Das Rennen um den Quirinalspalast

Mario Draghi hat Ambitionen aufs Amt des Staatspräsidenten. Doch die Parteien sind zurückhaltend, die Risiken groß.

Militärgarde vor dem Quirinalspalast in Rom, Sitz des italienischen Staatspräsidenten.
Noch hat Sergio Mattarella hier seinen Amtsitz. Ab Februar 2022 wird die Militärgarde jedoch einen anderen Präsidenten bewachen.

Am 24. Januar wird in Italien das Amt des Staatspräsidenten neu gewählt. Amtsinhaber Sergio Mattarella hat keine Absicht, mit der Tradition nur einer Amtszeit zu brechen, auch wenn dies einige gern gesehen hätten, nicht zuletzt die Bürgerinnen und Bürger (die ihn kürzlich u.a. in der Mailander Scala mit dem Ruf „Bis! Bis!“ zu einer zweiten Amtszeit überreden wollten). Mit dem Ausscheiden Mattarellas fehlt ein entscheidender Pfeiler in dem empfindlichen institutionellen Gleichgewicht Italiens. Mattarella hatte entscheidenden Anteil daran, dass mit Mario Draghi ein Mann zum Ministerratspräsidenten gewählt wurde, der in einer ökonomisch gleichzeitig fragilen wie vielversprechenden Situation endlich ausreichend Autorität und Entschlusskraft mitbrachte, um aus politischer Zerstrittenheit und Orientierungslosigkeit wieder politische Führung zu machen.

Eben dieser Mario Draghi hatte wenige Tage vor Heiligabend in recht ausgelassen-weihnachtlicher Stimmung seine eigenen Ambitionen auf das höchste Amt im Staat kaum verholen durchblicken lassen. Der Mann, der Italien zum „Land des Jahres“ gemacht hat (The Economist), zog zur letzten Pressekonferenz in 2021 bereits eine Art Abschlussbilanz, und die Erfolge lassen sich sehen: Die Pandemie war bis Weihnachten erfolgreich in Schach gehalten, die Impfkampagne eine der erfolgreichsten weltweit, zudem wurde der nationalen Wiederaufbauplan rechtzeitig bei der EU eingereicht und die ersten Tranchen aus dem Recovery Fund bereits erhalten. Draghi suggerierte, seine Aufgabe sei erledigt und ein anderer könne übernehmen.

Doch obwohl Draghi schon zu den ersten zählte, die im fröhlichen Kandidatenraten für den Quirinalspalast genannt wurden, fiel die Reaktionen der Parteien, deren parlamentarische Vertreter den Präsidenten wählen müssen, eher verhalten aus. Ein Wechsel in das höchste Staatsamt würde einige Risiken bergen. Zuallererst die Frage, wer in in Palazzo Chigi ablösen sollte: Die heterogene Regierungsmehrheit zusammenzuhalten, die von Salvinis Lega bis über Contes 5-Sternen zum Partito democratico reicht, braucht nicht nur Geschick und starke Nerven, sondern wohl auch eine solch überbordende Autorität, wie sie Draghi von Anfang an mitbrachte. Vielleicht ein Grund für ihn, den Amtswechsel anzustreben: Er würde Italien weiterhin, zumindest teilweise, auf dem internationalen Parkett vertreten und könnte an zentralen Punkten Einfluss nehmen, ohne jedoch jeden Tag – machen wir es anschaulich – mit einem aufmüpfigen, weil um seine Zustimmungswerte bangenden Matteo Salvini/Giuseppe Conte/Matteo Renzi/… rangeln zu müssen. Doch während Mario Draghi vielleicht gut und gerne auf die Auseinandersetzung mit den Parteichefs verzichten kann, umgekehrt können diese auf den „Heilsbringer“ Draghi noch nicht verzichten.

Ungeklärte Machtverhältnisse

Keine Partei außer Fratelli d’Italia mit Parteichefin Giorgia Meloni scheinen sich aktuell ihrer Rolle und ihres Programms (und ihrer Wählerschaft) sicher zu sein. Alle anderen Parteien sind weiterhin im Selbstfindungs- oder, im Falle der Fünf-Sterne, Selbstzerstörungsprozess gefangen, was zahlreiche Ungewissheiten bezüglich neuer Koalitionen, Vergabe von Posten und programmatischen Standpunkten mit sich bringt. Das Mitte-Rechts-Lager generiert aus guten Umfragewerten bereits einen gewissen Gestaltungsanspruch, ist jedoch intern alles andere als konsolidiert -nicht zuletzt, weil es teils in der Opposition (FdI) und teils in der Regierung steht (Lega, Forza Italia) – und im Falle von Matteo Salvini irgendwo dazwischen.

Überhaupt ist fraglich, ob die zehn Monate der Regierung Draghi etwas substanziell an der fehlenden politischen Stabilität verändert haben, die vor seinem Amtsantritt zur weitgehenden politischen Handlungsunfähigkeit Italiens führte. Vielleicht wirkt es gerade deshalb attraktiv, mit Mario Draghi in ein halbpräsidiales System überzuschwenken, wie es derzeite immer wieder suggeriert wird: Ein Regierungssystem, in dem der Staatspräsident stark die Regierungsbildung beeinflusst und weit über den eigentlich notariellen bis garantistischen Zuschnitt seines Amtes die politischen Geschäfte überwacht und beeinflusst. So ein semipräsidiales System – ein bisschen nach Vorbild Frankreichs, ein bisschen angepasst auf die starke parlamentarische Tradition Italiens – ist seit Jahrzehnten der Traum insbesondere der politischen Rechten. Entsprechende Entwürfe zur Verfassungsreform nahmen jedoch nie konkrete Gestalt an, gleichwohl geistert die Idee weiter umher und wird in regelmäßigen Abständen hervorgeholt.

Mario Draghi selbst scheint ähnliches vorzuschweben, wenn er die Wahl zum Staatspräsdenten (die ihn zu eben diesem machen soll) in der vorweihnachtlichen Pressekonferenz direkt mit dem Bestand der Regierung der nationalen Einheit verbindet. Recht unmissverständlich ließ er durchblicken, dass eine Präsidentenwahl mit anderen Mehrheiten – und einem anderen erfolgreichen Kandidaten – als mit der derzeitigen Regierungsmehrheit zugleich das Ende der jetzigen Regierungskonstellation bedeuten würde. Was ihm vorschwebt, ist die Übergabe des Ministerratspräsidentenamts an eine/n der derzeitigen Minister/innen, die in seinem Sinne, mit der selben Mehrheit und im Grunde dem selben Programm fortführt, was Draghi vom Quirinalspalast aus zu kontrollieren und führen gedenkt. Damit würde der „Großvater der Institutionen“, wie er sich bezeichnete, nicht nur den Garanten der Verfassung, sondern auch der nationalen Einheitsregierung geben, die Pandemiebekämpfung und Wiederaufbau bis zum regulären Ende der Legislatur im Februar 2023 fortführt.

Doch was, wenn es schief geht? Silvio Berlusconi spekuliert ganz offen auf seine persönlichen Chancen ab dem vierten Wahlgang, wenn keine qualifizierte Mehrheit mehr notwendig ist. Wie viele Kandidaten – Mario Draghi inklusive- wären bis dahin verbrannt? Staatspräsidentenwahlen können in Italien durchaus politische Dramen und für manchen leader das Ende bedeuten (wie 2013 für Luigi Bersani, PD). Es ist eine geheime Abstimmung, und bei geheimen Abstimmungen ist die Furcht vor den so genannten franchi tiratori gemeinhin groß. Wer geht von der Stange, wer hält sich nicht an getroffene Absprachen? Im Herbst 2021 führte die Abstimmung über das Zan-Gesetz, das die Diskriminierung der LGBTQ-Comunity unterbinden sollte, allen in Italien vor Augen, wie mit Nebenabsprachen und geheimer Abstimmung (Regierungs-)Koalitionen durchbrochen und neue Allianzen geschmiedet werden können. Das Vorhaben scheiterte krachend durch eine geschickte Taktik des Mitte-Rechts-Lagers, das allerdings auch – vermutlich – Renzis Italia viva und Teile des PD und anderer auf seine Seite brachte. Und dabei ging es in letzter Konsequenz gar nicht um die Rechte von Homosexuellen und Queer-Personen, sondern um eine Probe für die Präsidentenwahl.

