Wochenende der Entscheidung II: Was von der Verfassungsreform übrig blieb

Ein kleineres Parlament. Sonst nichts.

Die politische Gemengelage um die Regionalwahlen aus Pandemie, Ökonomie und Defiziten der Regierungsarbeit verbunden mit der eklatanten Profilschwäche der Fünf-Sterne verdeckt beinahe die weitere Entscheidung, die am Sonntag und Montag getroffen werden soll: Die Reduktion der Parlamentarier von derzeit insgesamt 945 auf 600 Personen.

Italiens Parlament besteht aus zwei Kammern, der Abgeordnetenkammer und dem Senat, die beide gleichberechtigt an der Gesetzgebung beteiligt sind. Sie erledigen praktisch dieselben Aufgaben, einmal mit 630 national gewählten Abgeordneten und auf der anderen Seite mit 315 Senatoren. Mal bringt die eine Kammer ein Gesetz ein, mal die andere, am Ende müssen beide die Entwürfe in ihren Kommissionen diskutieren und beide eine einheitliche Fassung verabschieden. Dieser Umstand ist vielfach kritisiert worden und seit Jahrzehnten mehrfach Gegenstand versuchter Reformen gewesen. Ohne Erfolg.

Mit der jetzigen Verfassungsreform sollen lediglich 400 Abgeordnete und 200 Senatorinnen im Parlament sitzen. Den Reformentwurf hatte noch die Koalition aus Fünf-Sterne und Lega eingebracht, sie überlebte allerdings die Regierungsneubildung und wurde unter der der neuen rot-gelben Mehrheit final verabschiedet. Begründet wurde sie mit den zu hohen Kosten des Politikbetriebs und dem Ziel schlankerer, effizienterer Strukturen. Selbstverständlich sind 300 Diäten, Büros, Mitarbeiterstellen und Fahrtkostenerstattungen weniger eine Kostenreduktion. Aber ist diese Reform auch politisch sinnvoll?

Unbenommen davon, dass die Reduktion auf breite Zustimmung in der Bevölkerung stößt und kaum eine Partei sie wirklich ablehnt, kann man ihre Sinnhaftigkeit durchaus hinterfragen. Pierfrancesco Casini, altgedienter Parlamentarier der kleinen christdemokratischen Partei, der an einer Vielzahl von Regierungen beteiligt war, sieht das Parlament zum Sündenbock gemacht für alles, was in der Politik, in den verschiedenen Regierungen falsch läuft. Er sei wahrlich nicht gegen eine Reformierung des Zweikammernsystems, doch eine simple Reduzierung auf eine Zahl, die sich gut verkaufen lässt – 600 – führt am Ende zu nichts. Außer, dass sie den populistischen Marketing-Strategen gefällt.

Dass sich keine der größeren Parteien gegen die Reduktion stellt, kann man als Angst vor der Wählerschaft deuten. Viel zu oft haben alle Parteien das Klischee der faulen und geldgierigen Politikerklasse bedient, die es abzuschaffen und wegzureformieren gelte. Da macht der PD – unter der damaligen Führung von Matteo Renzi – keine Ausnahme. Sich gegen eine Verringerung der Zahl der Abgeordneten zu stellen, wäre politischer Selbstmord. Viel zu gefestigt ist die Sicht, dass es sich bei diesem Berufsstand zu oft um Schmarotzer handelt. Haben das nicht gerade erst die fünf „superschlauen“ Abgeordneten gezeigt, die Corona-Hilfe beantragt haben, weil ihnen in ihrer selbstständigen Nebentätigkeit Einnahmen weggebrochen sind? Und es darf ja auch gefragt werden: Schadet die Reform denn?

Vielleicht schadet sie nicht. Die Zahl der Abgeordneten pro 100.000 Einwohner läge nach der Reform bei 0,66. Zum Vergleich: Bei verfassungsgemäßer Größe des deutschen Bundestages kämen hier 0,7 Abgeordnete auf 100.000 Einwohnerinnen. Und die Italiener haben zusätzlich noch den Senat mit 200 Mitgliedern. Je bevölkerungsreicher ein Land, desto kleiner ist diese Kennzahl, ohne dass darunter Demokratie und Repräsentation leiden müssten. Wer jetzt also – mal wieder – schreit, die Demokratie ginge zugrunde, der sollte sich zumindest nicht auf die reinen Zahlen beziehen.

