Und täglich grüßt das Murmeltier: Eine Verfassungsreform!

Giorgia Meloni gibt ein wenig überraschend den Startschuss für eine Reformierung des Regierungssystems. Neu ist das Vorhaben nicht.

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Giorgia Meloni hatte sie seit Jahren gefordert und im Wahlkampf angekündigt, und dennoch schien es so vieles zu geben, was wichtiger war als eine Verfassungsreform. Nun, nach etwas mehr als einem halben Jahr im Amt, will ihre Regierungsmehrheit ernst machen. Erste Gespräche mit der Opposition sind anberaumt, vorsichtige Gesprächsbereitschaft wird signalisiert. Eine Verfassungsreform. Mal wieder. 2016 ist die letzte gescheitert, und mit ihr krachend die vielversprechende Karriere des Matteo Renzi. Oder war es umgekehrt? Der Karriere von Silvio Berlusconi konnte seine gescheiterte Verfassungsreform von 2006 wenig anhaben, dem Ansehen der Verfassung hat sie allerdings umso mehr geschadet. Jetzt also ein neuer Anlauf und es ist noch offen, ob dieser eher der Regierung schaden wird oder der konstitutionellen Demokratie Italiens.

In der aktuellen Debatte fallen zwei Dinge auf: Erstens sind es dieselben Argumente wie vor 15, 20 Jahren, sowohl in den Zielen wie in den Begründungen. Zweitens haben diese Jahrzehnte der Schrauberei an den Grundlagen der politischen Ordnung dazu geführt, dass so einige fundamentale Prämissen verrutscht sind. Zu ersterem: Stabilere Regierungen und eine direkte Verbindung zwischen Wahlvolk und Regierung, darin besteht Melonis erklärtes Ziel der Reform. Entweder ein (Semi-)Präsidialsystemine oder eine Direktwahl des Premiers, einhergehend mit der Stärkung ihrer Kompetenzen. Parlamentarische Demokratie aus dieser Sicht? Verlangsamt lediglich die Prozesse und bietet zu viel Raum für Mauscheleien und Abtrünnige (= Sturz bestehender und Installation neuer, im schlimmsten Fall: technokratischer Regierungen). Damit will die Regierung Meloni endlich Schluss machen, so wie zahlreiche Regierungen vor ihr. Dass sich die Fraktionen der Regierungsparteien – oder ihrer Vorgängerversionen – an genau solchen Mauscheleien, Fraktionswechseln, Regierungsstürzen genauso beteiligten wie an der Einsetzung technokratischer Regierungen – geschenkt. Dass es andere Wege gäbe, die Regierungschefin zu stärken als ihre Direktwahl einzurichten, wird immerhin als mögliche Kompromissvariante akzeptiert, aber nicht tatsächlich verfolgt.

Zu zweiterem: Meloni sagt, sie möchte eine möglichst breite Verständigung über die geplante Reform, aber so oder so habe sie das Mandat für eine solche Reform von den Italiener:innen erhalten. Hat sie das? Sie hat das Regierungsmandat erhalten, aber dezidiert eines, die grundlegenden Pfeiler des demokratischen Systems zu ändern? Bis zum „Sündenfall“ 2001/2002, als die damalige Mitte-Links-Regierung einzelne Verfassungsänderungen zur Kompetenzverteilung zwischen Regionen und Zentralstaat mit lediglich absoluter Mehrheit verabschiedete, galt in Italien eindeutig: Für eine Verfassungsreform wird eine Zweidrittelmehrheit benötigt. Dies war viele Jahrzehnte dem Umstand geschuldet, dass die vorgesehene „Notbremse“ für einen solchen Fall, das Verfassungsreferendum, nicht in Kraft gesetzt worden und damit nicht verfügbar war. Doch auch nach dessen Einrichtung hielt sich zumindest der Grundgedanke, dass eine signifikante Änderung der demokratischen Spielregeln das Einverständnis einer breiten Mehrheit bedürfe.

Davon ist nur noch in Ansätzen etwas zu spüren. Nachdem 2005/2006 die damalige Berlusconi-Regierung mit Verweis auf die linke Vorgängerregierung eine umfassende Reform des politischen Systems nur mit den Stimmen der Regierungsmehrheit durchs Parlament brachte, brach etwas weg im Verfassungsverständnis der politischen Elite. Eine Verfassungsreform war ein mögliches cavallo di battaglia, ein Profilierungsprojekt für das politische Lager. Auch Matteo Renzi zehn Jahre später, wählte nur anfangs den Ansatz einer lagerübergreifenden Reform. Als Allianzen zerbrachen und Widerstände aufkamen, zog er allein durch – und verlor. Dass beide Reformversuche an der Wählerschaft scheiterten, für die sie doch angeblich gemacht worden waren, wirkte kurzzeitig beruhigend auf die Lage. Benötigen wir wirklich solche tiefgreifenden Reformen? Und wenn ja, sollten sie dann nicht doch eher über eine Sonderkommission der Parlamentskammern ausgearbeitet werden, einer commissione bicamerale wie in den 1990er Jahren? Denn auch das war einmal common sense: Verfassungsreformen sind parlamentarische Initiativen, nicht Teil des (dezidiert politischen) Regierungsprogramms. Also bringt sie auch nicht die Regierung ein. Acqua passata.

Heute hat eine Meloni „das Mandat des Volkes“ für eine Verfassungsreform, heute fabuliert Matteo Salvini davon, dass – wenn die Opposition nicht will – eben das Volk sein Votum für die Reform geben wird. Ein bestätigendes Referendum existiert in Italien aber gar nicht. Es wurde darüber in den vergangenen Jahrzehnten schon öfter gestritten, denn nicht erst die Rechtspopulisten beschwören die direkte Verbindung zwischen Volk und Regierung(schef). Das öffentlich postulierte Demokratieverständnis dreht sich schon seit langem weg von der parlamentarischen Repräsentation hin zum vermeintlich unmittelbaren Ausdruck des Volkswillens durch die vermeintlich direkt bestellte Regierung. Und insbesondere deren Oberhaupt. Deshalb auch der dringende Wunsch nach einem direkt gewählten Staatschef oder eine direkt gewählten Premierministerin.