Unerwünschte Neuwahlen

Scheitert also Mario Draghis Kandidatur – oder auch die Wahl eines anderen Kandidaten oder eine Kandidatin, die offiziell von der derzeitigen Regierungsmehrheit getragen wird, dann endet wohl das Kapitel Draghi. Dies löst wiederum die Sorge vor Neuwahlen aus, weil ein Wahlkampf mitten in der wieder stark anziehenden Pandemie, wie zuletzt in Deutschland leider zu sehen war, für die Bekämpfung derselben eher schädlich ist. Zum anderen wegen der unklaren Machtverhältnisse und geringen Vorbereitung der Parteien auf Wahlkampf und Übernahme von Regierungsverantwortung. Zuletzt, weil eine Diskontinuität der Regierung auch eine Diskontinuität in der Umsetzung der Reformen mit sich bringen würde, eine andere politische Ausrichtung, vielleicht aber auch eine verschluderte Umsetzung, weil manche Dinge dem Interesse der eigenen Wählerklientel doch nicht so gut schmecken. Oder einfach, weil wie so oft Umfragewerte und Postengeschacher wichtiger sind als die Erstellung von Gesetzestexten, die auch in der Realität funktionieren – gern auch langfristig. Ein Manko, dass in Italien mit seinen zigtausend Gesetzen oft übersehen wird, aber für die Umsetzung all der groß gedachten Reformen leider entscheidend.

Für viele amtierende Parlamentarierinnen und Parlamentarier sind Neuwahlen aber aus einem ganz anderen Grund derzeit unerwünscht: Noch die damalige Regierung Conte I aus Fünf-Sternen und Lega hatte eine Verfasssungsreform zur Reduktion der Parlamentssitze eingebracht, die mit dem Volksentscheid im September 2020 in Kraft trat. Zur nächsten Wahl reduziert sich die Anzahl der „Sessel“ (poltroni) damit gewaltig, und gerade bei Parteien mit derzeit mäßigen Umfragewerten – zu denen ironischerweise insbesondere die Fünf-Sterne zählen, die diese Reform unbedingt wollten- wird ein Großteil der Abgeordneten und Senatorinnen nicht wiedereinziehen. Vorgezogene Neuwahlen bedeuten eine verkürzte Legislatur und für sie geringere Bezugsdauer von Abgeordnetendiäten und geringe Pensionsansprüche. Das kann doch niemand ernsthaft wollen…

Unerledigte Aufgaben, ungewisse Zukunft

Unabhängig von Eigeninteressen und taktischen Zügen, sich selbst oder die eigene Partei bzw. Koalition durch die Präsidentenwahl in die politische pole position zu schieben, stehen Italiens Parlamentarier:innen vor einem Dilemma: Vielleicht wäre Mario Draghi der richtige Mann für den Quirinalspalast und ganz sicher wäre es ein Affront, ihn nicht zu wählen. Auf der anderen Seite ist eine Selbstkandidatur für das höchste Amt im Staat auch nicht gerade würdig für einen „nonno delle istituzioni“ und Draghi ist er in jedem Fall der richtige Mann, derzeit, für das Amt des Ministerratspräsidenten. Denn die Aufgaben sind mitnichten erledigt: In den wenigen Wochen über Weihnachten hat sich die pandemische Lage radikal geändert: Omikron lässt die Zahlen ungebremst nach oben schießen, schärfere Maßnahmen wie eine allgemeine Impfplicht für über 50-jährige wurden soeben beschlossen. Und vor allem der PNRR, der nationale Plan für Wiederaufbau und Resilienz, bleibt weiterhin ein enormes Unterfangen. Er ist eingereicht und bewilligt, das ja. Aber in der Umsetzung hakt es schon jetzt, in erster Linie bei der Einstellung all der Personen, die auf nationaler wie regionaler bis lokaler Ebene die Maßnahmen begleiten und die Finanzmittel verwalten sollen. Italiens Verwaltung kann, insbesondere in den besonders vom PNRR geförderten südlichen Regionen, mit dem bestehenden Personal die Mittelverwendung nicht realisieren (La questione meridionale, La Repubblica). Ohne Mittelverwendung keine Modernisierung. Ohne Modernisierung kein Wiederaufbau und keine Stärkung des Landes gegen neue Krisen.

Auch die begleitenden notwendigen Reformen in Justiz, Verwaltung und Finanzen stehen noch aus. Vieles ist angeschoben worden, wie etwa die Delegierungsgesetze, die der Regierung den Auftrag zur Reformierung der Straf- und Zivilprozessordnung gegeben haben. Diese gilt es nun mit einzelnen Maßnahmenpaketen auszuarbeiten, hier sind bislang nur große Linien entschieden worden. Der italienische Haushalt sieht Steuererleichterungen in nennenswertem Umfang vor – eine Steuerreform ist das noch nicht. Und die Verabschiedung dieser Gesetze zeigt, dass auch ein Mario Draghi hier alle Register ziehen musste, um Mehrheiten für die Vorhaben zu sichern. Das Haushaltsgesetz kurz vor knapp vor der Weihnachtspause wurde ebenso mit Vertrauensfrage belegt wie die Strafprozessordnungsreform.

Für die schwierigen Gewässer der italienischen Reformpolitik in Krisenzeiten hat sich Mario Draghi bislang als ein sehr guter Kapitän erwiesen (wenngleich eindeutig wirtschaftsliberal). Und solange die Parteien in Italien weiterhin nicht mehr sind als schwankende Abbilder von Umfragewerten und persönlichen Interessen, droht sein Abgang das Land erneut in politische Handlungsunfähigkeit zu führen. Das sollten die Mitglieder der parlamentarischen Versammlung am 24. Januar unbedingt bedenken.

Ein langer italienischer Sommer

Sportliche Erfolge, wirtschaftlicher Aufschwung, zuletzt ein Nobelpreis: Es läuft in Italien. Und die Politik?

Mario Draghi zeichnet sich verantwortlich für die erfolgreiche Regierungsarbeit. Foto: European Union 2021

Mario Draghi eröffnete die Pressekonferenz am 5. Oktober mit der Nachricht, dass der italienische Physiker Giorgio Parisi gemeinsam mit zwei Kollegen den Nobelpreis für Physik erhalten wird. Erneut eine Auszeichnung mit weltweiter Aufmerksamkeit für das vor kurzem noch so gebeutelte Land. Davon hatte es in diesem Jahr, in diesem wundersamen italienischen Sommer schon einige gegeben:

Zuerst gewanndie junge Rockband Maneskin den Eurovision Song Contest und eroberte danach – musikalisch – die Welt mit ihren englischsprachigen Songs. Wann hatte es das zuletzt gegeben? Wenig später erkämpfte sich die italienische Fußballnationalmannschaft den Titel in der verschobenen EURO 2020 – und das auch noch mit ansehnlichem Fußball! Hatte es das je schon gegeben? Die Gratulationen kamen von überall und von Herzen, die Seele der Italiener:innen streichelte der Erfolg in jedem Fall. Fußball ist der Kitt, der die Nation zusammenhält.

Aber nicht nur König Fußball sorgte für neu erwachten Nationalstolz: Bei Olympia in Tokio holte sich Marcell Jacobs Gold über die Paradedisziplin 100m. Ein Italiener der neue Usain Bolt? Kaum zu glauben! Nun folgt die Erfolgsmeldung aus der Wissenschaft, die nur für Auftrieb sorgen kann angesichts anhaltend knapper Ressourcen an den Universitäten und einem veralteten Lehrsystem. Dazwischen, vielleicht noch ungewöhnlicher: Positive Nachrichten aus Wirtschaft und Finanzen. Italiens Wirtschaft wächst, stärker als erwartet. Die F.A.S. empfiehlt Investitionen in italienische Firmen. Wann gab es das zuletzt?

„Super-Mario“ Draghi scheint seinem Spitznamen gerecht zu werden und er erfüllt das wichtigste Kriterium, weswegen er in das Amt des Premierministers geholt wurde: Das Vertrauen der Wirtschafts- und Finanzakteure wiederzugewinnen (neben dem der politischen Partner:innen in der EU, versteht sich). Tatsächlich wird er ja auch den Anforderungen gerecht, die an ihn gestellt wurden zum Amtsantritt: Etwa den Impffortschritt zu beschleunigen – 77 Prozent der Italiener:innen sind bereits geimpft, eine Quote, von der manche Regionen in Deutschland meilenweit entfernt sind. Das Management der Pandemie zu verbessern, was seine Regierung zwar gegen Widerstände, aber letztlich unbeirrt und mit klaren – scharfen – Regeln tut.

