab bei den Direktwahlkreise absprechen. Aber es gäbe der Wählerschaft mehr Wahlfreiheit – warum sollte nicht jemand eine Kandidatin des Terzo Polo wählen, in der Liste aber Fratelli d’Italia? Oder umgekehrt? Ein weiteres Ärgernis sind die mehrfachen Kandidaturen und das komplexe Auszählverfahren. Da Kandidat:innen in mehreren Direkt- und Listenwahlkreisen (uninominali e plurinominali) antreten können, entscheidet sich erst nach der Wahl, über welche der Positionen sie ins Parlament einziehen und wer dann an welcher Stelle für sie in den nicht genutzten Wahlkreisen nachrückt. Hinzu kommt der so genannten „Flipper-Effekte“, der durch den Abgleich der im Wahlkreis erreichten Quoten (und verbleibenden „höchsten Reste“, die nicht in einen vollständigen Sitz umgemünzt werden konnten) mit dem nationalen Ergebnis. Mit der Anpassung ans nationale Ergebnis wird einer Partei ihn ihrem schwächsten Wahlkreis ein Sitz genommen, den sie durch das regionale Ergebnis zu viel hatte, und einer anderen Partei zugeschlagen. Diese Verteilung erfolgt jedoch nur innerhalb der Stimmbezirke, insgesamt verliert die Partei keinen Sitz, weshalb es zu besagten Effekten in anderen Regionen kommt. Emanuele Bracco beschrieb das Phänomen für den Corriere della Sera so anschaulich, dass ich ihn hier – entnommen einem Artikel des Messaggero – schlicht zitieren möchte:

«Se 15.000 leghisti milanesi cambiassero idea e votassero Fratelli d’Italia, Fratelli d’Italia otterrebbe un seggio in più a Cagliari togliendolo a Forza Italia (i cui voti sono rimasti invariati). Forza Italia guadagnerebbe però un seggio in Basilicata, togliendolo alla Lega.» […] Con l’effetto paradossale […] che della serie di aggiustamenti dell’effetto flipper finisca vittima anche «un povero forzista sardo, che ha dovuto lasciare il suo posto a un collega lucano senza che i voti del suo partito siano cambiati né in Sardegna, né in Basilicata»

Il Messaggero, 26.08. 2022

Ein Sitz mehr für FdI in Cagliari, einen weniger dort für FI, dafür einen mehr in der Basilicata, wo die Lega einen Sitz verliert. Und ein Lukaner gewinnt den Sitz eines Sarden, ohne dass sich bei denen irgendwas getan hätte. Ähnlich verlief es mit Umberto Bossi, dem legendären früheren Parteichef der Lega Nord, passiert, der zunächst nicht wiedergewählt schien, schließlich aber doch noch ins Parlament einzog. Das Innenministerium, il Viminale, veröffentlichte vorläufige Ergebnislisten, die später mehrfach korrigiert werden mussten. Auch, weil den Verantwortlichen der Fehler unterlaufen war, die Partei +Europa bei der Stimmverteilung innerhalb der Koalition zu berücksichtigen, auch wenn diese unter der Drei-Prozent-Hürde gelegen hatte. Denn da sie in Koalition mit dem PD angetreten waren, mussten sie dennoch berücksichtigt werden – in Koalitionen liegt die Hürde bei nur einem Prozent.

Blockierte Listen ohne Präferenzstimmen und dennoch Unklarheit, wer eigentlich über welche Liste einzieht

Die Schwierigkeiten in der korrekten Sitzverteilung schaffen Unsicherheiten und Unklarheiten, nicht nur bei den betroffenen Parlamentsmitgliedern. Und das obwohl den Italiener:innen nicht einmal eines ihrer liebsten Wahlinstrumente zur Verfügung steht: die Präferenz. Damit können sie innerhalb einer Parteiliste einen Kandidaten oder eine Kandidatin bevorzugen, der oder die dann bei ausreichend erhaltenen Präferenzen innerhalb der Liste aufsteigt (in Deutschland gibt es das in ähnlicher Form des Kumulierens – wenn mehrere Präferenzstimmen zur Verfügung stehen – auf kommunaler Ebene). Dies wird als wichtiges demokratisches Instrument gegen die Macht der Parteispitzen gesehen, welche die Listen bestimmen. Denn in Italien hat zumeist der Parteichef oder die Chefin das Sagen darüber, wer auf die guten Listenplätze kommt – ein Grund, weshalb etwa Matteo Renzi lange nach dem Ende seiner Erfolgsphase noch zahlreiche Gefolgsleute in der Fraktion des PD hatte und weshalb Matteo Salvini trotz wachsender interner Kritik auf ausreichend Loyalität in der heutigen Lega-Fraktion setzen kann: Es sind „seine“ Leute, die dort sitzen.