Die Frage, die sich dabei zum wiederholten Male stellt, lautet: Hilft eine solche Reform denn wirklich mehr als sie schadet? Erwächst Stabilität tatsächlich aus einer Direktwahl? Ist ein politisches System nicht nur immer so stark und stabil, wie es seine politischen Führungskräfte erlauben? Selbstverständlich hat ein französischer Präsident mehr Macht als ein italienischer Premier. In den letzten Jahren kann man beobachten, wie dies auch in Frankreich die Spaltung der Gesellschaft fördert und Umwälzungen im Parteiensystem nicht ausschließt. Das Vereinte Königreich, dieses andere glorreiche Beispiel vergangener Jahre für die Macht einer Regierungschefin, zeigt, dass der Verfall politischer Tugenden und Fähigkeit auch vor den traditionsreichsten Demokratien nicht Halt macht. Effektive Macht hängt an Autorität und Überzeugungskraft gegenüber den Beherrschten, an Disziplin und Loyalität der Parteien und Fraktionen gegenüber ihrer Führung.

Beides gab es in Italien über einen zu langen Zeitraum nicht. Mit der Ausnahme der Staatspräsidenten, die bei aller Kritik über die mögliche Ausdehnung ihrer Kompetenzen in den vergangenen Jahren immer wieder die fragile Stabilität des politischen Systems garantierten. Hinterzimmerpolitik, beschimpfen es die einen. Selbstschutz des Staates vor einer allzu oft unfähigen politischen Führung, könnte man es auch nennen. Und just dann, wenn die Staatspräsidenten wieder zu großer Form aufliefen, wirkte der Gedanke an ein Präsidialsystem besonders charmant. Zuletzt diskutierten Medien und Politik diese Frage, als im Raum stand, dass Mario Draghi ins Amt des Staatsoberhauptes wechseln könne. Für einen wie Draghi wäre ein solches Amt doch wie gemacht, welches Wohl überkame die italienische Nation mit einem mächtigen Presidente della Repubblica wie ihm?! Nur sind nun nicht viele der politischen Exponenten aus einem solchen Holz geschnitzt. Nicht viele haben ein solch tiefes Institutionenverständnis wie Amtsinhaber Sergio Mattarella, frei von egozentrischen Eskapaden. Eine Direktwahl des Staatsoberhauptes würde andere Kandidat:innen hervorbringen als die indirekte, durch hohe Mehrheiten regulierte Wahl mittels parlamentarischer Vollversammlung. Es wäre ein politischer Wettbewerb und die Parteichefs würden antreten: Salvini, Meloni, Schlein, Calenda. Oder früher: Renzi, Berlusconi. Vorstellbar? Natürlich. Wünschenswert? Da sind Zweifel angebracht. Die Wankelmütigkeit, die fehlende Qualität, der Egozentrismus würde kaum weichen, die Intrigen zwischen Parteien und innerhalb der Fraktionen ebensowenig. Was fehlen würde, wäre der externe Ausgleich, die hintergründige Steuerung und Beratung durch den Staatspräsidenten. Ein Sturz oder eine Abwahl des neuen Regierungsoberhaupts wäre schwieriger – dies könnte zu Anpassungen führen, in der Auswahl der Kandidat:innen, in der politischen Taktik, vielleicht zu mehr Ruhe in Gesetzgebungsvorhaben. So, wie es das positive Beispiel der Bürgermeister:innen und Regionalpräsidenten auf lokaler und regionaler Ebene vormachen. Das erhoffen sich die Befürworter:innen, die es ernst meinen mit dem Wohl der italienischen Demokratie. Allerdings: Italien ist kein ausgeprägter Förderalstaat, die Befugnisse von Regionalpräsident:innen sind nicht allzu groß. Einen heterogenen Staat wie Italien zu führen, ist noch einmal eine andere Liga. Insofern hat die Sorge der Gegner eines Präsidialsystems etwas für sich: eine stärkere Spaltung der Gesellschaft, eine weitere Stärkung der Mehrheitslogik ohne Rücksicht auf Minderheitenmeinungen (und womöglich sogar -rechte, blickt man auf die heutige Regierung). Die Unruhe würde sich verlagern, aber nicht verschwinden. Es wäre eine starke Regierung des einen Teils der Gesellschaft gegen die andere. Wohin das führen kann, sieht man an der dritten, „alten“ Demokratie dieser Welt, den USA.

Die Regeln des Spiels.

Der Partito Democratico moniert das Wahlsystem, Giorgia Meloni will ein Präsidialsystem einführen. Wie so oft sind in Italien die politischen Spielregeln Teil des politischen Wettkampfs.

Spielbrett mit Würfel

Am 25. September wählt Italien ein neues Parlament und bekommt eine neue Regierung. Ganz Europa und ein Teil der Welt schaut besorgt auf das Land und den Wahlausgang. Neben den inhaltlichen Fragen um internationale Ausrichtung, Minderheitenrechte oder Fiskalpolitik werden in Italien auch wieder institutionelle Fragen diskutiert, vom Wahlgesetz bis zur angekündigten Direktwahl des Staatsoberhaupts. Erneut sind damit die demokratisch-rechtlichen Spielregeln Teil der politischen Auseinandersetzung, anstatt dass sie die allseits akzeptierte Grundlage für den Wettbewerb der Parteien bilden. Italiens politische Instabilität rührt auch daher.

Das Rosatellum. Ein Wahlgesetz, das heute nicht mehr (allen) gefällt

So äußern sich insbesondere Vertreter:innen des Partito Democratico negativ über das geltende Wahlgesetz, das so genannte Rosatellum. Enrico Letta, Vorsitzender des Partito Democratico, schlug kürzlich Alarm, das Rechts-Bündnis könne wegen dieses schlechtesten Wahlgesetzes, das das Land je gesehen habe, eine Zweidrittelmehrheit holen: „La peggiore legge elettorale che ha visto il nostro Paese potrebbe dare uno scenario da incubo: con il 43 per cento dei voti la destra potrebbe arrivare al 70 per cento dei seggi in Parlamento„, zitiert ihn La Repubblica. Auch der Mailänder Oberbürgermeister Sala, stets für den PD angetreten, schimpfte über das schlechte Wahlsystem. Da sollte niemand so genau nachfragen, wer denn dieses Wahlgesetz eigentlich zu verantworten hat. Dies war nämlich federführend der Partito Democratico selbst, in Allianz mit den heutigen politischen Gegnern FI und Lega. Mit diesem 2017 beschlossenen und nach Ettore Rosato (damals Fraktionsvorsitzender PD) benannten Gesetz haben sie sich ganz offensichtlich selbst keinen Gefallen getan. Denn da der PD nicht in einer nennenswerten Koalition, sondern vornehmlich allein antritt, hat er kaum eine Chance auf eine Regierungsoption – obgleich er wahrscheinlich zweitstärkste Kraft werden wird. Warum? Weil das Wahlgesetz belohnt, wer vor der Wahl Koalitionen bildet, und wer allein kämpft, kämpft schon auf verlorenem Posten. Wie kam es dazu?