Entscheidender jedoch für die Zukunft Italiens: die großen und schwierigen Reformen rasch anzugehen, welche die Grundlage für alle weiteren Maßnahmen des Next Generation EU-Plans bilden, die Justizreform und die Reformierung des Steuersystems. Letztere ist diese Woche angeschoben worden, mit einer so genannten legge delega, mit welchem die Regierung beauftragt wird, binnen 18 Monaten in kleineren Gesetzespaketen (decreti legislativi) die einzelnen Reformschritte zu konkretisieren und zu verabschieden. Dieses Delegationsgesetz liefert zunächst nur den Rahmen, die Grundprinzipien. Es muss von beiden Parlamentskammern verabschiedet werden, das heißt, das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Aber wie die vergangenen Monate gezeigt haben, lässt sich die Regierung Draghi kaum beirren. Einige Korrekturen hier und da, ansonsten wird wie geplant durchgezogen.

Auch das ist angenehm überraschend, denn anders als einige seiner Vorgänger, die ihre Tatkraft demonstrieren wollten, scheint Draghi niemals die Sachorientierung abhanden zu kommen. Es gibt keine Reform um der Reform Willen, sondern Reformen, um notwendige Dinge zu korrigieren und zu verbessern. Wenig überraschend scheint also, dass eine deutliche Mehrheit der Italiener:innen (57 Prozent) seine Arbeit positiv bewertet (Umfrage Ipsos vom 29.09.21).

Dagegen sträubt sich insbesondere die populistische Rechte, durch die Lega in der Regierung vertreten. Ein Eklat folgt auf den nächsten, weil Parteichef Salvini öffentlich gegen die Pläne der Regierung wettert (der er eben selbst angehört) und seine Leute nicht zu Ministerratssitzungen erscheinen oder dort gegen gemeinsam getroffene Entscheidungen abstimmen lässt. Geholfen hat Matteo Salvini diese Taktik bislang nicht. Innerhalb der Partei verliert er an Rückhalt, die gemäßigten Wirtschaftsliberalen um Giancarlo Giorgetti gewinnen an Gewicht. Gleichzeitig verliert die Lega Unterstützung in der Wählerschaft, speziell im Kerngebiet der Partei im Norden, wobei noch nicht ausgemacht ist, ob trotz oder wegen des moderateren Regierungskurses – oder weil vor allem die Widersprüchlichkeit im Verhalten der Parteiführung evident ist. In jedem Fall verlor das Mitte-Rechts-Lager bei den Kommunalwahlen am vergangenen Wochenende an Rückhalt. Mailand, Bologna und Neapel gingen klar an Mitte-Links, in Turin, Rom und Triest kommt es zur Stichwahl.

Alles gut also in Italien? Ja – noch. Von Beginn an wurde Draghis Amtszeit vom Ende der Legislatur her gedacht. Frühjahr 2023, dann stehen regulär die Parlamentswahlen an. Das ist auch richtig so, handelt es sich doch um ein governo tecnico, eingesetzt vom Staatspräsidenten, unterstützt von fast allen Parteien in – wenn auch brüchiger – „nationaler Einheit“. Doch einen solchen langen Atem wollten und wollen einige politische Kräfte nicht haben. Im Februar 2022 steht die Wahl des Staatspräsidenten an, und kaum war Mario Draghi Premier, wurde er schon für dieses höchste, aber konkret politisch eher wirkungslose Amt ins Spiel gebracht.

Giorgia Meloni, Oppositionsführerin von Fratelli d’Italia, brachte diese Option nun erneut ins Spiel. Zwar wurde sie gleich von einem ihrer Partner, Forza Italia, ausgebremst; das Mitte-Rechts-Lager steht gerade, auch aufgrund interner Querelen, nicht auf so soliden Füßen, als dass ihm eine Wahl im Frühjahr 2022 gelegen käme. Dennoch hätten FdI, Lega und FI die besten Aussichten, stärkste Kraft zu werden. Bis zu dieser Woche lagen Fratelli d’Italia in Umfragen stets vorne, gefolgt von einer – geschwächten – Lega. Die hohen Zustimmungswerte für Mario Draghi drücken sich also paradoxerweise nicht in Zustimmung zu moderaten Parteien aus – doch wo wären diese auch zu finden, abseits des Partito democratico, der einem Großteil der Italiener:innen immer zu links sein wird. Der Anteil der Nichtwähler:innen bei den Kommunalwahlen war enorm, meist ging nicht einmal die Hälfte der Berechtigten zur Wahl. Den Bürger:innen scheinen sich keine adäquaten Optionen zu bieten.

Es läuft also in Italien. Nur die Parteipolitik, sie hängt wieder einmal hinterher.

Reform der Strafprozessordnung. Die erste große Hürde der Regierung Draghi

Erst verschoben, dann die nächtliche Abstimmung mit Vertrauensfrage. Die Justizreform spaltet die italienische Regierung.

Die Reformierung des Justizsystems ist ein elementarer Bestandteil des Wiederaufbauplans. La giustizia, Statue in Florenz (pixabay).

Also doch die Vertrauensfrage. Regierungschef Draghi nutzte das Instrument, mit dem sich zig Regierungen Italiens in den vergangenen Jahrzehnten am Leben erhalten haben, um ihr Programm halbwegs umsetzen zu können. Vielfach kritisiert, weil es parlamentarische Debatten unterbindet. Nun, am 2. und 3. August setzte auch Mario Draghi die Vertrauensfrage ein, um eine seiner wichtigsten Reformen durchzusetzen: Die Änderung der Strafprozessordnung.

Die Prozesse, egal ob zivil- oder strafrechtlich, dauern in Italien zu lange. Die durchschnittlichen Zeiten übersteigen die Mittelwerte anderer europäischer Länder bei weitem, was nicht zuletzt an einem enormen Rückstau liegt und an Personalmangel. Allerdings liegen die Fehler auch teils im System, das deshalb schon häufig reformiert werden sollte. Dies ist – der vermeintlichen Unreformierbarkeit des italienischen Staates zum Trotz – durchaus in den vergangenen Jahren geschehen. Um die derzeitige hitzige Diskussion zu verstehen, ist ein Blick zurück durchaus erhellend. Doch vorab bleibt zu konstatieren: Das Grundproblem – die lange Prozessdauer – wurde nie effektiv behoben.

Diese zu reduzieren ist nun das, was „Europa“ von Italien fordert. Grundlage für die miliardenschweren Hilfen des Wiederaufbaufonds sind die so genannten Strukturreformen in Verwaltung und Justiz. Die Ministerin Marta Cartabia, ehemalige Verfassungsrichterin, hat in den vergangenen drei Monaten also an einer Reform des Strafprozessrechts gearbeitet (und parallel an einer des Zivilprozesses, die demnächst im Senat eingebracht wird) mit dem Ziel, die italienischen Strafverfahren effizienter zu machen. Sie hat dafür Änderungen vorgesehen an der erst zum 1. Januar 2020 eingetretenen Justizreform ihres Vorgängers Bonafede.

Die Änderungen sind vielfältig, eine Stellungnahme des Obersten Rates der Richterschaft umfasst 158 Seiten. Im Kern geht es in der politischen Auseinandersetzung, an der sich auch die Richterschaft beteiligt, um nur einen Aspekt: Die Verjährung. Die Reform Bonafede hatte diese nach der 1. Instanz aufgehoben. War also erst einmal ein Urteil gefällt, konnte die Verjährung nicht mehr greifen, egal wie lange die Verfahren in der Berufung oder vor dem Kassationsgerichtshof dauern würden. Interessanterweise orientierte sich Bonafede am deutschen Modell und versuchte die Ministerin Cartabia noch bis zuletzt zu überzeugen, dass nicht die Einstellung des Prozesses das richtige Mittel sei, sondern die Verringerung der Strafe bei zu ausufernder Prozessdauer.

