Jhumpa Lahiri: Dove mi trovo

Wo ich mich (be-)finde

Jhumpa Lahiris Buch aus dem Jahr 2018 – als erstes ihrer Werke direkt auf Italienisch verfasst – beschreibt Räume und Orte und mit ihnen das Innenleben der Person, die uns zu jenen Orten führt: berufstätige Frau mittleren Alters.

Die enge Beziehung zwischen dem Äußerem und dem Inneren lässt sich bereits auf dem Einband erkennen: kühle Farben, weiß, dunkelblau, grau. Eine kühle Frau, abgewandt, in streng geschnittenem langen Rock. Sie steht in einem Raum, der unpersönlich eingerichtet ist: Ein dunkler Tisch, weißes Tischtuch, eine Vase, Leere. Zwei Türen, eine verschlossen, eine geöffnet. Aus der geöffneten tritt Licht, etwas wärmer als das Weiß des Tischtuchs. Es hebt die Strenge ein wenig auf, ebenso wie eie Bluse, die die Frau trägt, der Ärmel fällt weich in Falten, luftig, schwingend sieht sie aus. Die Frau hält den Rücken gerade, wendet sich weder der geschlossenen, noch der offenen Tür zu. Das Kühle und Strenge verleiht beiden, Raum und Frau, eine starke Ästhetik, eine unnahbare Schönheit und Klarheit der Formen. Ist diese Frau so streng und kühl wie der Raum, der sie umgibt, oder sehnt sie sich nach Weichheit, Licht und fließenden Bewegungen?

Was dieses Titelbild evoziert, spiegelt bereits Wesentliches aus Jhumpa Lahiris Roman: Eine Frau führt uns zu Orten und Räumen ihres Lebens, auf eine Straße, eine Brücke, in die Bibliothek. Doch die Plätze, die ganze Stadt und sogar die Frau selbst bleiben namenlos und somit fremd. Die Sachlichkeit der Kapitelnamen – “per strada”, “al bar”, “in ufficio” – baut eine Distanz auf. Einige Bezeichnungen wiederholen sich, ohne dass sie irgendwie voneinander differenziert werden. Jede einzelne Passage liest sich zunächst wie ein zwar behutsam, aber letztlich zufällig ausgewählter Abschnitt aus dem Leben der Ich-Erzählerin. Es scheint keine Handlung, keinen Verlauf, keinen Grund zu geben, warum sie erzählt.

Dabei sind es sehr persönliche Orte. Die Räume der Stadt und die Räume des Lebens, welche die Erzählerin mit den Leser:innen teilt, sind gerade durch die fehlende Besonderheit sehr intim.

Dies schafft eine Ästhetik, die ihre Anziehungskraft und Schönheit gerade aus ihrer Alltäglichkeit zieht. Und aus der einfachen, klaren Sprache Lahiris, die den Situationen, die sie beschreibt, bestens entspricht. Ausgehend von wenig bedeutsamenen Situationen führt sie zu Momenten der Poesie, um wenig später wieder zum Gewöhnlichen zurückzukehren, jedoch nicht, ohne eine leichte Veränderung durchlebt zu haben.

Wie in der Situation, als die Protagonistin auf einer Brücke den Mann trifft, mit dem sie, wie sie sagt, ein Verhältnis, vielleicht eine Beziehung hätte haben können. Sie treffen sich zufällig und beobachten gemeinsam, wie die Schatten der Passanten auf der Ufermauer vorüberziehen:

Sta attraversando un ponte, lui arriva da un lato, io dall’altro. Ci fermiamo in mezzo e guardiamo le ombre dei passanti proiettate sul muro lungo il fiume. Sembrano fantasmi guizzanti in fila, anime ubbidienti che passano da un mondo a un altro. Il percorso del ponte è piano eppure sembra che le ombre – figurae senza sostanza contro il muro solido – salgano, andando sempre in su. […] “Sarebbbe bello un giorno filmare questa procession” mi dice. “[…] Ne resto ogni volta impressionato, trovo che sia qualcosa ipnotizzante. Anche se ho fretta mi fermo comunque.” “Anch’io.” Tira fuori il cellulare. Mi chiede: “Proviamo?” “Come viene?” chiedo. “Malissimo” […].

Erst nach etwa einem Drittel des Buches wird die Erzähllinie erkennbar. Die einzelnen Episoden fügen sich zu einem Bild, Stück für Stück erfahren wir vom Leben dieser allein lebenden und allein arbeitenden Frau, das in letzter Konsequenz kein glückliches ist. Ihre Verletzlichkeit wird offenbar, ihre Schwächen, ihre Ängste. Die Momente des Wahrnehmens und Erkennens, der Poesie im Alltag, werden vermehrt zu Momenten der Erkenntis über die Trostlosigkeit und Einsamkeit. Am Ende kennen wir all die Widersprüche und Unzulänglichkeiten von ihr, die eingangs die Widersprüche und Unzulänglichkeiten der anderen offen legte, während sie selbst nur zu beobachten schien. Wir sind nicht mehr verzaubert von den Räumen ihres Alltags, sondern erleichtert, dass sie den Schritt heraus wagt aus der Kühle und Strenge ihres selbst gewählten Lebens.