Als das Verfassungsgericht 2017 das so genannte, von Matteo Renzi erdachte Italicum in den Teilen für verfassungswidrig erklärte, wo es aus einer nicht vorhandenen Stimmenmehrheit gleichwohl und unverhältnismäßig eine Parlamentsmehrheit kreieren wollte, hatte Italien übergangsweise einen Wahlmodus nach Verhältniswahlrecht. Das wollte der Gesetzgeber aufgreifen, und dazu sollte das deutsche Modell Pate stehen: Ein Mix aus Mehrheits- und Verhältniswahlrecht. Deshalb wird ein geringerer Teil durch Direktkandidaten nach einfachem Mehrheitsprinzip gewählt, der Rest proportional nach Stimmanteil der Listen. Die Sache hat nur einen Haken: Es gibt kein voto disgiunto, das heißt, wähle ich den Direktkandidaten, wähle ich auch dessen Liste. Und umgekehrt. Und anders als in Deutschland gibt es keine Überhangmandate, mit denen am Ende die Sitzverteilung im Parlament die Stimmanteile der Listenwahl widerspiegelt. Wenn aber bereits eine fettes Stück Torte durch die Direktmandate vergeben wird, ist es umso wichtiger, diese zu gewinnen. Und wenn man diese gewinnt, dann hat man auch schon einen großen Teil der Listenplätze für sich entschieden. Also bietet sich an, Koalitionen zu bilden und die Wahlkreise unter sich aufzuteilen. Genau das ist in den letzten Wochen geschehen, dem PD sind allerdings die Koalitionspartner abhanden gekommen.

Damit wendet sich die Ausrichtung des Wahlgesetz gegen ihre eigenen Ideatoren. Damals – es ist gerade einmal fünf Jahre her – hatte insbesondere die Fünf-Sterne-Bewegung wenig Aussichten auf Bildung einer Koalition im Vorfeld einer Wahl. Diese potenzielle Schwächung der aufstrebenden Oppositionspartei lief ins Leere, M5S wurde Wahlsieger und war an allen drei Regierungen dieser Legislatur maßgeblich beteiligt – anders als übrigens an der Gestaltung des Wahlgesetzes selbst. Nachdem nämlich ein erster Entwurf noch mit ihnen zusammen ausgearbeitet worden war, genügte ein zusätzlich eingebrachter Änderungsantrag bezüglich des Trentino, der dem PD nicht gefiel, um den Pakt für eine der zentralen institutionellen Reformen zu zerstören.

Eine solche auf Eigeninteressen beruhende Änderung des Wahlsystems ist leider nichts Neues: Der Vorgänger des Rosatellum, besagtes Italicum, wurde zwar niemals angewendet, war aber in der Gestaltung ganz den Vorstellungen des damaligen Parteivorsitzenden des PD, Matteo Renzi, nach gestaltet: 40 Prozent der Stimmen sollten reichen, um einen Mehrheitsbonus an Parlamentssitzen zu erhalten – wie viel Prozent hatte der PD kurz zuvor bei den Europawahlen geholt? Genau, 40. Außerdem hätte er sich den Einfluss auf die Besetzung der Spitzenlistenplätze gesichert, was seine Führungsstil entsprach. Das so genannte Porcellum – der Name spricht für sich: eine Schweinerei – von 2005 war nicht wirklich besser. Hier wurde das Wahlgesetz als Interessensausgleich für die parallel vorbereitete Verfassungsreform verwendet, und insbesondere den kleineren Parteien entgegengekommen. Am Ende kam etwas heraus, das eine gesicherte Mehrheit in beiden Parlamentskammern schier unmöglich machte – die aber beide die Regierung stützen. Die Verfassungsreform trat bekanntlich nicht in Kraft, das Wahlgesetz aber blieb.

Insofern ist das Rosatellum kaum das schlechteste Wahlgesetz aller Zeiten, wie Enrico Letta konstatierte, aber es ist sicher auch nicht besonders gut. Deshalb wurde vor einigen Monaten noch über eine erneute Reform diskutiert, die dann wahrscheinlich der heutigen Interessenlage der Parteien entsprochen hätte. Und das heißt weniger: Welches System tariert am besten Repräsentation des Wählerwillens und Regierungsfähigkeit miteinander aus?, sondern vor allem: mit welchem Syste habe ich, Partei x, die besten Aussichten auf einen Wahlsieg? Allein, zur Zeit ist die Rechts-Koalition sicher ganz zufrieden mit der Aussicht, auch mit einer relativen Mehrheit eine verfassungsändernde parlamentarische Mehrheit erlangen zu können. Was direkt überleitet zur nächsten institutionellen Frage, der Einführung des Präsidialsystems.

Lieblingsprojekt der Rechten: Ein präsidiales System

Giorgia Meloni hat es in ihren Wahlkampfauftritten unterstrichen: Ihre Partei Fratelli d’Italia strebt die Direktwahl des Staatsoberhauptes an. Erst im Mai diesen Jahres hatten sie einen entsprechenden Gesetzesenwurf ins Parlament zur Abstimmung gegeben. Liest man des Gesetzestext und hört man Melonis Argumentation, kommt einem das alles äußerst bekannt vor. Das Präsidialsystem wäre an jenes in Frankreich angelehnt, die Bürger:innen bekämen mehr Einfluss, das Staatsoberhaupt mehr Rechte gegenüber dem sich zu oft als unfähig erweisenden Parlament und diese ganzen Hinterzimmer-Beschlüsse zur Bildung einer Regierung hätten endlich ein Ende. Wer möchte, kann das Pro und Contra für ein solches System in den Protokollen der verfassungsgebenden Versammlung Italiens nachlesen, oder in jenen der Commissione Bicamerale, mit der 1997 der Versuch einer umfassenden Verfassungsreform in Angriff genommen wurde. Die einen erhoffen sich davon eine einende Figur, die politische Programme oberhalb des oft fragmentierten Parlaments, in dem es häufig zu Austritten aus und Neubildungen von Fraktionen kommt. Dass mit einem auf fünf Jahre direkt gewählten Präsidenten – bisher waren es immer Männer – endlich die notwendige politische Stabilität einkehren würde. Die anderen fürchten, dass in einem nach wie vor oder immer wieder anders gespaltenen Italien ein Präsident aus einem der politischen Lager genau diese Spaltung weiter vertiefen könnte. Dass zudem die in den vergangenen Jahren so wichtig gewordene Figur des Staatsoberhaupts als mäßigendem Hüter der Spielregeln, als Garant für institutionelle Stabilität, aber nicht für politische Programmatik, ersatzlos wegfallen würde und dem Auf und Ab des politischen Wettbewerbs und dem Wankelmut der italiensichen Wählerschaft (siehe dazu auch den Artikel von Ulrich Ladurner in der aktuellen Ausgabe der Zeit) ausgesetzt würde.