Denn die „niemals endenden“ Prozesse, welche die Reform Bonafede vermeintlich verursachte, sollen mit der Reform Cartabia ins Gegenteil gewendet werden: Nach zwei Jahren ist Schluss im Berufungsverfahren und nach einem Jahr im Verfahren vor dem Kassationsgericht. Unabhängig von der Komplexität der Sachlage und fast unabhängig vom Strafmaß: Lediglich Straftaten, auf die lebenslänglich steht, sollten von der so genannten „Unprozessierbarkeit“ (improcedibilità) ausgenommen sein.

Gegen diese Pläne lief die Fünf-Sterne-Bewegung Sturm. Sie waren diejenigen, die mit dem Slogan „Onestà“, Ehrlichkeit, in die Parlamente und Regierungen eingezogen waren, die sich stets dem Kampf gegen Mafia und Korruption verschrieben haben. Sie waren diejenigen, die die Verjährung in den Berufungsinstanzen abgeschafft hatten um zu verhindern, dass findige Anwälte die Verfahren politischer und wirtschaftlicher Kriminalität so sehr verlängern konnten, dass sie eingestellt werden mussten. Oder auch dass Prozesse eingestellt werden mussten, weil aufgrund der Überarbeitung der Gerichte keine Zeit mehr blieb.

Die Regierung Berlusconi hatte 2005 noch unter massivem Protest und Beanstandungen – auch aus Europa – die Verjährungsfristen, insbesondere für Wirtschafts- und Korruptionsdelikte gelockert. Man muss eine schlechtes Gedächtnis haben, um zu vergessen, dass es gerade in politischen Kreisen ein gewisses Interesse gab und gibt, bestimmte Prozesse ins Leere laufen zu lassen. Die Überzeugung, mit der Forza Italia für die Unprozessierbarkeit eintritt, weckt zumindest eher ungute Gefühle, selbst wenn ihr Großmeister Berlusconi inzwischen zu alt zu sein scheint, um neue strafrechtlich relevante Fakten zu schaffen. Nichtsdestoweniger, Veruntreuung von Geldern, Korruption, dies sind auch Themen, mit denen die Lega und Salvini, oder auch Matteo Renzi (Italia viva) zu tun haben – sie alle loben die Einstellung der Verfahren nach festen Zeiten in den höchsten Tönen. Dies sollte an sich schon Grund zu Misstrauen sein.

Dennoch, ein harter Schnitt also, zwei Jahre, ein Jahr. Zwar zeigten sich Ministerin Cartabia und auch Premier Draghi gesprächsbereit bezüglich Verfahren gegen die Mafia, aber die Empörung war bereits riesig und erneut stand (und steht) die Fünf-Sterne-Bewegung an einer Wegscheide: Würden sie an diesem Konflikt zerbrechen oder könnten sie gesichtswahrende Änderungen durchsetzen? Die Drohungen waren massiv: Unzählige Änderungsanträge, die den parlamentarischen Prozess zeitlich gesprengt hätten, Enthaltung der M5S bei der Abstimmung – nichts, was Geschlossenheit und Handlungsfähigkeit der Regierung demonstriert hätte.

Und Draghi stand unter enormen Zeitdruck: Zuerst müssen die Strukturreformen durchgehen, dann kann die eigentliche Arbeit an den Wiederaufbauplänen beginnen und hinter allem drückt der Bedarf an Finanzmitteln vonseiten der EU. Jede Verzögerung, jede ausufernde Debatte und Verhandlung bringt den eng getakteten Zeitplan ins Wanken, umso mehr als jede Infragestellung der von der Regierung ausgearbeiteten, im Ministerrat beschlossenen Reformen die Dauer der Regierung Draghi selbst unsicherer werden lässt.

Für Draghi wie für die Fünf-Sterne ist die Justizreform damit existenziell. Giuseppe Conte, der nun doch schon wieder fast sicherere künftige Vorsitzende des M5S, führte die Nachverhandlungen, versuchte die Reihen geschlossen zu halten und das Schlimmste – aus Sicht der Fünf-Sterne – zu verhindern: Mafia-Prozesse sind nun von dem strikten Zeitrahmen ausgenommen, auch solche, die mafiöse Aktivitäten begünstigen . Rückenwind erhielten sie vom Obersten Richterrat und der Nationalen Vereinigung der Richterschaft. Zu viele Prozesse würden sofort eingestellt werden müssen, auch wenn das Gesetz erst Anwendung findet auf Verfahren, die zum 1.1.2020 begonnen wurden. Zu sehr weichen die vorgeschlagenen Zeiten vom Mittelwert der Berufungsverfahren aus, wobei es in einigen, zumeist südlichen Regionen massive Ausreißer nach oben gibt.

Das heißt: Kaum ein Berufungsgericht könnte die verlangten Zeiten einhalten, es würden notwendigerweise unzählige Prozesse im Nichts enden. Das ist natürlich eine sehr effektive Methode, die Überlast abzubauen. Alle Prozesse, die neu dazu kommen, können dann vielleicht in zwei Jahren bearbeitet werden. Es wäre zu hoffen. Andernfalls erreicht Italien zwar die lang ersehnte, von Europa geforderte kürzere Prozessdauer. Zugleich würde es aber einige Rechtsstaatsprinzipien untergraben, etwa die Verpflichtung zur Strafverfolgung, oder auch – im Sinne der Beschuldigten – die Feststellung der Sachverhalte, die ja womöglich einen Freispruch beinhalten könnten.

Dass Draghi die Vertrauensfrage stellt, um seine ungemein breite parlamentarische Mehrheit stabil zu halten, ist darüber hinaus politisch vielsagend. Anders als viele Vorgängerregierungen benötigt er die Vertrauensfrage nicht, um eine hauchdünne Mehrheit zu retten. Einzig Fratelli d’Italia sind wirklich nennenswerte Oppositionspartei, ansonsten stimmen alle mit der Regierung. Aber wenn die Fünf-Sterne als mit Abstand größte Fraktion in der Abgeordnetenkammer stark abweichen von der Regierungsempfehlung, dann hätte dies natürlich Konsequenzen für die zukünftige Regierungsarbeit.

Die Koalition, die keine ist, sondern ein Zusammenschluss aus nationalem Notstand heraus, würde noch instabiler, die Streitigkeiten noch mehr, das Recht auszuscheren würden auch andere für sich in Anspruch nehmen wollen. Das alles muss Draghi unterbinden, will er das Projekt, für das er an die Spitze der Regierung geholt wurde, in der knappen Zeit, die ihm bleibt, auch umsetzen. Deshalb die Vertrauensfrage, um die fragilen Fünf-Sterne zu disziplinieren. Für diese mag das letztlich einen weiteren Verlust an Kohäsion bedeuten, weil zu viele Kröten geschluckt werden.

Was es für Italiens Demokratie bedeutet, wenn Zeitdruck und Projektplanung von fachlichen Expert:innen die Gesetzgebung bestimmen, bleibt abzuwarten. Wie zu Beginn von Draghis Amtszeit steht noch aus, ob diese Phase die heilsame Reformierung des italienischen Staates und die Grundsteinlegung für eine bessere politische Zukunft ist – oder ob das regierende Expertentum nicht am Ende nur die andere Seite der populistischen Social-Media-Medaille ist, mit den selben verheerenden Effekten auf die repräsentative parlamentarische Demokratie.

Der schweigsame Präsident

Mario Draghi spricht wenig in der Öffentlichkeit. Heute hielt er seine erste Rede im Senat.

Neulich wünschte jemand Mario Draghi Glück, als dieser gerade im Wagen vorbeifuhr. Draghi ließ das Fenster herunter und antwortete auf die italienische Redensart „In bocca al lupo“ wie es sich gehört: „Crepi il lupo“. Im Fernsehen wurde das kommentiert mit: Mario Draghi hat etwas gesagt, endlich hat auch er gesprochen.

Denn in den letzten Tagen sprachen alle, die in Italiens Politik etwas zu sagen haben, und auch jene, die nichts zu sagen haben. Zudem äußerten sich zahlreiche Journalisten, Professorinnen und diverse Expertinnen ausgiebig zur politischen Lage. Einzig der Protagonist, um den sich alles drehte, blieb still: Mario Draghi gab keine Interviews und keine Statements, gab keine Zwischenstände oder Planungen preis. Seine Auftritte vor der Presse blieben auf ein Minimum und auf die Kernaussagen zu seiner künftigen Regierung beschränkt. Und erst recht gab es keine tweets oder posts oder storylines – Italiens neuer Ministerpräsident ist ein no-social.

