Die Metamorphose des Matteo Salvini

Die Nominierung Mario Draghis zum Ministerpräsidenten verändert bereits Italiens Politik. Der Gesinnungswandel des Lega-Chefs ist das beste Beispiel dafür. Doch wie weit reicht die Veränderung wirklich?

Matteo Salvini (rechts), neuerdings beschwichtigend. Hier mit Commissioner for Migration, Home Affairs and Citizenship Dimitrios Avramopoulos. Foto: European Union 2019

Es werden große Hoffnungen in Mario Draghi gesetzt. Hauptsächlich erwartet das Land – und die EU – dass nun die richtigen und effektiven Schritte in der Bekämpfung der Pandemie, des wirtschaftlichen Wiederaufschwungs und der vielen italienischen Baustellen von Bildung bis Infrastruktur und Justiz gemacht werden.

Wichtiger noch ist jedoch der Draghi-Effekt auf die politische Elite und die Parteien. Denn von ihnen wird abhängen, ob die richtigen Schritte nach dem Ende der – sicher nur temporären – Regierung Draghi auch weitergegangen werden. Das Tempo, in dem die Parteien eine nach der anderen ihre vermeintlichen roten Linien überschritten haben, um an der Regierung Draghi teilzuhaben, ist atemberaubend. Die Fünf-Sterne sind bereit, mit ihrem Erzfeind Silvio Berlusconi an einem Tisch zu sitzen, zu dem ein Exponent einer weiteren Inkarnation des Bösen – der Banken – aufgerufen hat. Der Partito Democratico findet plötzlich, mit den Politiker:innen der Lega könne man reden, Fremdenfeindlichkeit hin, Nationalismus her. In der Tat, wo ist der Nationalismus der Lega plötzlich hin? Matteo Salvini, Parteichef der ehemals sezessionistischen, heute sovranistisch-nationalistischen Partei, findet plötzlich lobende Worte für die Europäische Union und schwört seine Euro-Parlamentarier darauf ein, für die Regeln des Recovery Fund zu stimmen. Stattdessen streitet er sich jetzt mit der AfD.

Die Lega lenkt also ein auf den dezidiert pro-europäischen, pro-westlichen Kurs, den Mario Draghi als unverrückbare Grundlage seiner Regierungspolitik definiert hat. Was ist da los?

Europäische Zusammenarbeit unter Nationalisten zum Scheitern verurteilt

Einerseits könnte man nun behaupten, ein auf nationale Interessen ausgerichtetes Europa kann eben nicht zusammenarbeiten – erst recht nicht ein Front National oder eine AfD mit der Lega. Wenn Mario Draghi als EZB-Chef und der Recovery Fund Italien vor dem Schlimmsten bewahrt haben und bewahren werden, so war das für Matteo Salvini schon schwierig genug einzugestehen. Er kann jedoch noch glaubhaft versichern, dass dies schließlich im nationalen Interesse Italiens lag und deshalb aus patriotischer Sicht unterstützt werden müsse. Da hat es die AfD schon schwerer, denn die Vorteile Deutschlands durch die EU sind zwar nicht von der Hand zu weisen, aber längst nicht so offensichtlich wie jene Italiens – vor allem nicht so offensichtlich wie die Tatsache, dass die Kreditwürdigkeit und Finanzlage Deutschlands unabdingbar für eine gemeinsame Krisenbewältigung ist, und der daraus folgende Kurzschluss – den ja wahrlich nicht nur die AfD vertritt – gemeinsame Schulden gingen ebenso wie die Ankaufprogramme der EZB zulasten Deutschlands.