Das Problem an der Idee des Präsidialsystems ist nicht, dass es per se schlecht für Italien wäre oder dass es der erste Schritt Melonis in ein neues faschistisches System bedeuten würde. Das Problem ist die durchaus reale Gefahr, dass die Reform entgegen den jetzigen Beteuerungen auch ohne Einbindung der Opposition durchgezogen werden könnte. Präzedenzfälle für Verfassungsreformen eines einzelnen politischen Lagers gibt es genug – 2001, 2005, 2015 – und eine Einigung mit dem PD scheint derzeit mehr als unwahrscheinlich. Erst recht wäre dieses Szenario zu erwarten, wenn FdI, Lega und Forza Italia gemeinsam wirklich mehr als zwei Drittel der Parlamentssitze erhalten sollten. Denn dann gäbe es nicht einmal die Möglichkeit, per Verfassungsreferendum über die Reform abzustimmen, das heißt, man bräuchte keine Mobilisierung der Opposition dafür befürchten. Da die Zweidrittelmehrheit aber nur eine parlamentarische, keine reale wäre, bekäme Italien erneut eine institutionelle Reform nach dem Gusto der derzeit Regierenden.

Die Spielregeln bestimmt, wer regiert?

Doch die Vielzahl an interessengeleiteten institutionellen Reformen hat Italiens politisches System – neben einigen anderen Faktoren – über die letzten Jahrzehnte geschwächt und willkürlicher erscheinen lassen. Es gab immer zwar wieder Momente, die zeigten, dass das bestehende System doch hält und funktioniert – zuletzt etwa bei Mattarellas Wiederwahl, die letztlich von den Abgeordneten ausging, oder bei den Verfassungsreferenden 2006 und 2016, in denen eben die weit reichenden, aber von einer Seite kommenden (und zudem schlecht ausgearbeiteten) Reformen verhindert wurden. Was würde es für Italien bedeuten, wenn Fratelli d’Italia den Präsidentialismus als ihr Lieblingsprojekt tatsächlich realisieren würden? Wahrscheinlich gespickt mit faulen Kompromissen mit der Lega und Forza Italia, die dann ihrerseits gern ein paar institutionelle Lieblingsprojekte verwirklicht sehen wollen (im Falle der Lega: Mehr Förderalismus; bei Forza Italia wohl eine Entschädigung dafür, dass es nicht die starke premiership geworden ist). Denn darum geht es leider: Dass Parteien oder politische Lager ihre Prestigeprojekte umgesetzt sehen wollen. So wie die Fünf-Sterne unbedingt die Reduktion der Parlamentarier:innen wollten – und mithilfe des PD auch bekommen haben.

Und nun stehen sie da und müssen zusehen, dass diese Reduktion und das Wahlgesetz nur sie selbst als Opposition schwächen und sie somit daran mitgewirkt haben, die Bahn frei zu machen für noch eine größere, einseitige Reform. Eine Chance, etwas daran zu ändern, gäbe es schlechtestenfalls nur noch, wenn sie selbst wieder an die Regierung kommen. Die Regeln des politischen Spiels aber werden dann endgültig zu dem, was sie genau nicht sein sollten: Ein Instrument in der Hand der Regierenden.

Die Wahl des italienischen Staatspräsidenten 2022: institutionelle Konsequenzen I

Diese Wahl wird nicht ohne Folgen bleiben. In Italien wird nun die Direktwahl des Staatsoberhaupts und eine Reform des Wahlrechts diskutiert – mal wieder.

Der Palazzo Montecitorio, Sitz der italienischen Abgeordnetenkammer
Das Parlament im Zentrum der institutionellen Architektur Italiens, die wieder einmal auf dem Prüfstand steht.
Foto: Vlad Lesnov (Wikipedia) CC BY 3.0

Nach der Wiederwahl Sergio Mattarellas ins Amt des Staatspräsidenten sind sich die Kommentator:innen aus Politik und Medien zumindest in einem einig: So wie es ist, kann es nicht bleiben. Das desaströse Schauspiel einer zelebrierten Nicht-Wahl, in der sieben Wahlgänge lang die leeren Zettel und Enthaltungen dominierten und das auf Druck von unten, von den Mitgliedern der Wahlversammlung, sowie dem Einschalten des Premiers Draghi beendet wurde, ließ allen deutlich vor Augen treten, dass die aktuelle politische Führung Italiens es nicht kann. Sie kann keine Regierung bilden (2021) und sie kann keinen Präsidenten wählen (2022). Also muss etwas getan werden, und was läge näher, an den institutionellen Stellschrauben zu drehen.

Hätte man doch das Volk direkt wählen lassen, es wäre viel schneller zu einem Ergebnis gekommen. Manch einer (Renzi) verstieg sich sogar zu der Aussage, dies sei das letzte Mal gewesen, dass auf diese Weise das Staatsoberhaupt gewählt würde. Folgen wir also dem französischen oder amerikanischen Vorbild, nehmen wir den unfähigen Parteien die Entscheidung aus der Hand und legen sie in die Hände des Souveräns.

Die Vision eines semipräsidiellen Systems geisterte schon vor der Wahl durch die Medien, ins Spiel gebracht vom Lega-Minister Giorgetti, der sich gut vorstellen konnte, dass Mario Draghi die Regierungsgeschäfte auch vom Quirinalspalast weiterführen würde. Ein semipresidenzialismo di fatto in diesem Fall, ohne Reform und einfach durch die Kraft der Autorität – und die Schwäche der anderen. Die Post-Faschist:innen von Fratelli d’Italia haben die Direktwahl und die Umwandlung in ein Präsidialsystem noch immer in ihrem Parteiprogramm, eine Forderung, die schon die Vorgängerpartei Alleanza Nazionale in die Verfassungsreformen der 1990er Jahre einbrachte.