Ein ungewohnter Kommunikationsstil für Italien

Dieser neue Stil ist für Italiens Politik- und Medienlandschaft eine Neuerung. Sicherlich gewöhnungsbedürftig. Sie passt aber ganz ausgezeichnet zu den Erwartungen, die an den neuen politischen Heilsbringer gestellt werden: Einer, der die Dinge ernst nimmt. Einer, der sich nicht ständig profilieren muss, weil er bereits ein Profil hat. Einer, der nicht nutzlos daherredet, sondern arbeitet. Allerdings erhöht die Schweigsamkeit auch die Erwartungen an das, was dann kommt, wenn die Stille durchbrochen wird. Umso mehr, wenn die Ansprache dann im Parlament stattfindet, was durchaus auch ein Statement ist: Nicht schon ständig in den Medien präsent zu sein, sondern zuallererst dort, wo in einer Demokratie Politik gemacht wird – im Parlament.

Nun hat Mario Draghi, designierter neuer Ministerpräsident Italiens, im Senat seine Rede gehalten, mit der er das Vertrauen in dieser Kammer erhalten will (zur Zeit läuft die Debatte noch). Wer eine Ansprache erwartet hatte, die dem politische Erdbeben, das dieser Regierungsbildung vorausgegangen war, ebenso entspricht wie die pandemische wie ökonomische Ausnahmesituation, in der sich Italien befindet, wurde zumindest vom Auftritt her enttäuscht. Mario Draghi hat Großes vor – aber er fasst es nicht in große Worte.

Standing ovations für Conte, wenig Enthusiasmus für Draghi

Eher noch fasst er es in Zahlen, und fügt nebenbei hinzu, dass die Zahlen der Wirklichkeit nicht gerecht werden. Gleichwohl hält er sich an ihnen fest und kommt überraschenderweise ausgerechnet hier ein paar Mal ins Straucheln; Versprecher und Verblätterer nehmen den durchaus bedrückenden Zahlen – zur Pandemie und ihren Folgen – ihre Wucht, und dass, wo Zahlen ohnehin selten mitreißen. Draghi beginnt seine Rede mit der Pandemie und dem nationalen Ausnahmezustand, und vielleicht weil man es ein wenig zu oft gehört hat zuletzt, vielleicht, weil er keine neuen, keine authentisch berührende Worte dafür findet, bleibt das Auditorium eher unbeeindruckt. Den größten Applaus gibt es nach ein paar Minuten, als der neue Ministerpräsident dem alten dankt. Der Beifall, der in diesem Moment für Giuseppe Conte aufbrandet, hält derart lange an, dass es fast schon unangenehm wirkt für seinen Nachfolger. Als es dann in Teilen auch noch Standing Ovations gibt, wird das den anderen Senatorinnen zu viel: Buh-Rufe hallen durch den Plenarsaal.

Und doch lässt diese Situation bereits erahnen, was die Schwäche des neuen Regierungschefs sein könnte: Giuseppe Conte hat viele Sympathien gewonnen, in der Bevölkerung und auch unter den Parlamentariern. Dafür hat man ihm manche inhaltliche Unausgereiftheit nachgesehen. Bei Mario Draghi scheint es umgekehrt: Er ist der Experte, der nun die bestmöglichen Reformen und Programme auf den Tisch legt, aber ob er die Herzen der Bürgerinnen und Bürger gewinnen kann? Draghi steigert sich im Laufe seiner Rede. Wenig überraschend ist er dort am überzeugendsten, wo er seine Expertise geltend machen kann. Die notwendige Steurerreform, die als Ganzes angegangen werden muss, die Ausgestaltung der Verwaltungs- und Justizreform – es ist nicht nur überdeutlich, dass er um deren Bedeutung und Dringlichkeit weiß, dass er jeden Schritt, der diesbezüglich in der Vergangenheit gegangen wurde, kennt, sondern auch, dass er eine präzise Vorstellung davon hat, wie diese Reformen angegangen werden müssen. Und diese unbeirrt angehen wird.

Gleiches gilt für die Wirtschaftspolitik und Draghis Konzept, wie er Italien ökonomisch wieder zum Laufen kriegen will. Er stärkt die Hoffnung, dass mit dieser Regierung endlich die zukunftsgerichteten, innovativen Ideen umgesetzt werden, mit denen Italien wieder anschlussfähig wird in Sachen Produktivität, Arbeitsstandards oder Nachhaltigkeit. Ideen, die zudem auf dem festen Boden ökonomischen Sachverstands stehen. Allerdings wird es hier politisch spannend, denn Draghis Ausrichtung ist eindeutig wirtschaftsliberal – neoliberal, wenn man dieses Wort gebrauchen möchte – und das ist eine Haltung, die entgegen anderslautender Äußerungen des politischen Personals weder links noch rechts besonders viele überzeugte Anhänger hat.

Überzeugende Inhalte, verbesserungswürdige Rhetorik

Doch abseits der – zweifelsohne überzeugenden – Inhalte, zu denen auch die Investitionen in Kultur, Bildung und Forschung zählen, bleibt Mario Draghi überraschend blaß. Wenn es rumort im Auditorium, etwa bei einigen Äußerungen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik, unterbricht er sich und schaut in die Runde wie ein Lehrer, der sich insgeheim echauffiert über die aufmüpfigen Schüler, es aber unter seine Würde betrachtet, darauf einzugehen – und sei es nur durch die Veränderung seines Gesichtsausdrucks. An den potentiell emotionalsten Stellen seiner Rede, wenn er auf die Kraftanstrengungen der Italiener und Italienerinnen in dieser Pandemie zu sprechen kommt, wenn er von der Pflicht aller spricht, nun Eigeninteressen dem Wohl der Nation unterzuordnen, dann springt höchstens ein schwacher Funke über.

Italien, und Europa, können davon ausgehen, dass Mario DRaghi die Dinge angeht, die am dringlichsten sind, mit Sachverstand, Plan und Durchsetzungsstärke. Doch es wird kaum reichen, die Dinge gut zu machen. Er wird darüber reden müssen. Mit weniger Zahlen, dafür mit mehr Empathie. Die Reformen werden umfassend sein, und obwohl Draghi mit dem Recovery Plan EU-Gelder in Höhe von 210 Milliarden verteilen kann, wird es Missfallen, Unstimmigkeiten und auch Frust geben. Man gewinnt Zustimmung nicht allein durch gute Bilanzen. Die Bevölkerung will gehört und verstanden werden, dazu muss sie einen Regierungschef vor sich haben, der kommuniziert. Der so kommuniziert, dass sich die Menschen wiederfinden.

Bleibt Mario Draghi seinem Stil treu, kann das schwierig werden. Zwar haben sich die Italienerinnen und Italiener – mal wieder – einen Fachexperten gewünscht, der alles zum Guten wendet, weil er klug ist und uneigennützig. Die Vergangenheit hat aber schon oft gezeigt, dass ihnen ein Kommunikator, ein Entertainer, eine, die sich volksnah gibt, einer, der ihnen ähnlich ist, in Wirklichkeit viel lieber ist. Natürlich muss Draghi keine Wahlen gewinnen, also muss er auch nicht für sich werben. Doch in seine Stille drängen schon jetzt andere Stimmen, seine sachliche Distanziertheit wird früher oder später die Demagogen anspornen, um das Wahlvolk bei den Emotionen zu packen. Es bleibt abzuwarten, wie lange Mario Draghis Expertise ihn durch Italiens unruhige politische Gewässer trägt.

Die Metamorphose des Matteo Salvini

Die Nominierung Mario Draghis zum Ministerpräsidenten verändert bereits Italiens Politik. Der Gesinnungswandel des Lega-Chefs ist das beste Beispiel dafür. Doch wie weit reicht die Veränderung wirklich?

Matteo Salvini (rechts), neuerdings beschwichtigend. Hier mit Commissioner for Migration, Home Affairs and Citizenship Dimitrios Avramopoulos. Foto: European Union 2019

Es werden große Hoffnungen in Mario Draghi gesetzt. Hauptsächlich erwartet das Land – und die EU – dass nun die richtigen und effektiven Schritte in der Bekämpfung der Pandemie, des wirtschaftlichen Wiederaufschwungs und der vielen italienischen Baustellen von Bildung bis Infrastruktur und Justiz gemacht werden.