Diese Präferenzabgabe gibt es nicht mehr, und trotzdem – oder auch: zudem – ist nicht ganz klar, wer wie über welche Liste nun ins Parlament gekommen ist. Das ist ein Manko und sollte eine Korrektur sein, die auch ohne gänzlich neues Wahlgesetz von der neuen Regierung behoben werden kann und sollte. Denn wenn die Wählerschaft nicht mehr versteht, welchen Effekt ihr Votum eigentlich hat, so schadet dies dem Vertrauen in das demokratische System.

Die Regeln des Spiels.

Der Partito Democratico moniert das Wahlsystem, Giorgia Meloni will ein Präsidialsystem einführen. Wie so oft sind in Italien die politischen Spielregeln Teil des politischen Wettkampfs.

Spielbrett mit Würfel

Am 25. September wählt Italien ein neues Parlament und bekommt eine neue Regierung. Ganz Europa und ein Teil der Welt schaut besorgt auf das Land und den Wahlausgang. Neben den inhaltlichen Fragen um internationale Ausrichtung, Minderheitenrechte oder Fiskalpolitik werden in Italien auch wieder institutionelle Fragen diskutiert, vom Wahlgesetz bis zur angekündigten Direktwahl des Staatsoberhaupts. Erneut sind damit die demokratisch-rechtlichen Spielregeln Teil der politischen Auseinandersetzung, anstatt dass sie die allseits akzeptierte Grundlage für den Wettbewerb der Parteien bilden. Italiens politische Instabilität rührt auch daher.

Das Rosatellum. Ein Wahlgesetz, das heute nicht mehr (allen) gefällt

So äußern sich insbesondere Vertreter:innen des Partito Democratico negativ über das geltende Wahlgesetz, das so genannte Rosatellum. Enrico Letta, Vorsitzender des Partito Democratico, schlug kürzlich Alarm, das Rechts-Bündnis könne wegen dieses schlechtesten Wahlgesetzes, das das Land je gesehen habe, eine Zweidrittelmehrheit holen: „La peggiore legge elettorale che ha visto il nostro Paese potrebbe dare uno scenario da incubo: con il 43 per cento dei voti la destra potrebbe arrivare al 70 per cento dei seggi in Parlamento„, zitiert ihn La Repubblica. Auch der Mailänder Oberbürgermeister Sala, stets für den PD angetreten, schimpfte über das schlechte Wahlsystem. Da sollte niemand so genau nachfragen, wer denn dieses Wahlgesetz eigentlich zu verantworten hat. Dies war nämlich federführend der Partito Democratico selbst, in Allianz mit den heutigen politischen Gegnern FI und Lega. Mit diesem 2017 beschlossenen und nach Ettore Rosato (damals Fraktionsvorsitzender PD) benannten Gesetz haben sie sich ganz offensichtlich selbst keinen Gefallen getan. Denn da der PD nicht in einer nennenswerten Koalition, sondern vornehmlich allein antritt, hat er kaum eine Chance auf eine Regierungsoption – obgleich er wahrscheinlich zweitstärkste Kraft werden wird. Warum? Weil das Wahlgesetz belohnt, wer vor der Wahl Koalitionen bildet, und wer allein kämpft, kämpft schon auf verlorenem Posten. Wie kam es dazu?