Denn so wenig eine reine Reduktion tatsächlich ein effizienteres System hervorbringt, so wenig wird ein verkleinertes Parlament an sich seine Arbeitsfähigkeit verlieren. Bedenklich ist jedoch, dass hier – mal wieder – eine Verfassungsreform genutzt wurde, um sich billig der Zustimmung der Bevölkerung zu versichern. Es handelt sich um Aktionismus, der sich gut verkaufen lässt, mit dem Tatkraft, Einsparwille und Selbstkasteiung – es fallen ja auch für die eigene Partei Plätze weg – demonstriert wird. Aber an den grundlegenden Problemen des politischen Systems in Italien ändert diese Reform nichts. Weniger Personen werden die Ausschüsse besetzen, in denen dieselbe Menge an Gesetzen bearbeitet wird. Vielleicht fallen ein paar kleinere Parteien ganz raus, weil es rechnerisch nicht umsetzbar ist sie aufzunehmen. Vielleicht werden ein paar Entscheidungen deshalb schneller getroffen, oder weil keine Zeit zur intensiven Bearbeitung mehr vorhanden ist. Vielleicht werden die Regularien der beiden Kammern demnächst auf die neue Zahl angepasst und es entsteht tatsächlich ein effizienterer Modus.

Aber an der sichtbaren Oberfläche wird sich ebenso wenig ändern wie an der Instabilität der Regierungen, der ideologischen Gräben zwischen den Parteien und der Tatsache, das zwei Kammern jedes Gesetz gemeinsam verabschieden müssen. Die jetzige Reform ist Augenwischerei, nicht viel mehr. Und Augenwischerei schadet langfristig durchaus der Demokratie.

Die Sardinen und die Regionalwahl in der Emilia-Romagna

Bislang sind die „Sardinen“ präsent auf den Plätzen Italiens. Aber um wirklich wirkungsvoll zu sein, muss ihr Anliegen in die Parlamente.

Flash Mob der Sardinen in Bologna am 14. November 2019. CC BY 2.0

Italien hat eine neue Bewegung. Parteipolitisch ungebunden, vereint in der drängenden Sorge, eine Regierung der Lega Matteo Salvinis zu verhindern. Am Sonntag wird in der Emilia-Romagna gewählt, einer Region, die seit jeher im traditionell „roten Gürtel“ Italiens liegt. Noch. Denn der Erfolg der Lega weitet sich aus und hat zuletzt Umbrien ergriffen. Fällt am Sonntag die nächste Bastion der Linken? Kann sich dann noch die nationale Regierung in Rom halten? Und was passiert mit Italien, sollte Salvini dann Regierungschef wählen?

Die „Sardinen“ befürchten: Nichts Gutes. Ein Abdriften in autokratische, autoritäre Politik, in einen neuen Nationalismus, einen neuen Faschismus. Während Europa sich darum sorgt, dass dann ein weiteres Land der EU den Europakritikern in die Hände fällt, geht es den Sardinen um viel mehr. Salvini bedroht die liberale, pluralistische Gesellschaft, die Heterogenität der Ethnien, der politischen Meinungen, der kulturellen Identitäten. Deshalb gehen sie auf die Straße, deshalb wollen sie mehr sein, sie wollen sich und den anderen vergewissern, dass Italien weiterhin pluralistisch bleibt und niemals wieder einem Mann, einer Partei „alle Gewalt“, pieni poteri, in die Hände gibt.

Pieni poteri, die hatte Salvini im vergangenen Herbst für sich gefordert und für einen kurzen Moment alle andere politischen Akteure vereint gegen sich aufgebracht, was in der Regierungsbildung aus PD und M5S mündete sowie der viel gerühmten Rede Giuseppe Contes zum Regierungsantritt, in der er in seltener Klarheit die demokratischen und rechtsstaatlichen Institutionen Italiens verteidigte.