Wichtiger noch ist jedoch der Draghi-Effekt auf die politische Elite und die Parteien. Denn von ihnen wird abhängen, ob die richtigen Schritte nach dem Ende der – sicher nur temporären – Regierung Draghi auch weitergegangen werden. Das Tempo, in dem die Parteien eine nach der anderen ihre vermeintlichen roten Linien überschritten haben, um an der Regierung Draghi teilzuhaben, ist atemberaubend. Die Fünf-Sterne sind bereit, mit ihrem Erzfeind Silvio Berlusconi an einem Tisch zu sitzen, zu dem ein Exponent einer weiteren Inkarnation des Bösen – der Banken – aufgerufen hat. Der Partito Democratico findet plötzlich, mit den Politiker:innen der Lega könne man reden, Fremdenfeindlichkeit hin, Nationalismus her. In der Tat, wo ist der Nationalismus der Lega plötzlich hin? Matteo Salvini, Parteichef der ehemals sezessionistischen, heute sovranistisch-nationalistischen Partei, findet plötzlich lobende Worte für die Europäische Union und schwört seine Euro-Parlamentarier darauf ein, für die Regeln des Recovery Fund zu stimmen. Stattdessen streitet er sich jetzt mit der AfD.

Die Lega lenkt also ein auf den dezidiert pro-europäischen, pro-westlichen Kurs, den Mario Draghi als unverrückbare Grundlage seiner Regierungspolitik definiert hat. Was ist da los?

Europäische Zusammenarbeit unter Nationalisten zum Scheitern verurteilt

Einerseits könnte man nun behaupten, ein auf nationale Interessen ausgerichtetes Europa kann eben nicht zusammenarbeiten – erst recht nicht ein Front National oder eine AfD mit der Lega. Wenn Mario Draghi als EZB-Chef und der Recovery Fund Italien vor dem Schlimmsten bewahrt haben und bewahren werden, so war das für Matteo Salvini schon schwierig genug einzugestehen. Er kann jedoch noch glaubhaft versichern, dass dies schließlich im nationalen Interesse Italiens lag und deshalb aus patriotischer Sicht unterstützt werden müsse. Da hat es die AfD schon schwerer, denn die Vorteile Deutschlands durch die EU sind zwar nicht von der Hand zu weisen, aber längst nicht so offensichtlich wie jene Italiens – vor allem nicht so offensichtlich wie die Tatsache, dass die Kreditwürdigkeit und Finanzlage Deutschlands unabdingbar für eine gemeinsame Krisenbewältigung ist, und der daraus folgende Kurzschluss – den ja wahrlich nicht nur die AfD vertritt – gemeinsame Schulden gingen ebenso wie die Ankaufprogramme der EZB zulasten Deutschlands.

Im Unterschied zur Zeit der Finanzkrise hat die EU daher gerade einen entscheidenden Vorteil: Das Geld, das sie zu vergeben hat, bedient bestimmte nationale Interessen – und zerschlägt damit die Allianz der EU-Gegner. Seit im Sommer der Wiederaufbaufonds ausgehandelt wurde hat es gerade die Lega schwer, mit ihrem Anti-Europäismus noch zu punkten. Dennoch ist der Schritt, den Matteo Salvini in diesen Tagen gemacht hat, ein radikaler. Von einem Tag auf den anderen verschwinden die Parolen und die Forderungen. Von einem auf den anderen Tag ist die EU eine Chance und keine Bedrohung des nationalen Wohls mehr. Diesen Part seiner Politik hat er an Fratelli d’Italia ausgelagert, die klar in Opposition zur neuen Regierung bleiben. Aufgabenteilung im Mitte-Rechts-Lager: Wenn sie bei Neuwahlen als Bündnis gemeinsam antreten, kann Giorgia Meloni glaubhaft diejenigen Stimmen einfangen, die Draghi und der EU weiterhin skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen, während die Lega die moderateren Stimmen einfängt und sich als verantwortungsbewusste Kraft für die Nachfolge Forza Italias aufstellt.

Denn Silvio Berlucsonis FI hatte schnell klar gemacht, Draghi unterstützen zu wollen. Dass die gemäßigten rechten Wähler jedoch der in die Jahre gekommenen Partei des in die Jahre gekommenen Ex-Ministerpräsidenten zulaufen, weil die Lega Fundamentalopposition betreibt – das konnte Salvini nicht zulassen. Das Risiko aber bleibt: So lange haben er und Meloni anti-europäische Stimmung gesät – mag sein und seine Konkurrentin von Fratelli d’Italia fährt bei der nächsten Wahl die Ernte allein ein. Die Chance besteht darin, dass Draghis Wirtschaftspolitik vor allem die traditionelle Wählerklientel der Lega in Italiens Norden bedient – die zahlreichen Unternehmer:innen, die den Nationalismus in Bezug auf Europa nie ganz mitgetragen haben und die Salvini keinesfalls verlieren darf.

Alles nur Taktik? Salvinis Manöver

Alles Taktik also? Ein Manöver, um bestmöglich in die nächsten Wahlen zu gehen, die vielleicht im Sommer kommenden Jahres anstehen? Zur Zeit lässt sich das nicht abschließend beurteilen. Doch Matteo Salvini ist ein Instinktpolitiker. Was für ihn zählt ist weniger die Überzeugung als der größte Benefit in Wählerstimmen. Als Autonomie und Politik nur für den Norden nicht mehr ausreichten, die Lega zu einer ernstzunehmenden politischen Kraft zu machen, spürte Salvini die Stimmung in der Bevölkerung auf, einige Jahre kaum politisch repräsentiert wurde: Ärger, Sorge und Ablehnung wegen der vielen Migrant:innen, die in Italien strandeten. Die EU, die an dieser Situation schuld war, die zudem Reformen erwartete, die die ohnehin von Staat gegängelten Italiener:innen um ihre Rente und ihr Auskommen brachten. Weltweit schien „my own country first“ eine Erfolgsformel. So machte er kurzerhand aus einer regionalistischen eine nationalistisch-sovranistische Partei und ging erfolgreich auf Stimmungsfang auch im Süden.

2021 ist die Lage jedoch eine andere: die Pandemie, das Ende von Trumps Präsidentschaft, die versprochenen EU-Hilfen, der dringende Bedarf an verantwortungsvoller, effektiver Politik – gern mit drastischen Maßnahmen, mögen sie nur helfen. Für politische Grabenkämpfe haben die Italiener:innen derzeit so wenig Verständnis wie Sinn für das beste Pannino oder die beste Pasta, die sonst Salvinis bevorzugte Instrumente waren, den Nationalstolz der Bevölkerung anzusprechen. Also sucht sich Salvini neue Wege, im breiten Becken des Mitte-Rechts-Lagers nach Zustimmung zu fischen. Wenn diese nun eher über eine verantwortungsbewusste Wirtschafts- und Finanzpolitik sowie über Reformen an den öffentlichen Institutionen (Gesundheit, Bildung, Justiz, Verwaltung) einzuholen ist – warum nicht? Schließlich hat er vor allem immer gesagt, im Interesse der Italiener:innen zu handeln. Und wenn diese ihre Prioritäten ändern, warum dann nicht auch ihr Volkstribun Salvini?

Damit dies nicht eine wenige Monate währende Episode bleibt, muss Mario Draghi so weise sein, Salvini und der Lega gewisse Erfolge zu gönnen und zu einem tatsächlichen Miteinander zu kommen. Denn nur wenn Matteo Salvini weiterhin größere Chancen in der Unterstützung der Regierung sieht als in ihrer Demontage, wird er der „friedliche“ Salvini bleiben. Oder Mario Draghi wird derart erfolgreich sein müssen, dass Salvini zugunsten moderaterer Kräfte in der Lega marginalisiert wird. In beiden Fällen hatte er sich sehr um die Zukunft Italiens und Europas verdient gemacht.

Mario Draghi Ministerpräsident: alles gut in Italien?

Mit dem Ex-BZE-Chef an der Regierungsspitze lassen sich einige, aber längst nicht alle Probleme Italiens lösen.