Als das Verfassungsgericht 2017 das so genannte, von Matteo Renzi erdachte Italicum in den Teilen für verfassungswidrig erklärte, wo es aus einer nicht vorhandenen Stimmenmehrheit gleichwohl und unverhältnismäßig eine Parlamentsmehrheit kreieren wollte, hatte Italien übergangsweise einen Wahlmodus nach Verhältniswahlrecht. Das wollte der Gesetzgeber aufgreifen, und dazu sollte das deutsche Modell Pate stehen: Ein Mix aus Mehrheits- und Verhältniswahlrecht. Deshalb wird ein geringerer Teil durch Direktkandidaten nach einfachem Mehrheitsprinzip gewählt, der Rest proportional nach Stimmanteil der Listen. Die Sache hat nur einen Haken: Es gibt kein voto disgiunto, das heißt, wähle ich den Direktkandidaten, wähle ich auch dessen Liste. Und umgekehrt. Und anders als in Deutschland gibt es keine Überhangmandate, mit denen am Ende die Sitzverteilung im Parlament die Stimmanteile der Listenwahl widerspiegelt. Wenn aber bereits eine fettes Stück Torte durch die Direktmandate vergeben wird, ist es umso wichtiger, diese zu gewinnen. Und wenn man diese gewinnt, dann hat man auch schon einen großen Teil der Listenplätze für sich entschieden. Also bietet sich an, Koalitionen zu bilden und die Wahlkreise unter sich aufzuteilen. Genau das ist in den letzten Wochen geschehen, dem PD sind allerdings die Koalitionspartner abhanden gekommen.

Damit wendet sich die Ausrichtung des Wahlgesetz gegen ihre eigenen Ideatoren. Damals – es ist gerade einmal fünf Jahre her – hatte insbesondere die Fünf-Sterne-Bewegung wenig Aussichten auf Bildung einer Koalition im Vorfeld einer Wahl. Diese potenzielle Schwächung der aufstrebenden Oppositionspartei lief ins Leere, M5S wurde Wahlsieger und war an allen drei Regierungen dieser Legislatur maßgeblich beteiligt – anders als übrigens an der Gestaltung des Wahlgesetzes selbst. Nachdem nämlich ein erster Entwurf noch mit ihnen zusammen ausgearbeitet worden war, genügte ein zusätzlich eingebrachter Änderungsantrag bezüglich des Trentino, der dem PD nicht gefiel, um den Pakt für eine der zentralen institutionellen Reformen zu zerstören.

Eine solche auf Eigeninteressen beruhende Änderung des Wahlsystems ist leider nichts Neues: Der Vorgänger des Rosatellum, besagtes Italicum, wurde zwar niemals angewendet, war aber in der Gestaltung ganz den Vorstellungen des damaligen Parteivorsitzenden des PD, Matteo Renzi, nach gestaltet: 40 Prozent der Stimmen sollten reichen, um einen Mehrheitsbonus an Parlamentssitzen zu erhalten – wie viel Prozent hatte der PD kurz zuvor bei den Europawahlen geholt? Genau, 40. Außerdem hätte er sich den Einfluss auf die Besetzung der Spitzenlistenplätze gesichert, was seine Führungsstil entsprach. Das so genannte Porcellum – der Name spricht für sich: eine Schweinerei – von 2005 war nicht wirklich besser. Hier wurde das Wahlgesetz als Interessensausgleich für die parallel vorbereitete Verfassungsreform verwendet, und insbesondere den kleineren Parteien entgegengekommen. Am Ende kam etwas heraus, das eine gesicherte Mehrheit in beiden Parlamentskammern schier unmöglich machte – die aber beide die Regierung stützen. Die Verfassungsreform trat bekanntlich nicht in Kraft, das Wahlgesetz aber blieb.

Insofern ist das Rosatellum kaum das schlechteste Wahlgesetz aller Zeiten, wie Enrico Letta konstatierte, aber es ist sicher auch nicht besonders gut. Deshalb wurde vor einigen Monaten noch über eine erneute Reform diskutiert, die dann wahrscheinlich der heutigen Interessenlage der Parteien entsprochen hätte. Und das heißt weniger: Welches System tariert am besten Repräsentation des Wählerwillens und Regierungsfähigkeit miteinander aus?, sondern vor allem: mit welchem Syste habe ich, Partei x, die besten Aussichten auf einen Wahlsieg? Allein, zur Zeit ist die Rechts-Koalition sicher ganz zufrieden mit der Aussicht, auch mit einer relativen Mehrheit eine verfassungsändernde parlamentarische Mehrheit erlangen zu können. Was direkt überleitet zur nächsten institutionellen Frage, der Einführung des Präsidialsystems.

