Mitnahmen von der Frankfurter Buchmesse – Gastland Italien erzählt


Eine neue kulturelle Hegemonie und wie die Literatur dem entflieht


Denk-würdige Buchauswahl bei Rizzoli


Der Verlag Rizzoli präsentierte sich in Frankfurt am Stand von Mondadori, zu dessen Verlagsgruppe er gehört, im Prinzip mit zwei Büchern in der – wie bei den meisten anderen italienischen Verlagen – bescheidenen Auslage. Beide haben besonderen politischen Einschlag: Zum einen „Benito“ von Giordano Bruno Guerri, der in einem Interview kürzlich gegenüber dem neuesten Band von Scuratis „M“ meinte, sein Buch über Mussolini habe „eine andere Funktion“. Welche das sein soll, erschließt sich bei der Durchsicht nicht recht. Es soll um die Haltung der Italiener:innen zu ihrem „Benito“ gehen, die ihn stets beim Vornamen genannt hätten – daher der Titel. Auch im Buch wird Mussolini meist beim Vornamen genannt, was insbesondere dann seltsam anmutet, wenn darüber hinaus nur Bekanntes wiedergegeben wird. In Kombination mit der Vielzahl an großformatigen Bildern entsteht vor allem der Eindruck, dass hier eine Nähe des geschaffen werden soll zwischen Leser:innen und dem «duce».

Literatur – die letzte Bastion und die entfliehende Menge

Im Gespräch über die „Rückkehr der Geister“ diskutierten die anwesenden Literat:innen, weshalb denn für eine solche kulturelle Hegemonie, für eine gesellschaftliche Dominanz die Literatur überhaupt so wichtig sei. Während Katja Lange-Müller Literatur in dieser Hinsicht „als überhaupt nicht wichtig“ klassifizierte, sahen ihre italienischen Kolleginnen Di Pietrantonio und Janczek in der Literatur – aus Perspektive der Rechten – „die letzte Festung“ der Linken. Der einzige noch unkontrollierte kulturelle Bereich, eine kleine Zone, in der etwas bewahrt wird, das qualitativ wirksam werden kann. Das Fehlen dieser qualitativen, intellektuellen Wirksamkeit bei der Rechten beanstandet denn auch Giuli in seinem Buch. Also wird vorgeschrieben, kontrolliert, gemaßregelt. Ob Veranstaltungsprogramme kleiner, aber traditionsreicher Bibliotheken, die Behandlung von Gedenktagen – le foibe – in den Schulen oder Bücher, die dort gelesen werden sollen (nicht das von der UNHCR und Igiaba Scego herausgegebene Anche superman era un rifugiato).

Denn auch wenn niemand Bücher braucht, um an die Macht zu kommen – kulturelle Hegemonie ist notwendig, um an der Macht zu bleiben, waren sich Denis Yücel und Roberto Saviano einig. Demgegenüber könnte der Ausruf Alessandro Bariccos „Die Literatur ist unantastbar“ (La letteratura non si tocca) fast ein wenig trotzig anmuten, hätte er ihn nicht so klug eingebettet in das, was Literatur mit dem gesellschaftlichen Engagement verbindet – und unterscheidet: Während gesellschaftliches Engagement versucht die Risse, die Flecken und die Fehler auf der Oberseite des Teppichs, der sich gesellschaftliches Zusammenleben nennt, zu beheben, zu beseitigen und zu reparieren, betrachtet die Literatur die Unterseite des Teppichs. Die so ganz anders aussieht, die scheinbar nicht mal viel mit der Oberseite zu tun hat. Und dort unten zieht sie an Fäden und bewirkt, dass sich auf der sichtbaren Seite etwas ändert. Nur wie, das bleibt ein Mysterium. Was jedoch geschieht ist, dass die Literatur diejenigen Dinge sichtbar macht, die wir nicht sehen wollen, die uns Angst machen, die es war geben mag, aber über die nicht gesprochen werden soll.

Wegen dieser Funktion darf Literatur niemals angegriffen und beschränkt werden, deshalb ist sie „unantastbar“. Baricco zeigte sich zugleich von der Stärke des kleinen Zirkels an Literat:innen überzeugt: uns kriegt ihr niemals eingefangen (non ce lo farete mai!). Denn Schrifsteller:innen sind der Fluss, während die Politik gerade mal die Brücken kontrolliert; sie sind eine Masse (moltitudine), die immer entflieht. Aber sie sind auch – altro che roccaforte – ein wertvolles Dörfchen (an Leuten), die es zu unterstützen, kein Feind, den es zu besiegen gilt.