Direktwahl des Präsidenten als Lösung des Problems? Zweifel sind angebracht

Die Idee ist also keineswegs neu, ebensowenig wie ihre Begründung. Schon immer wurde als Grund für eine präsidiale Regierungsform die Schwäche des zersplitterten Parteiensystems, die schwierige Koalitionsbildung und geringe Verlässlichkeit der Fraktionen im Parlament, tatsächlich mit ihrer Regierung zu stimmen, herangeführt . Oft wurde als Beruhigung für diejenigen, welche die faschistische Vergangenheit Italiens durchaus als Mahnung verstehen und den „starken Mann“ mehr fürchten als herbeisehnen, dass in einem semipräsidiellen System der Präsident nur dann eine starke, dominante Rolle spielen würde, wenn das Parlament dazu nicht in der Lage wäre. Als ob nicht genau diese Situation in beunruhigender Regelmäßigkeit auftreten würde in Italien. Tatsächlich hat das Staatsoberhaupt in den vergangenen Jahrzehnten immer stärker diese Rolle eingenommen hat, welche die Befürworter:innen des Semipräsidentialismus skizziert hatten: Eine Ausfallbürgschaft gegen die Kapriolen des Parlaments. Nur, dass der Präsident nach wie vor keine Gesetze erlassen kann.

Sich in die Weisheit des Volkes retten zu wollen angesichts der offensichtlichen Unfähigkeit des politischen Spitzenpersonals, verlässliche Verhandlungen zu führen und Kompromisse zu schmieden, mag ein naheliegender Gedanke sein. Zumal die Unterstützung für ein Mattarella in der Bevölkerung sehr hoch gewesen war und weiter ist (und in lautstarken Publikumsäußerungen von der Mailänder Scala bis zum Festival di Sanremo zum Ausdruck gebracht wurde). Allerdings ist dies dieselbe Wählerschaft, die den Straßen-Populismus eines Matteo Salvini befeuerte, der nun auch zur Präsidentenwahl – erfolglos – den starken Mann markierte. Es ist dasselbe Wahlvolk, dass nun Giorgia Meloni hohe Zustimmungswerte einfahren lässt, weil sie mit markigen Sprüchen erst einmal gegen alles ist, aber für Patrioten und Italy first, was in Kombination mit einem Präsidialsystem nicht wirklich nach einem zukunftsfähigen Konzept klingt.

In den vergangenen Jahren wurden immer wieder Personen oder Parteien in Führungsverantwortung gebracht, mit denen sich eine gewisse Euphorie verband, dass nun alles besser werde. Dies gilt für die Technokraten Mario Monti und Mario Draghi genauso wie für Matteo Renzi und die Fünf-Sterne-Bewegung. Sie alle – bis auf Draghi bislang – stürzten innerhalb kürzerer Zeit wieder ab und verloren die Gunst der Wählerschaft so schnell, wie sie sie gewonnen hatten. Denn sie alle mussten Kompromisse eingehen, unangenehme Entscheidungen treffen, ihre Ideen in langwierigen Prozessen umsetzen – genug, damit „das Volk“ sie fallen ließ. Vom Heilsbringer zum Buhmann sind die Wege in Italien häufig kurz. Das muss nicht per se gegen eine Direktwahl sprechen. Niemand bereut etwa die Einführung der direkten Wahl zum Regionalspräsidenten oder zur Bürgermeisterin. Auf nationaler Ebene bekommt eine solche Wahl jedoch noch einmal ein anderes Gewicht, und die angeführten Beispiele zeigen, dass die Wählerschaft nicht immer weiser handelt als ihre Repräsentant:innen.

Weiterhin hätte die direkte Legitimation des Volkes notwendigerweise eine Veränderung des Amtes zur Folge. Das Staatsoberhaupt würde auf einer Ebene mit dem Parlament stehen und seine Legitimation direkt, nicht von ebendiesem Parlament abgeleitet erhalten. Dies ist demokratietheoretisch unproblematisch, doch es verändert das Verhältnis zwischen den beiden Organen. Bislang war in Italien stets das Parlament der höchste Ausdruck des Volkswillens, bei einer Direktwahl zöge der oder die Präsident:in der Republik gleich. Ihr Amt würde dadurch politischer, denn den Handlungen und Entscheidungen läge nun auch ein Mandat des Volkes zugrunde. Bislang sind es die grandi elettori, die Abgeordneten und Senatorinnen sowie Vertreter:innen der Regionen, 1009 Repräsentant:innen, die notwendigerweise die Vielfalt (und leider auch Fragmentierung) der politischen Landschaft abbilden, die zugleich aber gezwungen sind, eine breite Mehrheit zu finden. Genau was jetzt nicht gelang, war und ist noch die Grundlage des Präsidentenamtes: überparteilich, lagerübergreifend gewählt zu sein, um einen Verfassungsauftrag auszuüben: nämlich neutral den Erhalt und das Funktionieren der bestehenden institutionellen Ordnung zu gewährleisten.

Bei einer Direktwahl durch die Wahlberechtigten wäre ebenfalls mindestens die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen zu erreichen, soll das Staatsoberhaupt doch weiterhin die ganze Nation vertreten. Gleichwohl wäre damit eine Wahlkampagne verbunden, ein Werben um Stimmen, ein Ein- und Auftreten in einer bestimmten Sache. Das zieht die einen an, und schreckt die anderen ab. Der jetzige Charakter der Präsidentenwahl, der davon geprägt ist, dass Personen nominiert werden und deren Namen dann auf die weißen Zettel geschrieben werden, der also ein dezidiert passiver ist, würde gezwungenermaßen verloren gehen. Damit verliert sich auch der unpolitische Charakter, und bei allem Streben nach Überparteilichkeit ein Stück weit voraussichtlich auch die konstitutionell vorgesehene Neutralität, die Tradition des Notars.