Lieblingsprojekt der Rechten: Ein präsidiales System

Giorgia Meloni hat es in ihren Wahlkampfauftritten unterstrichen: Ihre Partei Fratelli d’Italia strebt die Direktwahl des Staatsoberhauptes an. Erst im Mai diesen Jahres hatten sie einen entsprechenden Gesetzesenwurf ins Parlament zur Abstimmung gegeben. Liest man des Gesetzestext und hört man Melonis Argumentation, kommt einem das alles äußerst bekannt vor. Das Präsidialsystem wäre an jenes in Frankreich angelehnt, die Bürger:innen bekämen mehr Einfluss, das Staatsoberhaupt mehr Rechte gegenüber dem sich zu oft als unfähig erweisenden Parlament und diese ganzen Hinterzimmer-Beschlüsse zur Bildung einer Regierung hätten endlich ein Ende. Wer möchte, kann das Pro und Contra für ein solches System in den Protokollen der verfassungsgebenden Versammlung Italiens nachlesen, oder in jenen der Commissione Bicamerale, mit der 1997 der Versuch einer umfassenden Verfassungsreform in Angriff genommen wurde. Die einen erhoffen sich davon eine einende Figur, die politische Programme oberhalb des oft fragmentierten Parlaments, in dem es häufig zu Austritten aus und Neubildungen von Fraktionen kommt. Dass mit einem auf fünf Jahre direkt gewählten Präsidenten – bisher waren es immer Männer – endlich die notwendige politische Stabilität einkehren würde. Die anderen fürchten, dass in einem nach wie vor oder immer wieder anders gespaltenen Italien ein Präsident aus einem der politischen Lager genau diese Spaltung weiter vertiefen könnte. Dass zudem die in den vergangenen Jahren so wichtig gewordene Figur des Staatsoberhaupts als mäßigendem Hüter der Spielregeln, als Garant für institutionelle Stabilität, aber nicht für politische Programmatik, ersatzlos wegfallen würde und dem Auf und Ab des politischen Wettbewerbs und dem Wankelmut der italiensichen Wählerschaft (siehe dazu auch den Artikel von Ulrich Ladurner in der aktuellen Ausgabe der Zeit) ausgesetzt würde.

Das Problem an der Idee des Präsidialsystems ist nicht, dass es per se schlecht für Italien wäre oder dass es der erste Schritt Melonis in ein neues faschistisches System bedeuten würde. Das Problem ist die durchaus reale Gefahr, dass die Reform entgegen den jetzigen Beteuerungen auch ohne Einbindung der Opposition durchgezogen werden könnte. Präzedenzfälle für Verfassungsreformen eines einzelnen politischen Lagers gibt es genug – 2001, 2005, 2015 – und eine Einigung mit dem PD scheint derzeit mehr als unwahrscheinlich. Erst recht wäre dieses Szenario zu erwarten, wenn FdI, Lega und Forza Italia gemeinsam wirklich mehr als zwei Drittel der Parlamentssitze erhalten sollten. Denn dann gäbe es nicht einmal die Möglichkeit, per Verfassungsreferendum über die Reform abzustimmen, das heißt, man bräuchte keine Mobilisierung der Opposition dafür befürchten. Da die Zweidrittelmehrheit aber nur eine parlamentarische, keine reale wäre, bekäme Italien erneut eine institutionelle Reform nach dem Gusto der derzeit Regierenden.

Die Spielregeln bestimmt, wer regiert?

Doch die Vielzahl an interessengeleiteten institutionellen Reformen hat Italiens politisches System – neben einigen anderen Faktoren – über die letzten Jahrzehnte geschwächt und willkürlicher erscheinen lassen. Es gab immer zwar wieder Momente, die zeigten, dass das bestehende System doch hält und funktioniert – zuletzt etwa bei Mattarellas Wiederwahl, die letztlich von den Abgeordneten ausging, oder bei den Verfassungsreferenden 2006 und 2016, in denen eben die weit reichenden, aber von einer Seite kommenden (und zudem schlecht ausgearbeiteten) Reformen verhindert wurden. Was würde es für Italien bedeuten, wenn Fratelli d’Italia den Präsidentialismus als ihr Lieblingsprojekt tatsächlich realisieren würden? Wahrscheinlich gespickt mit faulen Kompromissen mit der Lega und Forza Italia, die dann ihrerseits gern ein paar institutionelle Lieblingsprojekte verwirklicht sehen wollen (im Falle der Lega: Mehr Förderalismus; bei Forza Italia wohl eine Entschädigung dafür, dass es nicht die starke premiership geworden ist). Denn darum geht es leider: Dass Parteien oder politische Lager ihre Prestigeprojekte umgesetzt sehen wollen. So wie die Fünf-Sterne unbedingt die Reduktion der Parlamentarier:innen wollten – und mithilfe des PD auch bekommen haben.