Die schöne Kunst ist unpolitisch. Der Duce-Obelisk angeblich auch.

Literatur darf nie das Maß, die Schönheit, die Harmonie verlieren, sagte Baricco. Kein Widerspruch. Doch zuweilen scheint es, als sollten Bücher sich daher auch inhaltlich vor allem mit Schönheit befassen – der Italiens im Besonderen. Von solchen Aufforderungen zumindest berichtete Roberto Saviano. Literatur als Vehikel für die positive Weltbetrachtung, nicht als Linse, unter der Missstände sichtbar werden. Die andere Seite der selben Medaille scheint zu sein, wenn Luca Beatrice sich im Gespräch über das einende Band der Kultur zwischen Russland und Europa sich dazu versteigt, mehrfach Kunst und Architektur des Ventennio als schlicht ästhetische Meisterwerke bezeichnet, die selbstverständlich nicht vom Sockel gehoben werden dürfen. Wie etwa das Gelände um das Olympia-Stadion in Rom, Duce-Obelisk inklusive. „Eine große architektonische Entwicklung“. Punto e basta. Dass jede Inschrift und jede figurative Darstellung unkommentiert Kampf, Krieg, Virilität und Feindschaft propagiert (molti nemici, molto onore, um nur eines zu nennen) und damit die Anlage viel mehr als ein ästhetisches Ensemble repräsentiert – geschenkt.

Ebenso eindimensional seine Einlassung zum künstlerischen Austausch zwischen Russland und Europa, sei es anlässlich der Sperrung des russischen Biennale-Pavillons, oder der Tatsache, dass russische Künstler:innen kaum mehr eingeladen werden, während es Privatpersonen in Russland noch immer gelingt, hohe Kunst in ihre Ausstellungen zu bekommen – hier wird nicht nach Hintergründen gefragt. Weder, welche Personen mit welchen (finanziellen) Mitteln und politischen Privilegien solche Ausstellungen realisieren können, noch welche russischen Künstler:innen mit Putins Staat im Hintergrund überhaupt die Möglichkeit hätten, sich in Europa frei künstlerisch zu betätigten. In dieser Gesprächsrunde wurde vollständig ausgelassen, dass sich jede:r Künstler:in oder auch – ein anderes angeführtes Beispiel – jede:r Wissenschaftler:in stets innerhalb ihres Regimes bewegen, also konform oder dagegen, und eben nicht „frei“ sind, wie Luca Beatrice behauptete. Frei wären sie nur, wenn Kunst und Kultur sich – im rechten Sinne? – ganz auf die «Schönheit» konzentrieren würde, und nicht zugleich an den unteren Fäden des Teppichs webte.


Verwurzelt in der Zukunft – wie bei Giorgio Bassani?


Wie kontextverloren die eher regierungskonforme Seite der Kulturschaffenden argumentiert, zeigt auch das Geleitwort des Gastland-Kommissars Mauro Mazza in der Druckauslage der Associazione Italiana Editori, die auf der Messe verteilt wurden. Mazza erläutert dort das Motto „Verwurzelt in der Zukunft“ (radici nel futuro) und verwendet gleich zu Beginn ein Zitat aus den „Gärten der Finzi-Contini“ von Giorgio Bassani: „Das war unser Laster: vorwärts zu gehen mit stets rückwärtsgewandtem Kopf“. Mazza macht aus diesem „Laster“ eine italienische Eigenschaft und Stärke, interpretiert als Orientierung an der Vergangenheit, während man – erfolgreich – in die Zukunft schreitet. Unpassender hätte das Zitat nicht gewählt werden können. Giorgio Bassani legt es in seinem Roman der jungen Micòl in den Mund, Tochter einer jüdischen Familie, die in den 1930er Jahren Tag für Tag erleben muss, wie ihr und ihren Freunden die Zukunft genommen wird: kein Schulbesuch, kein Studienabschluss, kein Sporttunier und keine
Arbeit. Sie blicken zurück auf die Vergangenheit, weil sie das einzige ist, was ihnen bleibt. Eine Zukunft haben die Protagonist:innen in Bassanis Roman nicht, für sie bleibt – wie auch im echten Leben für seine Familie und seine Bekannten – nur der Tod.