Der mit großer Spannung erwartete erste Roman nach der Tetralogie „L’amica geniale“ von Elena Ferrante wartet mit einigen Parallelen zu ihrem Welterfolg auf: Schauplatz ist erneut Neapel und wieder geht es um das Erwachsenwerden eines jungen Mädchens, das ähnlich wie Lenu in „L’amica geniale“ hin und her gerissen ist zwischen intellektueller Bourgeoisie und derbem Arbeiter- und Armutsmilieu der Stadt.
Giovanna wächst in einer der wohlhabenden Gegenden Neapels auf, la Napoli di sopra. Ihre Eltern legen größten Wert auf gute schulische Erfolge, auf Bildung generell. Als sich Giovannas Leistungen zu verschlechtern beginnen, lässt sich der Vater zu einem folgenreichen Satz hinreißen, den seine Tochter unfreiwillig mit anhört: „Sta faccendo la faccia di zia Vittoria“, sie sieht bald aus wie Tante Vittoria. Das ist wie eine Ohrfeige für das Mädchen, denn ihre Tante, die niemals besucht und nur selten erwähnt wird, ist für sie der Inbegriff des Hässlichen, Bösartigen und Ordinären. Der Satz ihres Vaters wirft sie aus der Bahn. Giovanna findet sich von nun an hässlich und sieht sich dem Schicksal ausgeliefert, ein unattraktives, dummes, den Eltern unwürdiges Mädchen zu sein.
Doch genau deshalb insistiert sie, nun endlich diese Tante einmal kennen zu lernen, dem Bösen, was das Leben für sie vorbereitet hat, ins Auge zu sehen. Die Eltern sträuben sich, geben aber schließlich nach. Giovanna entdeckt eine neue Welt, la Napoli di sotto, eine einfachere, grobe, aber keineswegs so schreckliche Welt, wie die Eltern sie stets gemalt haben. Giovanna idealisiert das Leben ihrer Tante und versucht, dieses einfache, ordinäre, ja vulgäre Dasein zu ihrem eigenen zu machen, insbesondere als sie erfährt, dass ihre Eltern kein moralisch überlegenes Leben führen, dass auch bei ihnen nicht alles im Reinen ist, sie keineswegs immer Recht haben, geschweige denn die Wahrheit sagen.
Doch letztlich muss sie feststellen, dass auch Tante Vittorias Leben nicht frei von Widersprüchen, Lügen und Hässlichkeiten ist. Es scheint für Giovanna keinen positiven Bezugspunkt mehr zu geben, und während alte Freundschaften zu zerbrechen drohen, sind die neuen teils oberflächlich, teils von (unausgesprochenen) Konflikten geprägt.
Da tritt Roberto ins Geschehen ein, der Verlobte der Ziehtochter Vittorias. Er ist wie eine Erscheinung, ein eloquenter Theologe, der mit seinen Reden alle in seinen Bann zieht, auch Giovanna. Sie bemerkt, dass sie in Gesprächen mit ihm mithalten kann und er sich dafür interessiert, was sie zu sagen hat. Durch den Austausch mit ihm ändert sie ihre Meinung über sich selbst, erkennt, dass sie sehr wohl sehr intelligent ist und ihr Leben nicht in der Folgschaft ihrer Tante leben muss. Roberto ähnelt in der Figur und Rolle, die er für Giovanna spielt, dem Nino aus den ersten Büchern der „L’amica geniale“. Allerdings wird er nicht wie Nino am Ende aufs bitterste entzaubert. Gleichwohl wartet Elena Ferrante im Finale von „La vita bugiarda degli adulti“ mit einer überraschenden Wendung auf, die hier jedoch nicht vorweggenommen werden soll.
Vielleicht sind es ein paar Parallelen in Figuren und Themen zu „Meine geniale Freundin“ zuviel. Doch wer sich daran nicht stört, dem liefert Elena Ferrante mit „La vita bugiarda degli adulti“ erneut ein starkes Frauenportrait, das sich mit Zuschreibung, Selbstbehauptung und hier insbesondere mit dem Erwachsenwerden auseinandersetzt. Stärke, das vermittelt die Entwicklung, die Giovanna durchläuft, findet frau vor allem in sich selbst, ganz gleich ob die Menschen, die sie umgeben, eher eine Enttäuschung oder eine Verheißung sind.