Nach den Kommunalwahlen in Italien

Ein paar grundlegende Überlegungen zum derzeitigen Zustand der italienischen Politik

Im Januar diesen Jahres stand Italien politisch mal wieder fast vor dem Abgrund. Die lange Zeit erfolglose Suche nach einem neuen Staatsoberhaupt mündete dann allerdings in größtmögliche Stabilität: Sergio Mattarella machte weiter, und auf dieser Grundlage auch Minsterratspräsident Mario Draghi. Das erleichterte die europäischen Beobachter:innen und seither ist es erwartbar ruhig geblieben. Mario Draghi tritt auch in der größten außenpolitischen Krise seit Jahrzehnten, dem Krieg Russlands gegen die Ukraine, äußerst souverän auf und macht auf internationalem Parkett gar eine bessere Figur als etwa der deutsche Kanzler. Das Irrlichtern überlässt er wie so oft den Parteichefs, die seine Regierung unterstützen. Ab und an flackert mal ein wenig Besorgnis auf, weil der spread wieder steigt und die Eurokrise zurückkommen könnte oder weil es mit der Umsetzung des PNRR, dem EU-finanzierten Wiederaufbauplan, stärker hapert als gedacht.

Das politische Armutszeugnis, das Italien Anfang diesen Jahres ablegte, als sämtliche Parteiführungen Führungsstärke, Verhandlungsgeschick und Kompromissbereitschaft vermissen ließen, scheint fast schon wieder vergessen und hallt wider in Meldungen, die aus dem Kuriositätenkabinett zu entstammen scheinen: ein Friedensplan für die Ukraine aus dem Außenministerum, der mit niemandem abgestimmt war und der die Adressat:innen offensichtlich nicht mal erreichte, eine geplante Moskaureise von Lega-Chef Salvini, die dann doch nicht stattfand – und auf noch niedrigerem Niveau sich in Fernsehsendungen wegen Russland prügelnde Gäste (darunter der schillernde Vittorio Sgarbi, dessen Überdauern in der politischen Arena man nur mit Verwunderung zur Kenntnis nehmen kann). Das alles wird überdeckt und überstrahlt von Draghis professionellen, sachlichen Agieren. So weit, so gut?

Nun waren am vergangenen Wochenende Kommunalwahlen in Italien. Nicht die ganz großen Städte und Kommunen, die waren schon früher dran. Aber doch einige Überraschungen: Leoluca Orlando in Palermo abgewählt. Mitte-Rechts erobert mehr Städte als Mitte-Links, die liegt aber in Verona – traditionell konservativ – vorne. Weniger überraschend: Verhaftungen palermitanischer Kandidat:innen wegen Mafia-Verbindungen. Fünf-Sterne mit desolaten Ergebnissen. Giorga Meloni überholt Matteo Salvini, sogar in den Stammregionen der Lega.

Dies alles ließe sich jetzt im Einzelnen analysieren, die Gründe für den Zerfall der Fünf-Sterne, der sich nun schon über Monate hinstreckt, für den Aufstieg Melonis und den Absturz von Salvinis Lega. Und wem die Beteiligung an Draghis Regierung mehr schadet, wem sie mehr nützt. Allein, die Aussagekraft wäre begrenzt, denn es sind alles nur Momentaufnahmen. Was in Italiens Politik fehlt, ist Kontinuität, Stabilität und eine Perspektive über wenige Monate und Jahre hinaus1. Und diese Feststellung schließt auch den derzeitigen Ministerratspräsidenten ein.

Wohin man auch schaut, es sind fast überall Einzelpersonen, die in Italien Hoffnung wecken, Höhenflüge durchleben, Parteien vor dem Untergang retten oder in ebendiesen hinunter ziehen. Matteo Salvini rettete durch eine strickte Fokussierung auf seine Person (und einen nationalistischen Kurs) die Lega aus dem Wahlergebnissetief – nur um wenige Jahre später aufgrund seines verlorengegangenen Instinkts für die richtigen Parolen sie genau dort wiederhinzuführen. Noch vor wenigen Jahren war Salvini der Schrecken aller proeuropäischen Geister, heute empfindet man fast Mitleid angesichts der Aneinanderreihung von unglücklichen Entscheidungen. Giuseppe Conte wurde inmitten der turbulenten und schwierigen Regierungsverantwortung der Fünf-Sterne zum Hoffnungsträger, mit dem die realpolitischen Verwerfungen der einst so idealistischen Bewegung doch noch überstanden werden sollten – wo doch schon der vormalige Gottvater dieses Sammelbeckens aus Protestler:innen, Beppe Grillo, kein zuverlässiger Fixpunkt mehr zu sein schien. Nun, Conte wurde Präsident, eine eigens für ihn geschaffene Position – mit geringem Erfolg. Die endgültige Vaporisierung des Movimento 5 Stelle scheint nur noch eine Frage der Zeit.