Im Unterschied zur Zeit der Finanzkrise hat die EU daher gerade einen entscheidenden Vorteil: Das Geld, das sie zu vergeben hat, bedient bestimmte nationale Interessen – und zerschlägt damit die Allianz der EU-Gegner. Seit im Sommer der Wiederaufbaufonds ausgehandelt wurde hat es gerade die Lega schwer, mit ihrem Anti-Europäismus noch zu punkten. Dennoch ist der Schritt, den Matteo Salvini in diesen Tagen gemacht hat, ein radikaler. Von einem Tag auf den anderen verschwinden die Parolen und die Forderungen. Von einem auf den anderen Tag ist die EU eine Chance und keine Bedrohung des nationalen Wohls mehr. Diesen Part seiner Politik hat er an Fratelli d’Italia ausgelagert, die klar in Opposition zur neuen Regierung bleiben. Aufgabenteilung im Mitte-Rechts-Lager: Wenn sie bei Neuwahlen als Bündnis gemeinsam antreten, kann Giorgia Meloni glaubhaft diejenigen Stimmen einfangen, die Draghi und der EU weiterhin skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen, während die Lega die moderateren Stimmen einfängt und sich als verantwortungsbewusste Kraft für die Nachfolge Forza Italias aufstellt.

Denn Silvio Berlucsonis FI hatte schnell klar gemacht, Draghi unterstützen zu wollen. Dass die gemäßigten rechten Wähler jedoch der in die Jahre gekommenen Partei des in die Jahre gekommenen Ex-Ministerpräsidenten zulaufen, weil die Lega Fundamentalopposition betreibt – das konnte Salvini nicht zulassen. Das Risiko aber bleibt: So lange haben er und Meloni anti-europäische Stimmung gesät – mag sein und seine Konkurrentin von Fratelli d’Italia fährt bei der nächsten Wahl die Ernte allein ein. Die Chance besteht darin, dass Draghis Wirtschaftspolitik vor allem die traditionelle Wählerklientel der Lega in Italiens Norden bedient – die zahlreichen Unternehmer:innen, die den Nationalismus in Bezug auf Europa nie ganz mitgetragen haben und die Salvini keinesfalls verlieren darf.

Alles nur Taktik? Salvinis Manöver

Alles Taktik also? Ein Manöver, um bestmöglich in die nächsten Wahlen zu gehen, die vielleicht im Sommer kommenden Jahres anstehen? Zur Zeit lässt sich das nicht abschließend beurteilen. Doch Matteo Salvini ist ein Instinktpolitiker. Was für ihn zählt ist weniger die Überzeugung als der größte Benefit in Wählerstimmen. Als Autonomie und Politik nur für den Norden nicht mehr ausreichten, die Lega zu einer ernstzunehmenden politischen Kraft zu machen, spürte Salvini die Stimmung in der Bevölkerung auf, einige Jahre kaum politisch repräsentiert wurde: Ärger, Sorge und Ablehnung wegen der vielen Migrant:innen, die in Italien strandeten. Die EU, die an dieser Situation schuld war, die zudem Reformen erwartete, die die ohnehin von Staat gegängelten Italiener:innen um ihre Rente und ihr Auskommen brachten. Weltweit schien „my own country first“ eine Erfolgsformel. So machte er kurzerhand aus einer regionalistischen eine nationalistisch-sovranistische Partei und ging erfolgreich auf Stimmungsfang auch im Süden.

2021 ist die Lage jedoch eine andere: die Pandemie, das Ende von Trumps Präsidentschaft, die versprochenen EU-Hilfen, der dringende Bedarf an verantwortungsvoller, effektiver Politik – gern mit drastischen Maßnahmen, mögen sie nur helfen. Für politische Grabenkämpfe haben die Italiener:innen derzeit so wenig Verständnis wie Sinn für das beste Pannino oder die beste Pasta, die sonst Salvinis bevorzugte Instrumente waren, den Nationalstolz der Bevölkerung anzusprechen. Also sucht sich Salvini neue Wege, im breiten Becken des Mitte-Rechts-Lagers nach Zustimmung zu fischen. Wenn diese nun eher über eine verantwortungsbewusste Wirtschafts- und Finanzpolitik sowie über Reformen an den öffentlichen Institutionen (Gesundheit, Bildung, Justiz, Verwaltung) einzuholen ist – warum nicht? Schließlich hat er vor allem immer gesagt, im Interesse der Italiener:innen zu handeln. Und wenn diese ihre Prioritäten ändern, warum dann nicht auch ihr Volkstribun Salvini?