Damit stellt sich zuletzt die Frage, wer die Kandidat:innen für das Amt des Staatsoberhaupts bei einer Direktwahl benennen soll. Es werden letztlich wohl wieder überwiegend die Parteien sein, die diese Aufgabe übernehmen. Dieselben Parteien, die in den vergangenen Tagen keine Kadidatin und keinen Kandidaten präsentieren konnten und sich teilweise über den Verlauf der Verhandlungen selbst zerlegten. Selbstverständlich besteht auch die Chance einer Bewerbung aus der Bevölkerung heraus, aber es wird ohne die Parteien kaum gehen. Übertragen wir die diesjährige Wahl in ein Direktwahlszenario, so hätte wahrscheinlich das Mitte-Rechts-Lager den oder die gewünschte „Patriot:in“ aufgestellt, auch wenn diese gewiss keine Akzeptanz im anderen Lager gefunden hätte. Mitte-Links hätte sich vielleicht gemeinsam mit dem Zentrum doch auf Mario Draghi einigen können, und falls nicht – wegen des Widerstands der 5-Sterne – einen anderen, aber schwächeren, unbekannteren Kandidaten aufgestellt. Vielleicht hätte es parallel eine Bürgerinitiative für ein Mattarella-Bis gegeben. Dann wäre unter Umständen das gleiche Ergebnis herausgekommen. Oder aber, etwa bei einem knappen Vorsprung von Mitte-Rechts, wäre ein dezidiert politischer, nicht neutraler Kandidat durchgekommen. Oder es wäre doch Mario Draghi geworden, was eine Umbildung der Regierung nach sich gezogen hätte, bei der Lega und FI angesichts ihrer Niederlage bei der Präsidentschaftswahl vielleicht Konsequenzen gezogen hätten.

Dies ist alles Spekulation, aber es zeigt, dass die Direktwahl des Staatsoberhaupts – trotz und gerade wegen des Verfalls des Parteiensystems nicht allein die Probleme löst. Vor allem, solange das Hauptproblem – die politische Kultur der Parteien und ihrer Führung – nicht gelöst ist.

Wer wird Italiens neuer Staatspräsident? (4)

Alle Aufmerksamkeit liegt auf Berlusconi, dabei ist es unwahrscheinlich, dass er es wird.

Plakat: Cercasi candidato/candidata per la carica del presidente della repubblica italiana

Es fällt allen, die sich zur Zeit mit der Wahl zum Präsidenten oder der Präsidentin der Republik auseinandersetzen, natürlich schwer, nicht Silvio Berlusconi in den Blick zu nehmen. All die Gerichtsverfahren, die Verurteilung wegen Steuerhinterziehung, die Skandale um die Partys in seiner Villa, die per Parlamentsbeschluss geadelte Behauptung, die minderjährige „Escort“-Dame Ruby Rubacuore sei die Nichte des damaligen ägyptischen Präsidenten Mubarak… es gibt viel, worüber man mindestens den Kopf schütteln kann.

Dass er als Staatsoberhaupt den Vorsitz des Obersten Richterrates inne hätte, dass ein Portrait im Büro einer jeden Staatsanwältin und jedes Richters zu hängen hätte – ausgerechnet von Silvio Berlusconi, dessen politische Agenda jahrelang darin Bestand, Gesetze und Justizapparat zu seinen Gunsten zu gestalten. Dennoch: Dass Berlusconi tatsächlich Präsident wird, ist eher unwahrscheinlich, denn nicht einmal seine engen Verbündeten und die Koalitionäre des Mitte-Rechts-Lager sind wirklich von der Idee überzeugt.

Stunde der Wahrheit für Italiens Parteien

Dagegen ist das, was gerade im Hintergrund der Verhandlungen passiert, für das politische Schicksal Italiens viel wichtiger und schwerwiegender: Die Parteien und insbesondere ihre Spitzen sind nun, erstmalig seit Mario Draghi die Regierungsführung übernommen hat, aufgefordert, selbst eine tragfähige Lösung zu erarbeiten. Sie müssen unter Beweis stellen, dass sie eine lagerübergreifende Kandidatin oder einen Kandidaten finden können und gewährleisten, dass die eigenen Leute diese dann auch tatsächlich wählen.

In der letzten Regierungskrise, als Matteo Renzi der Conte II-Regierung das Vertrauen entzog, gelang es diesem nicht, eine neue parlamentarische Mehrheit zu bilden. Zuvor war es ihm und seinen Mitstreiter:innen in der Koalition nicht gelungen, ein Programm für die kommenden Jahre zu entwickeln, wie das viele Geld aus dem Recovery Fund der EU sinnvoll und nachhaltig auszugeben wäre. Planlosigkeit, Ideenlosigkeit, fehlendes Geschick, persönliche Interessen, mangelnde Fähigkeit zum Kompromiss und Konsens. Und das nicht etwa in einer Situation, in der der Gesellschaft Sozialkürzungen, Steuererhöhungen oder andere schwierige Reformen zuzumuten gewesen wären, sondern in der es Geld und Zukunftsaussichten zu verteilen gab.

Nicht zu Unrecht beklagt der ehemalige Verfassungsrichter Sabino Cassese in der Sendung Piazzapulita gestern, dass den italienischen Parteien die Fähigkeit zur Kohäsion fehle – und führte Deutschland als Gegenbeispiel an, wo unterschiedliche und gegenläufige Interessen durchaus in gemeinsamen Vorhaben und stabilen Koalitionen münden würden (Sendung vom 20.01.22). Zur Zeit steht vor allem fest, wer wen nicht wählen will: Cinque Stelle wehrt sich sowohl gegen Draghi als auch Berlusconi, der PD steuert auf eine zweite Amtszeit Mattarellas, wäre aber für Draghi offen, das Mitte-Rechts-Lager, in Erwartung einer klaren Aussage Berlusconis, ob er nun antritt oder nicht, bringen ein paar Namen ins Spiel, die jedoch wohl alle nichts bedeuten.

Viele Wahlgänge sind eher die Regel als die Ausnahme

Zur Erinnerung: Am Montag findet der erste Wahlgang statt. Nun ist es nicht so, dass üblicherweise das Staatsoberhaupt im ersten Wahlgang gewählt würde, im Gegenteil. Carlo D’Azeglio Ciampi und Francesco Cossiga genügte ein Urnengang, die meisten weiteren benötigten zumindest vier, fünf und schließlich gibt es die Fälle, in denen mehrere Tage und bis zu 23 Wahlgänge vonnöten waren, ehe ein Kandidat – bisher waren es stets Männer – die notwendigen Stimmen erhielt.

Schon werden Vergleiche angebracht zu den schwierigsten Wahlen, wie etwa jener 1992 von Oscar Luigi Scalfaro, zu dessen Wahl es 16 Wahlgänge und zwölf Tage benötigte. Damals steckte Italien allerdings in der größten Parteienkrise seit Beginn der Republik, das lässt sich kaum mit der Pandemielage von heute vergleichen. Allerdings sind die institutionellen Verflechtungen ein Problem: Je nachdem, wie die Wahl ausfällt, muss der Regierungschef ausgewechselt werden und je nachdem, ob hier eine mehrheitliche, d.h. quasi zwingend parteiübergreifende Lösung gefunden werden kann, stehen Neuwahlen an oder nicht. Das erhöht die Zahl der jeweiligen Interessen im Spiel, das erschwert die Entscheidungsfindung, weil mit zu vielen Variablen gleichzeitig gerechnet werden muss.