Warum sollte es also bei Giorgia Meloni, der neue Fixstern der italienischen Rechten, anders verlaufen? Derzeit hat sie den Vorteil, als einzige wirkliche Oppositionspartei kohärent agieren zu können und die einzige Alternative zur Regierung zu bilden. Sollten ihre Fratelli d’Italia tatsächlich bei den nationalen Wahlen im nächsten Frühjahr stärkste Kraft werden, hätten sie damit Anspruch, ihrerseits die Regierung anzuführen. Und dann? Auch Giorgia Meloni wäre auf eine Koalitionsregierung angewiesen. Es ist kaum zu erwarten, dass das Mitte-Rechts-Lager, das seit der Staatspräsidentenwahl im Januar schwer zerrüttet ist, bis dahin wesentlich harmonischer agiert. Der Zwang zur Profilierung würde bleiben, erst recht, wenn gegebenenfalls weitere Partner ins Boot geholt werden müssten. Und dann hätte auch Meloni damit zu kämpfen, was in den vergangenen Jahrzehnten fast alle italienischen Politiker:innen das Leben schwer machte: Die Fokussierung auf eine Person, die eine Richtung vorgibt und kompromisslos und authentisch den wahren Wählerwillen verkörpert – denn nichts anderes haben Berlusconi, Renzi, Salvini, Grillo usw. stets versprochen – steht im eklatanten Widerspruch zu den massiven Fliehkräften und Flügelkämpfen innerhalb einer jeden Regierung und in fast jeder Partei. Rasche Enttäuschung und Abwendung der Wähler:innen scheint da vorprogrammiert.

Was hat nun Mario Draghi damit zu tun? Augenscheinlich nicht viel. Ihm gelingt es derzeit, die Fliehkräfte weitgehend zu neutralisieren, dem Profilierungsgebaren immer wieder Einhalt zu gebieten, wenn es darauf ankommt. Er zieht durch. Aber: Entscheidend ist nicht sein persönlicher Erfolg. Dieser garantiert für einen kurzen Zeitraum eine rationale Politik, aber daraus entwickelt sich keine Perspektive für die Zeit nach Februar 2023. Draghi steht dann nicht zur Wahl, er ist im engen demokratischen Sinn der Wählerschaft nicht rechenschaftspflichtig. Die Wahlberechtigten können seinen Politikstil oder seine inhaltliche Linie nicht per Wahl befürworten und andere Positionen abstrafen. Denn die Linie Draghi ist nicht notwendigerweise deckungsgleich mit der Linie jener Parteien und Minister, die seine Politik stützen und mittels Beschlüssen und Gesetzen tragen. Sie tragen sie mit aus Notwendigkeit, nicht zwingend aus Überzeugung. Sie sind allerdings diejenigen, die 2023 wieder zur Wahl stehen. Somit verstärkt sich aber der Eindruck, an der Spitze der Politik müsse jemand stehen, der gegen Parteien und Fraktionen die Geschicke des Landes führt und konsequent seine eigenen Vorstellungen umsetzt. Auch Draghi wurde als Heilsbringer gefeiert und willkommen geheißen. Anders als bei vielen anderen blieb zwar die Enttäuschung aus, das Enddatum seiner Regierungszeit ist gleichwohl gesetzt. Gesucht wird also jemand, der es ihm gleichtun kann. Einer oder eine, die weise und im Interesse des Volkes handelt und die Egoismen der Partitokrat:innen ausschaltet. Die Versprechungen, die man sich in dieser Hinsicht von Populistinnen und von Technokraten macht, unterscheiden sich kaum.

Auch in einer anderen Hinsicht unterscheiden sich populistische und technokratische Politik nur in ihrer Richtung, nicht in ihrer Art: Die einen vertreten den Anspruch, als einzige den wahren demokratischen Willen zu vertreten, in ihrer jeweiligen Führungsfigur den Volkswillen zu verkörpern – und daher als einzige die „richtige“ Politik im Programm zu haben. Die anderen hingegen meinen, als einzige vernünftige Politik zu machen, den ökonomischen, finanz- und außenpolitischen Erfordernissen gerecht zu werden und daher – wegen ihrer Rationalität und ihres Fachwissens – die einzig „richtige“ Politik zu machen. Was dabei auf der Strecke bleibt, ist offensichtlich: Thematische Schwerpunkte zu setzen, zu sagen, welche Politikfelder besonders wichtig sind und wie sie geregelt werden sollen – und diese politischen Vorstellungen dann in den Wettbewerb mit anderen zu stellen und am Ende – oha! – mit diesen Wettbewerbern um Kompromisse zu ringen.