Und nun stehen sie da und müssen zusehen, dass diese Reduktion und das Wahlgesetz nur sie selbst als Opposition schwächen und sie somit daran mitgewirkt haben, die Bahn frei zu machen für noch eine größere, einseitige Reform. Eine Chance, etwas daran zu ändern, gäbe es schlechtestenfalls nur noch, wenn sie selbst wieder an die Regierung kommen. Die Regeln des politischen Spiels aber werden dann endgültig zu dem, was sie genau nicht sein sollten: Ein Instrument in der Hand der Regierenden.

Was jetzt Salvini noch stoppen könnte

M5S, PD und FI diskutieren über Verfassungsänderung und Änderung des Wahlgesetzes

Politisch heiße Zeiten in Italiens Hauptstadt Rom. Alle Zeichen deuten auf Neuwahlen – oder doch nicht?! Bild: Pixabay

Während Matteo Salvini überall tönt, dass es so schnell wie möglich an die Wahlurnen gehen soll, formiert sich langsam und im Hintergrund eine neue, eigentümliche Allianz: Fünf-Sterne-Bewegung, der linke und der Renzi-Flügel der PD, sogar Berlusconis Forza Italia finden plötzlich ein gemeinsames Ziel, denn sie alle wollen Neuwahlen erst einmal verhindern und so lange wie möglich rauszögern.

Der Hauptgrund: Bei Neuwahlen hätte zur Zeit nur die Lega etwas zu gewinnen. Und bei manchem mag neben Eigeninteressen auch die Sorge mitschwingen, was aus Italien würde, sollte Salvini tatsächlich fünf Jahre lang allein regieren.

Allerdings ist das Ziel, Neuwahlen hinauszuzögern, so ziemlich das einzige, worauf sich die verschiedenen Parteien einigen können. Deshalb ist es höchst unwahrscheinlich, dass sich nach dem Sturz der jetzigen Regierung eine neue Mehrheit finden wird, um den Rest der noch langen Legislatur gemeinsam zu Ende zu bringen. Deshalb denken die politischen Kontrahenten über ein governo costituzionale, eine „Verfassungsregierung“ nach.

Ihre Aufgabe wäre es, den laufenden Gesetzgebungsprozess zur Änderung der Verfassung zu Ende zu bringen, mit dem die Zahl der Parlamentarier*innen reduziert wird. Eine Herzensangelegenheit der Fünf-Sterne – ebenso wie übrigens die Abstimmung zur Hochgeschwindigkeitsstrecke Torino-Lione (TAV), die Auslöser für die jetzige Regierungskrise war. Die Fünf-Sterne scheinen zu verstehen, dass sie an ihren Inhalten festhalten müssen, wollen sie politisch irgendwie überleben.

Die Verfassungsänderung zu Ende bringen und, als Entgegenkommen für den Partito Democratico, gleich noch eine Änderung des Wahlgesetzes hinterher schieben – das wären die Aufgaben der neu zu bildenden Regierung. Wenn dies erledigt ist, würde man zu Neuwahlen schreiten. Mit einem Verhältniswahlrecht, geht es nach den Vorstellungen von PD und M5S. Die Hoffnung ist, dass mit der Zeit und dem neuen Wahlrecht die derzeit überbordenden Chancen von Salvini eingedämmt werden können.

So vage diese Hoffnung ist, so kritisch muss dieses Vorhaben betrachtet werden: Hier soll in kürzester Zeit erneut das Wahlgesetz geändert (nach 2015 und 2017) und eine Verfassungsänderung verabschiedet werden, der sich der PD bislang immer entgegengestellt hat. Verfassungsänderung als taktisches Manöver, um Wahlchancen zu verbessern? Erneut werden die Grundlagen des demokratischen Staates in Italien zum Spielball politischer Interessen.

Maike Heber