Gleichwohl kann der Schaden enorm sein, je nachdem, wessen Kandidat:innen in den einzelnen Wahlgängen durchfallen – für die betreffenden Personen selbst, aber auch für diejenigen, die sie aufgestellt haben. Gelingt es den Führungsspitzen der Parteien nicht oder nur schwer und auf den letzten Drücker, eine Einigung herbeizuführen, steht es um die zukünftige Regierungsfähigkeit Italiens eher schlecht. Natürlich könnte dennoch ein Regierung Draghi (oder eine ähnlich unpolitisch-technokratische Person) die Geschäfte bis ins Frühjahr 2023 fortführen, sodass kurzfristig nicht die große Krise droht. Doch wenn es heute keine Kompromissfähigkeit, Führungsstärke und Einigkeit – insbesondere innerhalb der Parteien – gibt, warum sollte dies Anfang nächsten Jahres anders sein?

Die nächste Woche wird entscheidend für die mittelfristige Zukunft des „Land des Jahres“.

Wer wird Italiens neuer Staatspräsident? (3)

Gerade geht nichts mehr. Die Kandidatensuche für Italiens Präsidenten erreicht – vorerst – einen toten Punkt

Plakat: Cercasi candidato/candidata per la carica del presidente della repubblica italiana

Das Mitte-Rechts-Lager hat Silvio Berlusconi ausgewählt, der nun eifrig Stimmen aus dem anderen Lager zu finden sucht. Doch glücklich ist mit dieser Kandidatur eigentlich niemand. Berlusconi ist wohl der am wenigsten wählbare Kandidat für weite Teile der Wahlversammlung. Sollte er scheitern, scheitern allerdings auch Matteo Salvini und Giorgia Meloni und disqualifizeren sich damit als zukünftiges politisches Führungspersonal, das spätestens mit den nächsten Wahlen im Frühjahr 2023 gebraucht wird.

Wenn Berlusconi aber gewählt würde, stünde Italien – mal wieder – in einem sehr schlechten Licht, ein failed state unter moralisch-kulturellen und politischen Gesichtspunkten. Gerade aktuell laufen wieder Prozesse wegen Falschaussagen derjenigen, die rings um Berlusconis Bunga-Bunga-Partys die jungen Frauen organisiert haben. Lange her, so scheint es, doch plötzlich wieder sehr präsent.

Der also nicht, lui no, aber wer dann? Im Augenblick kann sich niemand richtig aus der Deckung wagen, jeder neue Name wäre potenziell sofort verbrannt. Also halten sich alle bedeckt, das einzige, was zu sehen ist, ist Matteo Salvini, der sich vorsichtig aus der möglicherweise tödlichen Umarmung mit Berlusconi zu befreien versucht.

Mario Draghi derweil ist zum Nichtstun verurteilt. Als jemand, der selbst gern den Posten einnehmen möchte, kann er die eigentlich einflussreiche Karte des amtierenden Ministerpräsiden nicht ausspielen, sondern muss darauf setzen, dass sich die Chef:innen der großen Parteien ins Benehmen setzen.

Vor Mitte bis Ende dieser Woche sind also eher keine neuen Wendungen zu erwarten und selbst das könnte noch zu früh sein. So werden die Italiener:innen vorerst wieder damit leben müssen, dass die ganze Welt den Kopf über sie schüttelt.

Wer wird Italiens neuer Staatspräsident? (2)

Versprechen, die nicht gehalten werden (können)

Der Rückhalt für Berlusconi ist weniger stark als behauptet

Das Mitte-Rechts-Lager gibt sich geschlossen: Matteo Salvini, Chef der Lega, bekräftigt, dass seine Partei sich an die Vereinbarung halten und auf jeden Fall Silvio Berlusconi wählen wird, wenn er zur Wahl antritt. Gestern einigten sich die drei Parteien aus dem rechten Spektrum darauf, den ehemaligen Minsterpräsident zu unterstützen.

Doch vor, während und nach dem Treffen äußerten alle Beobachter:innen ihre Zweifel am Gehalt dieser Aussage. Denn Berlusconi ist nicht mehrheitsfähig. Das wissen eigentlich auch Salvini und Giorgia Meloni. Darauf deuten auch die weiteren Verlautbarungen des Legachefs hin: Wir werden sehen, ob wir eine Mehrheit haben… Weder Movimento5Stelle, die als Partei über die meisten Abgeordneten in der Wahlversammlung verfügen, noch der Partito Democratico werden Silvio Berlusconi unterstützen. Überhaupt gäbe es also Chancen ab dem 4. Wahlgang, wenn die notwendige Stimmanzahl auf 505 sinkt (von 1009 Wahlberechtigten). Deshalb ließ der Cavaliere über die schillernde Polit-Persönlichkeit Vittorio Sgarbi schon mal alle Parlamentarier:innen anrufen und versuchte sie zu überzeugen.

Eine Niederlage für den eigenen Kandidaten würde das Mitte-Rechts-Lager stark beschädigen. Sie wollen diejenigen sein, die nach der nächsten Wahl Italiens Regierung anführen. Sie wollen eine gewichtige, eine institutionelle Rolle spielen? Dann müssen sie jetzt zeigen, was sie können und das heißt in einer parlamentarischen Demokratie wie in Italien in diesem Fall: Dass sie für das überparteiliche Staatsoberhaupt auch überparteilichen Konsens generieren müssen. Also: eine Kandidatin oder einen Kandidaten finden, der auch für das andere Lager wählbar ist. Rein praktisch, um die notwendigen Stimmen zu bekommen, und politisch-konstitutionell, um dem Gedanken eines Repräsentanten der ganzen Nation gerecht zu werden.