Davon ist Italien weit entfernt. Die kurze Ära Draghi wird daran bis Februar nächsten Jahres nichts Substanzielles geändert haben. Vielleicht ist bis dahin die ein oder andere Reform erfolgreich umgesetzt, vielleicht bleibt vieles Stückwerk und versandet. Für diese kurze Zeit waren und sind immerhin die europäischen Partner beruhigt und können sich anderen Schauplätzen und Sorgenkindern widmen. Vielleicht schlägt Draghi auf europäischer Ebene mit Macron noch ein paar Pflöcke ein, ehe Italien wieder als wenig ernstzunehmender Partner agiert. Wer bis dahin wie in den Umfragen liegt oder in der Stichwahl in einer Woche noch die ein oder andere Kommune erorbert, ist dabei weitgehend irrelevant.

1 Abgesehen von jener individuellen, mit der es einigen Personen immer wieder gelingt, hinter und unter allen Umbrüchen im Parlament zu bleiben.

Von wegen Wandel! Italiens Regierung agiert wie ihre Vorgänger

Fünf-Sterne droht Abweichlern, Lega plant Berlusconi-Gesetze

Luigi Di Maio (li.) hatte Veränderungen versprochen. Foto: EU 2018, Mauro Bottaro

Die Fünf-Sterne-Bewegung M5S war angetreten, alles anders zu machen als die anderen Parteien. Vor allem in Fragen der Legalität, der Transparenz und der Demokratie. Das dies ein zu vollmundiges Versprechen war, ahnte man bereits. Nun, da sie an der Regierung sind zeigt ich, dass sie vieles genau so machen, wie alle anderen Parteien:

Es gab berechtigten inhaltlichen Widerstand zum Sicherheits-Gesetz, das vor allem Salvini von der Lega am Herzen liegt. Drastische Maßnahmen gegen Migration, sein Kernthema, mit dem er sich als Hardliner profiliert. Dass der Gesetzesvorschlag ankommende Migrant/innen nur noch stärker in die Illegalität drängt, stieß einigen Abgeordneten der Fünf-Sterne bitter auf. Doch ihre Änderungsanträge wurden nicht berücksichtigt. So weit, so gut. Doch die Art, wie die Gesetzesabstimmung im Senat dann verlief, erinnert arg an die schlechte Praxis vergangener Jahrzehnte:

Ein maxi-emendamento, ein das ganze Gesetz umfassender Änderungsantrag wurde eingebracht und angenommen, der alle anderen Änderungsanträge obsolet macht. Die Vertrauensfrage wurde mit der Abstimmung verbunden – Gegenstimmen aus den eigenen Reihen hätten also die Regierung gestürzt. Deshalb verließen die „Dissidenten“ der Fünf-Sterne den Saal und stimmten gar nicht ab, um die Regierung nicht zu gefährden. Und nun? Droht ihnen der Rauswurf oder andere Sanktionen. Ein Auschluss könnte die dünne Mehrheit der grün-gelben Regierung gefährden. Doch „eine Bestrafung muss sein“, kolportiert La Repubblica aus den Führungsreihen des M5S, andernfalls mache ja jeder zukünftig, was er wolle.

Der Fraktionszwang in Italien ist schon immer schwächer ausgeprägt als etwa in Deutschland. Doch eine Bestrafung bei Nichtteilnahme an der Abstimmung – das verstößt ganz offensichtlich gegen das verfassungsrechtlich geschützte freie Mandat. Der Zwang zur Zustimmung, indem die Vertrauensfrage gestellt wird, ist zugleich eine Praxis, die die Fünf-Sterne an der früheren Regierung Renzi noch vehement kritisierte.

Auch an anderen Baustellen scheint die Fünf-Sterne-Bewegung von ihren Prinzipien Abstand zu nehmen: Der Straf- und Steuererlass für Steuersünder, den die Lega in das Haushaltsgesetz aufnehmen wollte, wird zwar nun in einem separaten Gesetz verhandelt, ist aber alles andere als vom Tisch. Nun streiten sich die Koalitionspartner über eine Änderung der Verjährungsfrist. Silvio Berlusconi – aber bei weitem nicht nur er – war bekannt dafür, die schwergängigen Justizverfahren in Italien gezielt zu verlangsamen, damit sie wegen Verjährung eingestellt werden mussten.

Fünf-Sterne war angetreten, diese Praxis zu unterbinden. Sobald ein Verfahren aufgenommen wurde, sollte die Verjährungsfrist unterbrochen werden. Dagegen regt sich nun Widerstand in der Lega, die offensichtlich ihren alten politischen Weggefährten noch immer verbunden ist. Entsprechend mahnt Alessandro di Battista, führender Kopf des M5S, die Lega müsse überlegen, ob sie an das ganze Land denke, oder nur an Arcore.
In Arcore hat Berlusconi seine Villa. Die Kontinuitätslinien in der italienischen Politik, sie halten. Auch in der „Regierung des Wandels“.