Mario Draghi, Aufnahme von 2011
Mario Draghi, ehemaliger Chef der Europäischen Zentralbank, jetzt designierter italienischer Ministerpräsident. Foto: European Union, 2011

In Europas Hauptstädten und in Brüssel ist man erleichtert bis begeistert, dass so ein erfahrener kompetenter Mann wie Mario Draghi die Regierungsführung in Italien übernehmen soll. Die Finanzmärkte ebenso, was sich unter anderem in einem Rekordtief der Risikoaufschläge für italienische Staatsanleihen, dem spread, zeigt. In Italien selbst hört man nur lobende Stimmen über die außerordentlichen Fähigkeiten des ehemaligen nationalen wie europäischen Notenbankenchefs. Hat Staatspräsident Sergio Mattarella also die richtige Antwort auf die politische Krise aus dem Hut gezaubert?

Sicher, das hat er. Doch in der Euphorie darüber, dass Draghi den Auftrag – unter Vorbehalt – angenommen hat, eine neue Regierung zu bilden, darf nicht untergehen, dass dieser Schritt erst nötig wurde, weil sich eine politische Krise entfaltet hatte, die selbst in Italien ihresgleichen sucht. Die Unfähigkeit zur Problemlösung, die die politischen Akteure dabei offenbarten, wird Mario Draghis Regierungsbildung und -politik weiter beeinflussen.

Herausforderung I: politische Einheit

Mario Draghi braucht eine parlamentarische Mehrheit in beiden Kammern. Giuseppe Conte hatte keine Mehrheit mehr hinter sich vereinen können, und die beiden größten ihn unterstützenden Parteien PD und M5S waren nicht in der Lage, eine Alternative zu Conte zu entwickeln und dafür die nötige Unterstützung zu bekommen. Die aktuell laufenden Gespräche zeigen bereits, dass es auch für Mario Draghi nicht einfach wird: Die Fünf-Sterne haben Bauchschmerzen, schließlich repräsentierte er als EZB-Chef aus ihrer Sicht genau diejenigen Institutionen, die Italiens nationale Selbstbestimmung beschnitten und politische Reformen gegen den Willen der italienischen Bevölkerung „diktierten“. Das Draghi mit seinem „Whatever it takes“ vor allem Italien die Haut gerettet hat, wird in den orthodoxen Kreisen der Fünf-Sterne nur ungern anerkannt. Ähnlich sieht es Giorgia Meloni von Fratelli d’Italia, die sogleich ankündigte, Draghi im Parlament nicht unterstützen zu wollen. Soweit zu verschmerzen, denn es ließe sich ohnehin sehr schwer eine Regierung vorstellen, in der der pro-europäische Partito Democratico mit den nationalistisch-sovranistischen Fratelli d’Italia zusammenarbeitet.

Dies führt zur stärksten Kraft im Mitte-Rechts-Lager, der Lega. Zwar dämmert es Lega-Chef Matteo Salvini, dass sich mit anti-europäischen, trumpistischen Tönen inzwischen weniger Zustimmung erreichen lässt als noch vor drei Jahren (s. Recovery Plan). Doch Salvinis Lega ist auf Abgrenzung, auf Dauerwahlkampf, auf Parolen statt Verhandlungen ausgerichtet. Da passt eine Regierung des nationalen Konsens‘ zur Überwindung der Krise nicht ins Konzept. Zumal es Draghis Regierung zuallererst um die Bekämpfung der Pandemie und ihrer Folgen gehen wird – und die Mitte-Rechts-Opposition hat bislang noch nicht glaubhaft machen können, warum sie der bessere Krisenmanager wäre, wo sie doch Covid-19 lange Zeit vor allem verharmlost hatten und sich weigerten, Schutzmaßnahmen mitzutragen. Doch das größte Problem für die künftige, ja für alle künftigen Regierungen liegt tiefer:

Herausforderung II: Fehlendes politisches Führungspersonal

Die Opposition kann an dieser Stelle gleich ausgeklammert werden, denn Verantwortungsbewusstsein und Eignung zum Krisenmanagement hat sie in den vergangenen Jahren nicht an den Tag gelegt, auch die Lega in Regierungsverantwortung nicht. Da ging es um Profilierung und Härte gegen den Gegner (Migrant:innen, EU, die Linke…). Unwahrscheinlich, dass mit Salvini Premier es überhaupt die europäische Hilfe gegeben hätte, um deren Abruf es jetzt maßgeblich geht.

Dass Giuseppe Conte in den letzten Monaten überhaupt zu der Führungsfigur aufsteigen konnte, spricht Bände über den Zustand der politischen Elite. Keine Frage, er war und ist sehr beliebt; das Krisenmanagement im letzten Frühjahr gelang ihm trotz aller Probleme recht gut. Er verhandelte in Brüssel die EU-Hilfe, ein großes politisches Verdienst, nicht zuletzt weil die Euroskepsis der Italiener:innen danach stark sank. Der späte Widerstand gegen Salvini im Herbst 2019 war so notwendig wie ermutigend. Und zunächst schien es sogar, als könne er sich gegen den zweiten sich selbst überschätzenden Matteo – Renzi – behaupten. Doch dort, wo es wirklich schwierig wurde, wo politische Führung und Durchsetzungsstärke nötig war, konnte Conte nicht liefern. Vom Wiederaufbauplan, mit dem die EU-Gelder eingesetzt werden sollten, bis zur Handhabung der Krise, in der er kein klares politisches Programm für eine Regierung „Conte ter“ bieten konnte.

Seit Sommer schon kursiert der Name Draghis in den italienischen Medien, wenige Wochen vor der Krise wurde in den Polit-Talkrunden mitleidsvoll über Contes Befinden und seine Zukunftsaussichten gesprochen. Tenor: Hier arbeitet einer ehrlich, aber eben an seiner Leistungsgrenze. Niemand wollte Conte etwas Böses, aber man sah deutlich die Grenzen seiner Kompetenz. Bitter ist, dass in so einer Situation keine einzige politische Kraft, nicht einmal der Partito Democratico, in der Lage war, personelle und politische Alternativen zu anzubieten. Der PD, allen voran Parteivorsitzender Nicola Zingaretti, wollten eine dritte Conte-Regierung, hielten sich an seiner Popularität fest, spekulierten auf ein doch noch mögliches, wenn auch unwahrscheinliches Zusammenwachsen mit – zumindest einigen – linken Kräften des M5S, um die Linke zu neuer Stärke zu führen. Conte war jedoch nicht stark genug, die Fünf-Sterne zu planlos, zu zerfranst und unentschlossen. Stattdessen Renzi.

Matteo Renzi, über den nur noch strittig ist, ob sein egozentrisches Verhalten und seine fehlgeschlagene Taktik – es heißt, er wollte Macron nacheifern und den PD wie die Sozialisten in Frankreich durch den Aufbau einer eigenen Bewegung zerschlagen – nicht doch noch eine Sache zugutezuhalten wäre. Nämlich dass er letztlich Mario Draghi in die Regierungsverantwortung gebracht hat. Viel mehr ist zu dieser in Europa immer noch grob überschätzten Personalie nicht mehr zu sagen.

Und mit genau diesen politischen Führern – nicht zu vergessen der grauen Eminenz Silvio Berlusconi – muss nun Mario Draghi eine Regierung, eine Parlamentsmehrheit schmieden.

Herausforderung III: Die Experten-Regierung

Noch ist nicht ganz klar, inwieweit Draghis Regierung den Charakter einer Experten-Regierung haben wird. Nach den Erfahrungen der Regierung Monti (2011-2013) spricht sich die überwiegende Mehrheit der Politiker:innen für eine politische, d.h. mit Parteivertreter:innen besetzte Regierung aus. Allerdings, dazu müssten sich sehr heterogene Parteien und -flügel auf eine gemeinsame Besetzung einigen (s. Herausforderung I), die zudem die qualitativen Anforderungen, die Mario Draghi sicher haben wird, erfüllen (s. Herausforderung II).