Die Institutionen. Sie sind der Knackpunkt, auch für die Sardinen. Denn einerseits wollen und sollen sie vor jemandem geschützt werden wie Salvini, der proklamiert, sich ihrer nach Gutdünken bedienen zu können. Und gleichzeitig herrscht in Italien, auch bei denen, die sich nun wie Sardinen in der Dose auf den Piazzen der Republik drängen, ein großes Misstrauen gegenüber denen, die diese Institutionen „besetzen“. Die Fünf-Sterne-Bewegung hat massiv an Wählerzuspruch verloren, seit sie – ganz im Sinne des institutionellen Systems in Italien – im Herbst 2019 den Koalitionspartner wechselte und mit einer neuen parlamentarischen Mehrheit eine neue Regierung bildete. Nichts ist verwerflicherim Lager der Sterne als sich nicht von seinen gut dotierten Sesseln, den poltrone, trennen zu können.

Und nicht nur die Fünf-Sterne schwächeln. Auch der Partito Democratico tut sich schwer mit seiner – zu früh prognostizierten – Wiederauferstehung. Die Wählerinnen, die verloren gingen, kommen (noch) nicht zurück. Zu groß ist der Vertrauensverlust, weil über Jahre und Jahrzehnte nicht die Herzensangelegenheiten der Wählerschaft angegangen wurden: Fehlte es zunächst an klaren Maßnahmen gegen die Vereinnahmung der Republik durch den Unternehmer Berlusconi, waren es im vergangenen Jahrzehnt die schmerzhaften Reformen an Rente und Arbeitsmarkt, welche die linke Wählerschaft zunehmend entfremdeten. Hinzu kam auch hier das Um-sich-selbst-kreisen der Parteiführung, denen es mehr um Macht und Einfluss in der Partei ging als um die politische Programme, die das Land voranbringen.

Nun wird Protest auf der Straße aber nicht dazu führen, eine Regierung der Lega zu verhindern, wenn er sich nicht zugleich in Wählerstimmen für andere Parteien ausdrückt. Dabei kommt erschwerend hinzu, dass in der Emilia Romagna wie in den anderen Regionen ein präsidiales Wahlsystem herrscht: The winner takes it all. Eine Koalitionsregierung der schwächeren Parteien gegen einen Wahlsieger Lega – und sei der Vorsprung noch so knapp – ist nicht möglich. Die stärkste Kraft stellt den Regionspräsidenten und erhält eine Mehrheitsprämie, die die absolute Mehrheit sichert. Der „Fall“ der roten Emilia Romagna aber wäre von einer Symbolkraft, die auch in Rom nicht ignoriert werden könnte.

Und die Sorgen der Sardinen sind keinesfalls unberechtigt: Von einer Lega-Regierung droht vielleicht kein wirtschaftspolitisches Irrlichtern wie von den Fünf-Sternen, wenn sie erst einmal in Regierungsverantwortung sind, sehr wohl aber ein weiteres Abschleifen der demokratisch-rechtsstaatlichen Standards, die in Italien seit Jahren schwinden. Fehlende Akzeptanz des politischen Gegners, ein Alleinvertretungsanspruch der „wahren“ Italiener, die nicht nur Migrantinnen ins Abseits stellt, sondern grundsätzlich eine kulturelle und politische Hegemonie postuliert. Was Salvini bremsen könnte, wäre womöglich just das institutionelle System, das auf nationaler Ebene das Regieren nicht gerade erleichtert.

Die Krux aber bleibt: So lebendig sich die italienische Zivilgesellschaft von links bis moderat gerade zeigt, indem sie binnen kürzester Zeit eine neue Bewegung geschaffen hat, die wirklich zahlreiche Menschen – trotz schlechten Wetters – auf die Straße bringt, so sehr wird sie wirkungslos bleiben, wenn sie es nicht schafft, sich an die demokratischen Institutionen anzudocken. Dass die Risiken für diesen Weg hoch sind, zeigt nicht zuletzt das Schicksal der Fünf-Sterne, die ebenfalls auf den Piazzen der italienischen Republik entstanden sind. Und dennoch muss dieser Weg gegangen werden.

Selbstjustiz oder Rechtsstaat?

Staatspräsident Mattarella weist Salvini „Sicherheits“-Populismus in die Schranken

Yesterday, Italy’s President Sergio Mattarella, here during a symposium in Rome, pointed out the limits of Salvinis „legitimate defense“ law. Picture: European Union 2015.