Damit dies nicht eine wenige Monate währende Episode bleibt, muss Mario Draghi so weise sein, Salvini und der Lega gewisse Erfolge zu gönnen und zu einem tatsächlichen Miteinander zu kommen. Denn nur wenn Matteo Salvini weiterhin größere Chancen in der Unterstützung der Regierung sieht als in ihrer Demontage, wird er der „friedliche“ Salvini bleiben. Oder Mario Draghi wird derart erfolgreich sein müssen, dass Salvini zugunsten moderaterer Kräfte in der Lega marginalisiert wird. In beiden Fällen hatte er sich sehr um die Zukunft Italiens und Europas verdient gemacht.

Salvini und das Kreuz

Wie Italiens Innenminister die Religion missbraucht

Matteo Salvini auf dem Domplatz in Mailand. Er küsst einen Rosenkranz, hält ihn in die Höhe. So werden ihn die Zeitungen am nächsten Tag präsentieren. Matteo Salvini nach der Europawahl, nach der er sich als der große neue Star der europäischen Rechten feiern lassen kann: Er hält den Rosenkranz in den Händen, das Kreuz als Symbol des Christentums in die Höhe.

Sein Wahlerfolg und die Passion Christi? Wo ist der Zusammenhang? Es gibt ihn nicht. Was auch immer Matteo Salvini glauben machen will, für ihn ist das Kreuz nur ein Symbol für Tradition, das Rosenkranzbeten ein Ritus. Diese Riten stellt er gegen die Einwanderer, die andere Religionen mitbringen – ob sie vielleicht doch auch Christen sein könnten, ist für ihn nicht relevant. Er stellt den Rosenkranz gegen die Veränderungen der heutigen Welt, als ein Symbol für die alteingesessenen Italiener mit ihren Bräuchen und Sitten dar. Das ist Folklore. Das ist Tracht, Gewohnheit, Kindheit. Es ist ein Symbol gegen Veränderung und für die eigene Identität. Salvini deutet den Rosenkranz ausschließlich national.

Die Botschaft Christi ist ihm dabei gleich. Sie wäre auch viel zu kompliziert und würde zugleich Implikationen mit sich bringen – liebe deinen Nächsten; wer ist dein Nächster? – die ganz und gar nicht in Salvinis politisches Programm passen.

So durchsichtig die Verwendung religiöser Symbole als Identitätsträger bei ihm ist, so bedauerlich bis erschütternd ist es, dass sie Wirkung zeigen. Den Christen, denen es um das Fortdauern der Botschaft Christi geht, die sollten überzeugt für ihren Glauben einstehen und ihre Riten und Traditionen aufrecht erhalten – und in dieser unerschütterlichen Überzeugung offen auf ihre Nächsten zugehen. Und ja, sogar und gerade Muslimen gegenüber. Das Gleichnis des barmherzigen Samariters ist so berühmt und doch so sehr vergessen.

Die Angst um die eigene Kultur entsteht dort, wo wir selbst nicht mehr von ihr und ihrem Wert überzeugt sind. Weil der Glaube und die Traditionen bröckeln, halten wir sie wie morsche Waffen gegen die, die eine andere Kultur mitbringen. Das ist paradox, wenden sich doch die meisten in Europa freiwillig und aus freier Überzeugung vom Christentum ab. Doch wer noch daran hängt, ist sich seiner Sache auch nicht sicher. Wenn wir uns unserer Sache sicher wären, dann müssten wir keine Angst haben. Dann könnte Salvini nicht glauben, seine menschenverachtende Haltung und der Rosenkranz seien miteinander vereinbar.