Riskantes Spiel

Salvinis Versprechen, geschlossen hinter Silvio Berlusconi zu stehen, gilt also nur solange, wie weiter an Alternativen gearbeitet und letzterer vielleicht doch noch von einem Rückzug überzeugt werden kann. Insofern ist die Entscheidung von gestern schon wieder die Revision von morgen. Zumal Berlusconis überzeugendstes Argument, nämlich Neuwahlen zu verhindern, wohl ebenfalls kaum Bestand haben wird: Das linke Lager macht dermaßen klar, dass es Berlusconi nicht wollen und wählen wird, dass eine Wahl dem zum Trotz – und womöglich noch mit abgegriffenen Stimmen durch das gegnerische Lager – sofort die Regierungskoalition sprengen würde. Und da auch Regierungspartei Italia Viva überhaupt kein Interesse an Neuwahlen hat, werden sie kaum Berlusconi unterstützen – obwohl Parteichef Matteo Renzi sonst für alle möglichen taktischen Züge offen ist.

Meloni und Salvini spielen somit ein riskantes Spiel. Sie folgen dem Eigeninteresse des ehemalig starken Mannes der rechten, und machen ihn damit wieder stark, wenn ihnen nicht schnell ein Ausweg gelingt. In den undurchsichtigen geheimen Abstimmungen zur Präsidentenwahl mag die eine oder andere böse Überraschung lauern, an deren Ende ein gespaltenes Land, eine gesprengte Regierung und die verbrannte Figur Mario Draghi stehen könnte. Bleibt zu hoffen, die Taktik der beiden Parteichefs von Lega und Fratelli d’Italia geht auf und sie finden eine lagerübergreifende Einigung, die auch Berlusconi einen gesichtswahrenden Ausweg bereitet.

Wer wird Italiens neuer Staatspräsident? (1)

Ende Januar wählt Italien ein neues Staatsoberhaupt.

Derzeit gibt es fast täglich neue Verlautbarungen, vielsagendes Schweigen und taktische Bewegungen. In loser Folge erscheinen hier in den kommenden Tagen kurze Meldungen zum (Nicht-) Stand der Dinge.
Plakat: Cercasi candidato/candidata per la carica del presidente della repubblica italiana

Neuerdings scheint jeder, der Interesse am höchsten Amt der Republik hat, einfach eine Pressekonferenz geben zu können, die eigentlich einem anderen Thema gewidmet ist, dann aber zwischen den Zeilen durchblicken zu lassen, Präsident werden zu wollen.

So hat es der amtierende Ministerratspräsident Mario Draghi vor Weihnachten gemacht, und vor wenigen Tagen Silvio Berlusconi. Man sollte eigentlich meinen, dieses Amt wäre würde- und bedeutungsvoll genug, um Kandidaten erstens von Dritten benennen zu lassen und zweitens mit einer sicheren Wählerschaft in der Parlamentsversammlung im Hintergrund. Auf ein solches Vorgehen drängen Vertreter:innen des linken Lagers zunehmend verzweifelt, derweil werden Mitte-Rechts schon mal ein paar Pflöcke eingehauen.

LUI NO – bloß nicht Berlusconi

Silvio Berlusconi will also Präsident der Republik werden. Dazu versammelt er heute (14. Januar 2021) die Spitzen von Forza Italia, Lega und Fratelli d’Italia in seiner Villa in Rom. Silvio Berlusconi. Im Ernst? Im Ernst. Schon vor Wochen brachte er sich ins Spiel, einige wollten es ihm ausreden, andere gaben sich angetan, aber unverbindlich. Zuletzt wurde das Vorhaben zunehmend konkreter, vor allem nachdem sich insbesondere die Lega äußerst zurückhaltend bezüglich einer Wahl Mario Draghis gezeigt hatte.

Das wiederum sorgte quasi für Panikattacken auf der linken Seite des politischen Spektrums. L’Espresso, das linksliberale Politmagazin, titelte vergangene Woche: LUI NO – nicht er, oder vielmehr: DER nicht. Enrico Letta, Vorsitzender des Partito democratico, unterstrich neben vielen anderen, der oder die neue Präsidentin müsse einen, nicht spalten, und alle Italienerinnen und Italiener vertreten. Das ist wohl das letzte, was man von Silvio Berlusconi behaupten kann. Niemand hat mehr polarisiert in den vergangenen Jahrzehnten, und niemand hat wohl größeren Anteil am Niedergang der politischen Kultur, dem Umgreifen des Populismus und der Banalisierung der politsichen Debatte. Denn Berlusconi war ja nicht nur Partei- und mehrmaliger Regierungschef, sondern war und ist Medienmogul, ökonomisches Schwergewicht und vor allem: Ein begnateter Vertreter seiner eigenen Interessen.

Und wie will er dieses Mal die Abgeordneten der Parlamentsversammlung hinter sich kriegen? Ganz einfach, indem er sein Interesse – die Krönung seiner Karriere durch das höchste Amt – mit dem Interesse der Wählenden – keine vorzeitigen Neuwahlen – verknüpft. Also sagt er: Wenn Draghi nicht mehr Ministerpräsident ist, dass scheidet Forza Italia aus der Regierung aus. Heißt nichts anderes als: Wenn ihr Draghi wählt – und nicht mich – dann gibt es vorzeitige Neuwahlen und ein Großteil von euch ist seinen Platz im Parlament und einen Teil der Pensionsansprüche los. Wollt ihr das? Nein? Dann wählt mich.

Und da kann dann ein Enrico Letta noch so ungläubig kundtun, dass es sehr schädlich wäre, hätte Berlusconi dies wirklich so gesagt (in einem Interview in der Sendung Metropolis) – der Ball ist im Feld und die anderen werden ihn spielen.

Mattarella zum Zweiten?

Und was macht Mario Draghi? Verbietet den Journalist:innen bei der ersten Pressekonferenz des Jahres, überhaupt Fragen nach seiner politischen Zukunft zu stellen. Seine Selbstkandidatur war scheinbar nur mäßig erfolgreich und wird zusehends geschwächt durch die pandemische Lage, die dringend eine funktionierende und stabile Regierung braucht, also am besten Draghi selbst am Ruder im Palazzo Chigi.

Weil aber bislang sonst noch niemand mehrheitsfähiges im Gespräch ist – oder sich auch nur andeutet, wer abseits der Berlusconi-Variante diese Mehrheit organisieren könnte – kommt nun doch noch die Option eines Mattarella-bis auf den Tisch. Der amtierende Präsident der Republik, Sergio Mattarella, hatte vehement zu verstehen gegeben, dass er dazu nicht zur Verfügung steht. Aber wenn sie ihn nun doch wählen sollten? Um die Regierung zu sichern? Um Berlusconi zu verhindern? Um die eigene Unfähigkeit zum Kompromiss und zu vernünftigen Entscheidungen zu verschleiern?

Es bleibt spannend. Erster Wahlgang: 24. Januar.