Bereits zweimal gab es eine Expertenregierung, die ebenfalls aufgrund europapolitischer Erfordernisse eingesetzt wurden: Die Regierung Ciampi Anfang der 1990er Jahre, als es darum ging, dass Italien die Maastricht-Kriterien erfüllen musste, und eben 2011, als die politische Klasse sich nicht durchringen konnte, die einschneidenden Sozial- und Fiskalreformen durchzuführen, die wegen der Finanzkrise erforderlich schienen. Man kann leider nicht behaupten, dass die den Technokraten nachfolgenden Phasen eine Verbesserung der politischen Situation, eine Verbesserung der Politik und ihrer Akteure mit sich brachten. Eher ist das Gegenteil der Fall.

Zudem wünschen sich Bevölkerung wie Journalist:innen häufig eine kompetente, starke Persönlichkeit abseits der parteipolitischen Interessen, die endlich wieder Ordnung ins Land bringt. Die de facto Absetzung Berlusconis, die Montis Regierung voranging, wurde geradezu gefeiert. Allein, die Freude währt oft nur kurz. Früher oder später setzen parteipolitische Taktierereien ein, früher oder später wird es Wahlen und damit Wahlkampf geben müssen, die nicht gewonnen werden, wenn man gemeinsam mit dem politischen Gegner konsensual am Besten für das eigene Land arbeitet. Zumal, wenn das Beste nicht immer das Angenehmste ist. Die Regierung Monti mag das Notwendige, vielleicht auch das Richtige getan haben – am Ende sorgte sie mit für den Aufstieg der Fünf-Sterne und auch die Lega labte sich lange an dem Anti-Europäismus, der in den Monti-Jahren entstand.

Die Ehrungen, die Mario Draghi jetzt von allen Seiten zuteil werden, werden kaum länger anhalten als bis zu dem Punkt, an dem eine Partei die Chance erblickt, sich erfolgreich zu profilieren und bei den nächsten anstehenden Wahlen zu punkten – oder diese gar herbeizuführen. Im Grunde ist bei einer Experten-Regierung das Ende schon mitgedacht. Ein Ende, das im schlimmsten Fall ein Scheitern sein wird – nicht, weil Draghi die Umsetzung bestimmter Vorhaben nicht gelingen wird. Sondern weil die Parteien die Zeit nicht nutzen, zu mehr Profil, mehr Kompetenz und mehr Kompromissbereitschaft bei weniger Individualinteresse zu gelangen. Weil der politische Niedergang Italiens nur unterbrochen, nicht behoben wird.

Renzis unangemessener Machtpoker

Matteo Renzi läutet eine Regierungskrise ein, während das Land mit Pandemie und Wirtschaftskrise kämpft

Nun ist sie also da, die Regierungskrise. Conte II neigt sich seinem Ende zu. Dies hatte sich seit Wochen, wenn nicht Monaten immer wieder angedeutet. Die treibende Kraft dahinter war immer wieder und bis zuletzt Matteo Renzi, der frühere Premierminister und Vorsitzende der Splitterpartei Italia Viva.

Als ob es noch eines Beweises bedurfte, dass es Matteo Renzi bei Politik vor allem um ihn selbst geht, hat seine Partei durch die Enthaltung bei der Abstimmung zum italienischen Recovery Plan – dem Weg, wie Italien mit EU-Geldern aus der pandemiebedingten Krise kommen solle – sich enthalten und daraufhin den Rücktritt der Ministerinnen von Italia Viva angekündigt. In den vergangenen Wochen hatten Renzi und Iv immer wieder Verbesserungen am Recovery Plan eingefordert, wie das Geld auszugeben sei, wie die Strukturen hinter dem Programm aufgebaut werden sollten und ob nicht zusätzlich der EMS genutzt werden sollte, um das Gesundheitssystem zu stärken.

Alle diese Einwände, so der Tenor auch heute in Medien und Bevölkerung, waren wichtig und teils richtig. Gleichwohl scheint niemand ernsthaft zu glauben, Renzi ginge es um Inhalte. Kein Entgegenkommen genügte, am Ende schien Conte die Forderungen nicht mal mehr ganz ernst zu nehmen, da es stets so schien, als könne er sie ohnehin nicht in ausreichendem Maße erfüllen. Ex-Ministerpräsident Romano Prodi äußerte am Vorabend im italienischen Fernsehsender la7, Renzi sei es die ganze Zeit nicht ums verhandeln gegangen, sondern um den Bruch mit der Regierung.

Renzi selbst gibt sich gleichwohl staatstragend, will trotz dem Ausscheiden aus der Regierung alle notwendigen Maßnahmen und Gesetze zur Pandemiebekämpfung und ihrer Begleiterscheinungen mittragen. Das passt ihm gut, kann er dann doch den häufig vorgebrachten Einwand begegnen, ihm ginge es immer nur darum, seine Posten, le poltrone, zu behalten.

Doch seine Worte überzeugen nicht. Zu sehr erinnert er an sich selbst fünf Jahre zuvor, als er im Dezember 2016 seine Verfassungsreform dem italienischen Volk zur Abstimmung stellte. Sie sollte das Land modernisieren und aus der politischen Krise führen, eine historische Reform zum Wohle aller Italiener:innen. Doch schon damals erschien der gute Wille für das Volk nur Fassade, die inhaltliche Auseinandersetzung trat fast komplett hinter der personellen Zurschaustellung zurück: Es war Renzis Reform, seine historische Tat, und allein wegen des historischen Werts, sie überhaupt zustande gebracht zu haben, sollten die Wähler:innen ihr zustimmen. Allein, diese Logik der Personalisierung verfing nicht, höchstens mündete sie ins Gegenteil: Die Reform wurde abgelehnt, weil es Renzi war, der sie in Überschätzung seiner Kräfte durchgeboxt hatte, ohne auf breiteren politischen Rückhalt zu setzen.

Im vergangenen Jahr dann schmiedete Renzi mit seinen Kolleg:innen des PD eine Koalition mit den Fünf-Sternen, nur um kurz darauf sich abzuspalten und seine eigene Partei zu gründen, die sich fortan wie die erste Oppositionspartei, insbesondere gegenüber den Fünf-Sternen verhielt. Italia viva ist die jüngste unter unzähligen Ein-Mann-Parteien, die das Parteiensystem Italiens in den letzten Jahrzehnten hervorgebracht hat, und von denen keine jemals besondere Bedeutung erlangt hätte. Auch Iv erhält in Umfragen kaum mehr als 2 Prozent. Doch Wähler:innen hinter sich zu versammeln ist auch gar nicht das Ziel dieser Parteien. Sie müssen nur ausreichen, um ins Parlament einzuziehen. Und dort spielt man dann das Zünglein an der Waage, dessen Stimmen für die heterogenen, instabilen Koalitionen dringend nötigen sind. Das verschafft Macht, die sich nicht im Wählerzuspruch widerspiegelt. Doch warum sollte sie auch – was sie schafft, sind Aufmerksamkeit, Fernsehauftritte und vor allem – poltrone.

So gesehen ist Renzis Vorstoß nichts Außergewöhnliches in Italiens Regierungsgeschichte. Er, der die alte politische Klasse „verschrotten“ wollte, reiht sich ein in die unselige Tradition derjenigen, die Regierungskrisen wegen persönlicher politischer Vorteile auslösen. Was Renzis Vorteil ist? In der derzeitigen Konstellation war sein Gestaltungsspielraum begrenzt. Eine wahrscheinliche „technische“ Regierung wird ebenso auf die Stimmen von Italia Viva in den Parlamentskammern setzen müssen – aber vielleicht sind ein paar unliebsame Gegner weniger am Kabinettstisch, das Kräfteverhältnis wird sich eher nicht zugunsten der Fünf-Sterne entwickeln und überhaupt: Bei einer neuen Regierungsbildung können die Bedingungen neu verhandelt werden und damit günstiger für Renzi ausfallen.

So unangemessen eine solche Taktik schon zu normalen Zeiten ist, weil sie nicht im Ansatz der Verantwortung des Regierens gerecht wird und die in Italien besonders ausgeprägte Politikverdrossenheit nur weiter nährt, so wirkt sie inmitten der Pandemie, die Italien besonders heftig getroffen hat, noch viel deplazierter. Es ist kaum zu erwarten, dass Renzis Vorgehen ihm Zustimmung in der Bevölkerung bringen wird. Es ist leider auch nicht zu erwarten, dass die nächste Regierung viel besser sein wird als die alte. Oder das sie wesentlich länger halten wird. Aber solche Ziele hat Renzi ja gar nicht. Ihm geht es vor allem um eins: Renzi.