Es war das populistischste aller populistischen Vorhaben des italienischen Innenministers Matteo Salvini: Das von ihm eingebrachte Gesetz zur „legitimen Verteidigung“, das Staatspräsident Mattarella am gestrigen Tag zwar freizeichnete, zugleich aber in einer Nachricht an das Parlament eine eindeutige Auslegung dieses Gesetzes vorwegnahm. Mattarella zeichnete rote Linien für eine gerechtfertigte Selbstverteidigung, die Salvini keineswegs gefallen dürften – hingegen in der Anwendung des Gesetzes sicherlich Resonanz finden werden.

Der „Angst-Unternehmer“, wie der Repubblica-Journalist Massimo Giannini Salvini bezeichnet, wollte mit dem Gesetz vor allem eines erreichen: Die gefühlte Unsicherheit der Italiener*innen bestätigen oder sie im Zweifel auch erst hervorrufen: Man ist in diesem Land nicht mehr sicher; der Staat steht einem nicht zur Seite, also müssen wir uns selbst gegen Kriminelle / Ausländer / kriminelle Ausländer verteidigen. Und Salvini als der Mann mit dem Ohr am Volk macht das, was dafür nötig ist: Er spricht vorneweg all diejenigen frei, die sich mit der Waffe selbst verteidigen und dabei jemanden töten.

Als Innenminister hätte gleichwohl seine Aufgabe sein müssen, eher die Strafverfolgung zu stärken, die Polizei besser auszustatten, ggf. mehr Streifen auf die Straßen zu schicken. Aber das ist viel aufwendiger, dauert länger und ähnelt Versprechen anderer Parteien. Zudem würden solche Maßnahmen Vertrauen in den Staat schaffen – und Salvini spielt viel lieber auf der Klaviatur des Misstrauens, mit der er seine eigene Person als Retter herausstellen kann und mit der er die radikale Rechte für sich gewinnt und ihre Positionen normalisiert. Dass dieses Konzept bislang aufgeht, zeigen die Ereignisse zum Jahrestag der Befreiung am 25. April sehr deutlich.

Die oppositionellen Mitte-Rechts-Parteien hatten ebenso für das Gesetz gestimmt wie die Fünf-Sterne-Bewegung. Steht bei letzterer die Stabilität der Regierung als Motiv zu buche, ist fraglich, was die Opposition bewegt hat: Sie stärken lediglich Salvini, festigen seine Rolle als zukünftigen Anführer der politischen Rechten – und werden damit die Radikalisierung des Mitte-Rechts-Lagers gerade nicht verhindern. Dieser Radikalisierung stellt sich derzeit insbesondere der Staatspräsident entgegen (siehe Nachricht ans Parlament): Es sind zuallererst der Staat mit seinem Gewaltmonopol und insbesondere die Polizei, die für die Sicherheit der Bürger*innen zuständig sind.

Zudem gilt immer die Verhältnismäßigkeit von Bedrohung und Reaktion. Mit anderen Worten: Nicht jeder Schuss ist gerechtfertigt. Damit einher geht, dass der Umstand, ob die Selbstverteidigung legitim war, nicht vom Gesetz a priori festgelegt werden kann, sondern erst unmissverständlich festgestellt werden muss – von den zuständigen Richter*innen. Deren Vertreter*innen hatten im Vorfeld das Gesetz scharf kritisiert – und waren für eine offizielle Stellungnahme gar nicht erst angefragt worden. Ein absolut unüblicher Vorgang, wenn juristische Verfahren betroffen sind. Es ist davon auszugehen, dass ebenjene Richter*innen bei der ersten Möglichkeit das Gesetz dem Verfassungsgericht zur Prüfung vorlegen werden. Ob es dann Bestand haben wird, ist zweifelhaft.

Das könnte Hoffnung geben, dass die inter-institutionellen Verschränkungen und rechtstaatlichen Garantien in Italien stark genug sind, dass das Land die populistische Welle von rechts übersteht. Es steht allerdings zu befürchten, dass es Salvini nicht zwingend um die Wirksamkeit des Gesetzes selbst ging, sondern vielmehr um die Wirksamkeit seiner Symbolik: Menschen werden zur Selbstjustiz ermutigt, Unsicherheit darf mit Waffen bekämpft werden. Vertrauen in den Staat wird weiter gemindert, Solidarität und Vertrauen in der Gesellschaft untereindander schwindet, wenn Agressivität und Verteidigungshaltung dominieren. Das ist das von Angst geprägte Fundament, auf dem ein „starker Mann“ seine politische Herrschaft errichten kann.